8. KAPITEL

Cash wurde erst wieder wach, als Rory ihn heftig schüttelte.

“Komm, Cash, sie ist aufgewacht! Sie ist ein bisschen daneben, weil sie ihr so viele Schmerztabletten geben, aber sie hat die Augen geöffnet. Mein Gott, sie sieht entsetzlich aus.”

Cash riss die Augen auf. Er musste ein paar Mal blinzeln, ehe er den strahlenden Jungen vor sich deutlich sehen konnte. “Sie ist wach?”, wiederholte er verständnislos.

Rory nickte. “Ich bin auch gerade erst wach geworden. Es ist schon fast elf. Na mach schon.”

Während Cash langsam auf die Füße kam, ächzte er: “Ich werde allmählich zu alt für diese Art von Arbeit.”

Schweigend musterte Rory den hochgewachsenen Mann. “Du hast sie da rausgeholt, stimmt’s?”

Cash nickte. “Ich habe Verstärkung mitgenommen. Einer meiner Freunde war bei mir, aber du weißt davon nichts”, sagte er mit Nachdruck.

Rory nickte. “Na klar.”

Cash wandte die Augen ab, weil er den dankbaren Blick des Jungen nicht ertragen konnte. Er fühlte sich noch immer verantwortlich für das, was Tippy zugestoßen war. Deshalb hatte er Angst, ihr ins Gesicht zu sehen.

Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als Rory zu folgen. Als er vor ihrem Zimmer stand, war er auf wirklich alles vorbereitet.

Tippy dämmerte vor sich hin. Ihr Gesicht brannte. Ihr Körper schmerzte. Sie spürte jede einzelne der Verletzungen, die fast ihren ganzen Körper zu bedecken schienen. Sie hatte eine Kanüle im Arm und Sauerstoffschläuche in der Nase. Die Rippen taten ihr weh. Und als sie Cash und Rory neben dem Bett stehen sah, war sie sich nicht sicher, ob sie es wirklich waren. Sie hatte geträumt, dass Cash sie küsste und ihr zuflüsterte, sie solle durchhalten. Sie müsste weiterleben. Es konnte nur ein Traum gewesen sein, denn Cash hasste sie ja.

Ihre Gedanken schweiften zurück zu dem letzten schrecklichen Bild, an das sie sich erinnern konnte. Sam Stanton stand über ihr. Er hatte eine Flasche in der Hand und beschuldigte sie mit lauter Stimme, ein falsches Spiel mit ihm gespielt zu haben. Sie würde keine Gelegenheit mehr haben, sich damit vor irgendjemandem zu brüsten. Noch immer spürte sie den Aufprall der Flasche auf ihrem Rücken, ihren Schultern und ihrem Brustkorb, der höllisch schmerzte. Schützend hatte sie die Hände vors Gesicht gehalten, als er rasend vor Wut zuschlug. Etwas hatte ihren Kopf getroffen. Sie war zu Boden gestürzt, als Sam die Flasche nach ihr geworfen hatte und die auf dem Zementboden zersplittert war. Ihr Gesicht fühlte sich geschwollen an; die Haut schmerzte und spannte, aber die Schnitte waren offenbar nicht besonders tief. Möglicherweise war sie in die Glassplitter gestürzt, die ihr Gesicht aufgeritzt hatten. Jetzt schien sie zwar noch am Leben zu sein, aber sie bekam kaum Luft in ihre Lungen.

Cash blieb neben dem Bett stehen und sah sie an. Ihr bemitleidenswertes Gesicht war übersät von Schnittwunden. Sie waren gesäubert und desinfiziert, aber nicht genäht worden. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass man dies nur bei gefährlichen Schnittwunden tat. Er dankte Gott, dass ihre Verletzungen nur oberflächlicher Natur waren. Es würde Monate dauern, bis sie komplett verheilt waren, aber sie hatten offenbar nur die Haut geritzt und würden keine Narben hinterlassen. Ihre Lunge war das eigentliche Problem. Falls es zu Blutungen kam, konnte sie daran sterben.

Auch an ihrem Arm – jenem, in dem keine Kanüle steckte – waren Schnittwunden. Die Verletzungen waren unübersehbar. An der Art, wie die Sanitäter bei ihrem Eintreffen ihren Kopf stabilisiert hatten – aufgerichtet anstatt flach gelegt –, erkannte er sofort, dass sie eine Gehirnerschütterung hatte. Aber gottlob atmete sie noch, und es war immer jemand in der Nähe, falls sie Hilfe benötigte.

Rory, der sich von dem Anblick nicht schrecken ließ, trat neben Cash und ergriff die Hand seiner Schwester. “Es wird wieder alles gut werden, Tippy. Ganz bestimmt.”

“Aber sicher”, sagte sie. Ihre Stimme klang matt, weil sie so viele Medikamente bekommen hatte. “Mein Kopf tut so weh”, stöhnte sie. “Ich habe mich schon zweimal übergeben müssen. Und meine ganze Seite schmerzt furchtbar …”

Sie hob die Augen und sah an ihm vorbei zu Cash. In ihrem Blick zeigte sich keine Reaktion. Er hatte den Eindruck, dass sie durch ihn hindurchsah.

“Brauchst du irgendetwas?”, fragte er leise.

Sie atmete schwer und schaute auf ihre Hände. “Könntest du Rory zu meinem Apartment fahren? Ich brauche meine Versicherungskarte. Falls es dir nichts ausmacht”, sagte sie grimmig. “Der Arzt, der meine Einlieferung veranlasst hat, war gerade hier. Er sagte, ich hätte schwere Rippenprellungen und eine leichte Gehirnerschütterung. Ich muss mindestens noch drei Tage im Krankenhaus bleiben. Sie wollen sichergehen, dass ich keine Lungenentzündung bekomme. Sie haben mir schon Antibiotika gegeben. Die Gehirnerschütterung ist nicht besonders heftig, und bei der Computertomografie haben sie keine größeren Verletzungen feststellen können – jedenfalls keine besorgniserregenden. Die Schnitte sind Gott sei Dank nicht besonders tief. Er glaubt, dass sie auch ohne plastische Chirurgie vollkommen heilen. Aber es wird eben ein paar Monate dauern. Danach wird man sehen, ob doch noch eine Operation nötig ist.”

Cashs Miene war unbeweglich. “Warum hat Stanton dir das angetan?”, wollte er wissen.

Sie veränderte ihre Lage ein wenig und verzog das Gesicht, weil ihr die Bewegung Schmerzen im Brustkorb verursachte. Das Atmen fiel ihr ebenso schwer wie das Reden. “Er war wütend, weil er niemanden erreichen konnte, der bereit war, Lösegeld für mich zu zahlen”, erklärte sie mühsam. “Er sagte, er würde dafür sorgen, dass ich nie wieder arbeiten könnte, aber er war wohl zu betrunken, um mir einen tödlichen Schlag zu versetzen. Kurz bevor ich hingefallen bin, hat er die Flasche auf den Boden geschleudert. Vermutlich wollte er mich mit dem Flaschenhals aufschlitzen.”

“Er hatte sie in der Hand und stand über dir”, erinnerte Cash sich. “Die Schnittverletzungen hast du dir vermutlich zugezogen, als du in die Glasscherben gefallen bist.”

Sie lachte freudlos. “Egal, wie ich sie bekommen habe, sie werden nicht über Nacht heilen. Ich werde ein paar Monate lang nicht arbeiten können. Joel Harper wird wohl jemand anders für seinen Film suchen müssen.”

Bei dem Gedanken verzweifelte sie fast, aber das sagte sie den beiden nicht.

“Jetzt ist es erst einmal nur wichtig, dass du das hier alles heil überstehst”, meinte Cash beruhigend. “Ich kümmere mich solange um alles andere – auch um Rory.”

“Danke”, sagte sie steif.

“Ich weiß, dass du nicht gerne von mir abhängig bist”, erwiderte Cash. “Mir ginge es an deiner Stelle genauso. Aber du hast im Moment wirklich genug damit zu tun, wieder auf die Beine zu kommen.”

“Jetzt weiß ich endlich, was es heißt, wenn sie nach den Szenen im Studio immer ‘Schnitt’ und ‘gestorben’ rufen”, murmelte sie sarkastisch.

“Brauchst du sonst noch etwas aus deiner Wohnung?”, fragte Cash.

“Außer meiner Versicherungskarte? Meine Nachthemden, einen Morgenrock, etwas Unterwäsche und meine Pantoffeln”, antwortete sie. “Rory weiß, welche. Ein bisschen Kleingeld für den Imbissautomaten und etwas zu lesen.”

Sie würdigte ihn noch immer keines Blickes. Er trat einen Schritt näher ans Bett heran und bemerkte, wie sie sich mit einem Mal verspannte.

“Rory, könntest du uns eine Minute allein lassen?”, fragte er den Jungen.

Ehe Rory etwas sagen konnte, sah Tippy Cash ins Gesicht. Ihre Augen blickten ausdruckslos. “Er braucht das Zimmer nicht zu verlassen”, meinte sie. “Wir beide haben uns nichts zu sagen, Cash. Überhaupt nichts.”

Er atmete hörbar aus.

“Ich wäre dir dankbar, wenn du mir einfach nur meine Sachen bringst”, sagte sie. “Rory, der Polizist, der bei mir war, hat gesagt, dass einer der Männer entkommen ist. Du kannst natürlich nicht bei mir im Krankenhaus bleiben. Und du kannst auch nicht allein in der Wohnung oder bei Don bleiben”, fügte sie hinzu, als er etwas erwidern wollte, “ohne seine Familie zu gefährden. Es tut mir leid, dass ich dir den Rest deiner Osterferien verderbe, aber du musst unbedingt zurück in die Schule. Dort bist du sicher; der Kommandant passt auf dich auf. Cash, würdest du dich mit ihm in Verbindung setzen und ihm erzählen, was passiert ist?”

“Natürlich”, sagte er und wandte sich zu Rory. “Sie hat recht. In Maryland kann dir nichts passieren. Im Gegensatz zu hier.”

Rory verzog das Gesicht. “Ich will aber nicht gehen”, quengelte er.

Sie nahm seine Hand und hielt sie fest umklammert. “Ich weiß. Aber wir beide haben nur uns”, sagte sie mit einem gequälten Lächeln. “Und bald wird es mir wieder gut gehen. Ich verspreche dir, dass ich nicht aufgebe. Okay?”

Er musste schlucken. “Okay.”

“Es ist ja nicht mehr lang bis zum Sommer”, tröstete sie ihn. “In den Ferien machen wir etwas ganz Tolles.”

“Wir könnten auf die Bahamas fliegen”, schlug er vor.

Sie nickte. “Mal sehen. Geh jetzt mit Cash und hole meine Sachen. Deine kannst du dann auch packen. Cash, kannst du bitte am Flughafen anrufen und Rory ein Ticket besorgen? Mein Kreditkartenkonto ist überzogen, aber ich gebe dir einen Scheck, wenn du das Geld vorstreckst.”

“Ich kümmere mich darum”, sagte Cash. “Du brauchst mir das Geld nicht zurückzugeben.”

Vergeblich versuchte sie, etwas zu erwidern. Sie war vollkommen hilflos. Als sie sich bewegte, verzog sie das Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse.

“Was ist denn?”, fragte Cash aufmerksam.

“Diese verdammten Rippen”, keuchte sie heiser. “Sie tun immer noch weh, wenn ich mich bewege.”

Cashs Augen funkelten wütend. Im Nachhinein tat es ihm leid, dass er dem Mann nur ins Bein geschossen hatte, anstatt auf sein Herz zu zielen.

“Geht jetzt”, sagte Tippy und schloss die Augen. “Ich versuche, ein wenig zu schlafen. Und vielen Dank, Cash”, fügte sie erschöpft hinzu.

In Tippys Apartment herrschte das pure Chaos. Die FBI-Agenten hatten offensichtlich alles auf den Kopf gestellt, um nach Spuren eines Eindringlings zu suchen. Cash und Rory brauchten eine Weile, um Ordnung zu schaffen und Tippys Sachen zusammenzusuchen. Und weil sie schon einmal dabei waren, packten sie auch gleich Rorys Tasche.

“Ich weiß, dass du nicht gehen willst”, sagte Cash. “Aber ich kann mich leider nicht gleichzeitig um dich und Tippy kümmern.”

Rory blieb stumm. “Sie will doch gar nicht, dass du dich um sie kümmerst”, sagte er schließlich, während er ein Hemd in seinen Koffer legte.

“Es wird ihr gar nichts anderes übrig bleiben. Sie hat doch sonst niemanden”, meinte er nüchtern. “Ich werde ihr in den nächsten Tagen Gesellschaft leisten. Und dann nehme ich sie mit nach Texas.”

Rory warf ihm einen traurigen Blick zu. “Sie wird nicht mit dir kommen.”

Er seufzte. “Oh doch. Ich weiß, dass sie mich hasst. Ich mache ihr deswegen auch keinen Vorwurf. Aber wo soll sie sonst hingehen? Sie kann doch nicht alleine bleiben.”

“Du bist Polizeichef”, entgegnete Rory. “Wenn sie bei dir wohnt …”

“Daran habe ich auch schon gedacht”, unterbrach Cash ihn. “Ich werde eine Krankenschwester engagieren, die Tag und Nacht bei ihr bleibt, damit die Leute nicht anfangen zu tratschen.”

Langsam packte Rory ein weiteres Hemd ein.

“Hör zu, sobald das Schuljahr zu Ende ist, kannst du auch kommen”, schlug er vor. “Dann wohnst du auch bei mir.”

Rory schaute zu ihm hoch. “Wirklich?”, fragte er mit belegter Stimme.

Cash lächelte. “Du wirst natürlich deinen Teil der Hausarbeit erledigen müssen”, meinte er. “Tippy wird nicht in der Lage sein, anstrengende Dinge zu tun, wenigstens nicht in den nächsten sechs Wochen. Was so viel bedeutet, dass alles an mir hängen bleibt – bis du kommst. Ich hasse Staubsauger. Ich habe diesen Monat schon meinen dritten gekauft.”

Rorys Augen wurden groß. “Warum denn?”

Cash wirkte verlegen. “Diese Schläuche verheddern sich andauernd. Das Stromkabel wickelt sich um den Schlauch. So ein Staubsauger kommt mir immer vor wie ein Elefant. Du musst ihn am Rüssel ziehen, damit du ihn dahin kriegst, wo du ihn hinhaben willst.”

Zum ersten Mal, seitdem das schreckliche Entführungsdrama begonnen hatte, lachte Rory.

“Du hast gut lachen”, meinte Cash. “Warte nur ab, bis sich meterlange Schläuche und Stromkabel um deine Beine gewickelt haben und du bei jedem Schritt auf die Nase fällst. Deshalb hat der letzte Staubsauger auch so plötzlich seinen Geist aufgegeben.” Seine Augen wurden schmal. “Ich hätte das verdammte Ding erschießen sollen, anstatt nur darauf herumzutrampeln.”

“Ich habe keine Probleme mit Staubsaugern”, sagte Rory. “Es macht mir nichts aus, Staub zu saugen.”

“Prima. Dann wird das dein Beitrag zur Hausarbeit sein.”

“Ich kann auch kochen”, fügte Rory zu Cashs Überraschung hinzu. “Mein Barbecue ist echt toll. Ich mache auch meine eigenen Soßen.”

Cash lächelte den Jungen an. “Das will ich mal sehen.”

Rory erwiderte sein Lächeln. “Vielen vielen Dank, Cash. Für alles.”

Cash setzte sich auf das Bett und verschränkte die Hände zwischen den Knien. “Du bist kein Kind mehr, Rory”, sagte er ernst. “Du bist sogar sehr reif für dein Alter, deshalb kann ich dir das sagen. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht, was Tippy betrifft. Ich war nicht bereit für eine längere Beziehung, aber ich habe der Versuchung nachgegeben, ohne mir über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Ich glaube, du weißt schon, dass es mein Kind war, das sie verloren hat.”

Rory nickte. “Sie hatte es sich so sehr gewünscht.”

Cash musste schlucken. Er konnte dem Jungen nicht in die Augen sehen. “Ich hätte es auch gern gehabt. Wenn ich davon gewusst hätte.”

“Sie hat gesagt, dass es für euch keine gemeinsame Zukunft geben würde”, erzählte Rory. “Sie wollte das Baby trotzdem behalten, hat sie gesagt. Sie hatte sogar schon Babysachen und Spielzeug gekauft. Und dann hatte sie diesen Unfall.” Er seufzte gequält. “Dann hat sie auf einmal gar nichts mehr gesagt und mit dem Trinken angefangen. Es hat alles in den Zeitungen gestanden. Und das hat alles nur noch schlimmer gemacht.” Er schaute auf. “Man muss auf sie achtgeben, was Alkohol angeht. Unser Hausarzt hat gesagt, dass wir beide gefährdet sind – wegen unserer Mutter. Dabei hat Tippy überhaupt keinen Grund zu trinken.”

“Danke, dass du so offen mit mir sprichst. Ich weiß, wie gefährlich Alkohol ist. Ich werde dafür sorgen, dass sie wieder davon loskommt”, versprach Cash.

Rory atmete erleichtert auf. “Vielen Dank. Ich habe mir nämlich wirklich Sorgen gemacht.”

“Sie wird es schaffen. Ich verspreche es dir.”

Rory nickte. “Okay. Rufst du mich hin und wieder an und sagst mir, wie es ihr geht?”

“Ich rufe dich jeden Tag an. Und sie ruft dich auch an.”

“So eine Entziehungskur ist hart, nicht wahr?”, wollte der Junge wissen.

“Ja”, gab Cash zu. “Aber Tippy ist zäh. Sie wird es schaffen und wieder ganz die Alte sein.”

“Jemand muss Joel Harper anrufen”, sagte Rory.

“Ich werde ihn ausfindig machen”, versicherte Cash ihm. “Es wird alles wieder gut.”

Rory wandte den Kopf ab, als ihm die Tränen in die Augen traten. “Das waren ein paar verdammt harte Tage”, sagte er heiser.

Cash erhob sich und legte die Hände auf seine Schultern. “Das Leben ist ein Hindernisrennen”, meinte er. “Aber jedes Mal, wenn du eine Hürde überwunden hast, kriegst du eine Belohnung.”

Überrascht drehte Rory sich um. “Genau das sagt Tippy auch immer.”

Cash lächelte. “Da haben wir also beide recht. Du wirst schon sehen.” Einen Moment lang überlegte er, ob er den Jungen in den Arm nehmen sollte, um ihn zu trösten. Aber er war nicht daran gewöhnt, andere Menschen zu berühren. Und er hatte den Eindruck, dass Rory es ebenso wenig war. Unvermittelt räusperte er sich und wandte sich wieder dem Koffer zu. “Packen wir weiter.”

Rory war dankbar, dass Cash nicht versucht hatte, ihn zu trösten. Es gelang ihm, seine Tränen zurückzuhalten. Mit etwas Mühe schaffte er es sogar zu grinsen. “Dann wollen wir mal.”

Abends war Tippy immer noch erschöpft, aber wenigstens ihr Gehirn funktionierte wieder einigermaßen. Die Tabletten machten die Schmerzen erträglicher, und sie hatten ihr ein Mittel gegen die Übelkeit gegeben. Zwar fiel es ihr immer noch schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, doch es gelang ihr immerhin schon besser als am Morgen.

Cashs Anwesenheit in ihrem Zimmer war eine Qual für sie gewesen. Nur zu deutlich klangen ihr noch seine abweisenden Worte in den Ohren und seine Weigerung, ihr zuzuhören. Sie erinnerte sich auch an die Panik, die sie empfunden hatte, als Rory verschwunden war. Und noch immer hörte sie Sams Stimme am Telefon, als er seine Lösegeldforderungen stellte und Tippy ihm anbot, sie für den Jungen zu nehmen. Als die Kidnapper Rory endlich freigelassen und gemerkt hatten, dass sie keinen Pfennig bekommen würden, hatte Sam ihr gedroht, dass sie auf der Stelle dafür bezahlen müsste. Irgendwie kam es ihr so vor, als wäre dies alles erst vor wenigen Stunden geschehen.

Die Tür wurde geöffnet, und sie schaute auf. Die schrecklichen Erinnerungen verblassten sofort. Gerade noch hatte Cash ihr die Versicherungskarte und ihre Kleider gebracht, und sie hatte sich von einem in Tränen aufgelösten Rory verabschiedet. Cash hatte ihn zum Flughafen gefahren und ihn in die Maschine nach Maryland gesetzt. Während er fort gewesen war, hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.

“Ich war eben schon mal hier, aber du hast geschlafen, und ich wollte dich nicht wecken”, sagte er leise. “Deshalb bin ich in die Cafeteria gegangen.”

“Ich habe lange geschlafen”, erwiderte sie langsam. “Ich fühle mich etwas besser.”

“Das ist gut. Ich habe gerade mit dem Kommandanten gesprochen”, erzählte er, während er ans Bett trat. “Er hat Rory am Flughafen abgeholt und zur Schule gebracht. Außer dir und mir darf ihn keiner abholen. Es kann ihm also absolut nichts passieren.”

Sie atmete erleichtert auf. “Gott sei Dank haben sie ihm nichts getan. Ich hatte solche Angst, dass Sam ihn verletzen könnte.”

“Deshalb hast du den Tausch vorgeschlagen.” Er atmete hörbar. “Er hätte dich umbringen können.”

“Das hätte mir nichts ausgemacht, solange Rory nichts passiert wäre.”

Cash steckte die Hände in die Taschen und betrachtete sie. Mit zusammengepressten Lippen dachte er an sein schäbiges Verhalten. Sie mied seinen Blick. “Du weißt, dass du nicht allein bleiben kannst, nicht wahr? Nicht, solange dieser dritte Verrückte noch frei herumläuft. Stanton hat ihm bestimmt gesagt, wo du wohnst.”

Sie schluckte schwer. “Ich kann mir irgendwo ein Hotelzimmer nehmen …”

“Du kommst mit zu mir nach Jacobsville.”

“Nein!”, sagte sie mit Bestimmtheit. “Nicht nach all dem, was in den Klatschblättern gestanden hat.”

“Ich engagiere eine Krankenschwester, bis du wieder auf den Beinen bist”, fuhr er fort, ohne ihren Einwand zu beachten. “Keiner wird sich das Maul zerreißen.”

“Das … würdest du tun?”, fragte sie überrascht.

Er nickte. “Rory hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass du unmöglich allein mit mir sein kannst”, meinte er mit einem ironischen Unterton. “Schließlich bin ich der Chef der Polizei. Wir müssen auf meinen guten Ruf achten.”

“Um meinen brauchen wir uns offenbar keine Sorgen zu machen”, sagte sie müde. “Ich habe ja keinen mehr.”

“Hör auf damit”, entgegnete er barsch. “Kein Mensch glaubt doch, was in den Klatschblättern steht.”

“Keiner außer dir”, ergänzte sie und musterte ihn mit einem durchdringenden Blick.

Die Worte trafen ihn mitten ins Herz, und er wusste nichts darauf zu erwidern. Verlegen klimperte er mit den Münzen in seiner Hosentasche. “Ich habe den Krankenschwestern erzählt, dass wir verlobt sind.”

“Warum?”, fragte sie langsam. Sie hoffte, dass er nicht bemerkte, wie nervös sie seine Worte machten.

“Sonst hätten sie mich nicht zu dir auf die Intensivstation gelassen. Nach deiner Einlieferung musstest du zwanzig Tests über dich ergehen lassen, und sie haben dir überall Pflaster hingeklebt”, erklärte er. “Ich wollte nicht draußen bleiben. Den Leuten in Jacobsville können wir also auch erzählen, dass wir verlobt sind.” Aufmerksam betrachtete er ihr gerötetes Gesicht. “Dann würde der Tratsch sofort aufhören.”

“Wegen mir brauchst du keine Opfer zu bringen”, sagte sie, und zum ersten Mal klang ein wenig von ihrem alten Elan durch. “Ich werde sowieso nur so lange bleiben, bis die Schnitte mit Make-up verdeckt werden können, meine Rippen wieder in Ordnung und die Narben verschwunden sind. Wenn Joel Harper zurückkommt, muss ich einen Film zu Ende bringen.”

Er trat näher. “Ich habe mich ziemlich dämlich benommen”, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. “Und das gleich zweimal. Zum einen habe ich der Versuchung nicht widerstehen können, und zum zweiten habe ich geglaubt, was in den Klatschblättern stand. Es ist meine Schuld, dass du hier bist. Du hast mich angerufen und gebeten, Rory zurückzuholen, stimmt’s?”

Sie nickte, ohne ihn anzusehen.

Wieder klimperte er mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr entschuldigt.

“Du hast mir vorher erzählt, wie es um dich steht”, sagte sie langsam. “Aber ich habe nicht auf dich gehört. Stattdessen habe ich dich zu etwas überredet, was du eigentlich gar nicht gewollt hast, Cash. Ich weiß selber nicht, warum ich es getan habe, doch wenn man jemandem einen Vorwurf machen muss, dann bin ich das.”

Er blickte grimmig. “Rory hat gesagt, dass du das Baby haben wolltest.”

Sie wandte den Kopf ab. Er sollte nicht sehen, dass ihre Augen feucht wurden. “Das spielt doch jetzt alles keine Rolle mehr.”

Und ob es das tat. Er konnte ihren Schmerz geradezu körperlich spüren. “Wichtig ist vor allem, dass du wieder auf die Beine kommst”, meinte er. “Und dass dir nichts zustößt, bevor wir bei Stantons Verhandlung aussagen müssen.”

“Ich habe mit einem Anruf von meiner Mutter gerechnet”, sagte sie kalt. “Ich nehme an, dass Sam noch nicht mit ihr gesprochen hat. Sie wird mir Vorwürfe machen, weil er im Gefängnis sitzt.”

“Zweifellos”, stimmte er zu. “Das FBI schließt nicht aus, dass sie gemeinsame Sache mit ihm gemacht hat. Wenn sie genügend Beweise finden, werden sie sie wegen Beihilfe festnehmen und ebenfalls vor Gericht stellen. Für Entführungen sind die Bundesbehörden zuständig.”

“Das habe ich ja ganz vergessen”, sagte sie plötzlich. “Einer der Männer läuft ja noch frei herum.”

“Richtig. Und genau aus diesem Grund musst du mit mir nach Texas kommen. Judd oder ich werden dich nicht aus den Augen lassen, damit dir nichts passiert.”

War das sein Ernst? “Wird Christabel nichts dagegen haben … nach allem, was zwischen mir und Judd war?”, fragte sie besorgt.

“Seit ihrer Hochzeit sind die beiden wie die Turteltauben. Und das ist noch intensiver geworden, seitdem sie die Zwillinge haben”, antwortete er. “Es wird ihnen nichts ausmachen. Keiner ist mehr auf dich eifersüchtig.”

Sie stieß einen Seufzer aus und zuckte zusammen, weil ihre schmerzenden Rippen durch das tiefe Atemholen in Mitleidenschaft gezogen wurden. “Wie gefällt es dir eigentlich, in so einer kleinen Stadt zu leben?”, wollte sie wissen. “Als ich da war, bist du mir echt vorgekommen wie ein Fisch auf dem Trockenen.”

Er zögerte. “Ich weiß nicht so recht. Zuerst habe ich es mehr aus Jux getan. Mein Cousin Chet brauchte Unterstützung und hat mich überredet, zu ihm zu kommen. Ich habe geglaubt, dass ich es hassen würde. Aber die Computerkriminalität ödete mich an und mein Leben auch.” Er seufzte. “In Jacobsville bin ich immer ein Außenseiter geblieben. Aber die Arbeit ist … interessant. Sehr abwechslungsreich. Nie langweilig. Und ich habe das Gefühl, wirklich etwas Nützliches zu tun. Ich bin zuständig für Drogendelikte. Bei solchen Sachen wollte Chet sich offenbar nie zu weit aus dem Fenster lehnen, denn wenn es um die Hintermänner beim Drogenhandel ging, hat er immer weggeschaut. Ich dagegen habe mich mit dem Rauschgiftdezernat kurzgeschlossen und angefangen, die Kneipen zu überwachen.”

“Da hast du dir bestimmt ein paar Feinde gemacht.”

“Ich hatte ohnehin schon eine ganze Menge. Unser Bürgermeister und mindestens zwei Mitglieder vom Stadtrat würden sofort das Holz besorgen, wenn jemand sich bereit erklären würde, mich öffentlich zu verbrennen.” Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. “Aber wenn ich es schaffe, dass es eine Sekretärin für längere Zeit bei mir aushält, dann hätte ich vielleicht noch ein Jahr Galgenfrist.”

“Du musst dich nach einer Frau umsehen, die keine Angst vor Schlangen hat und nicht mit Gegenständen um sich wirft”, meinte sie. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.

“Das wäre mal was Neues.”

Sie fuhr sich mit den Fingern über die Lippen. “Ich bin ganz ausgetrocknet.”

Er stand auf, goss Wasser in ein Glas und stützte ihren Kopf, damit sie trinken konnte.

“Bis heute habe ich nicht gewusst, wie gut Wasser tut”, sagte sie mit einem heiseren, unsicheren Lachen.

Vorsichtig legte er ihren Kopf zurück aufs Kissen und stellte das Glas auf ihren Nachttisch. “Du hast wirklich Mumm. Dass du mit Rory getauscht hast – alle Achtung!”

“Das hättest du auch getan”, erwiderte sie und schloss die Augen.

“Schon, aber dann hätte ich ein Kampfmesser im Stiefel und eine Pistole im Wadenholster gehabt”, meinte er.

“Meine Waden sind zu dünn für ein Holster.”

“Das habe ich bemerkt.”

Für Sekunden fiel sie in einen Dämmerschlaf. “Ich brauchte ein Schmerzmittel”, sagte sie. “Ich will nicht einschlafen, aber ich fürchte, ich kann nichts dagegen machen.”

Er rückte seinen Stuhl näher und verschränkte seine Finger mit ihren. “Ich bleibe bei dir”, sagte er mit seiner beruhigend tiefen Stimme. “Schlaf nur.”

“Danke”. Sie seufzte und schlief ein.

Der Duft von Hühnchen und gebratenen Kartoffeln weckte sie auf. Cash nahm eine silbern glänzende Haube von einem Tablett, das er auf den Rolltisch gestellt hatte.

“Für Krankenhausessen sieht das hier gar nicht so schlecht aus”, meinte er, während er ihr einen raschen Blick zuwarf. “Und dazu gibt’s Eis zum Nachtisch.”

Sie tastete nach dem Knopf, mit dem sie das Kopfende ihres Bettes hochstellen konnte. Er nahm ihr die Aufgabe ab und schob den Tisch über ihre Beine.

“Du solltest auch etwas essen gehen”, meinte sie.

“Das habe ich getan, während du geschlafen hast. Du musst übrigens ein paar Tage hierbleiben”, sagte er. “Der Doktor meinte, sie müssten erst einmal sehen, wie es mit dir weitergeht. Dann nehme ich dich mit nach Texas. Bevor du entlassen wirst, ziehen sie dir noch die Fäden, aber du musst regelmäßig zur Kontrolle. Der Arzt überweist dich an einen Freund in San Antonio, und die beiden wollen in Verbindung bleiben, um sich über deine Genesung auf dem Laufenden zu halten.”

Sie sah ihn mit offenem Mund an. “Wie hast du das denn hingekriegt?”

“Ich habe ihn einfach gefragt.”

Sie schüttelte den Kopf. “Du bist wirklich phänomenal.”

“Der Gedanke, mit dir in zwei Wochen wieder hierhin fliegen zu müssen, erschien mir nicht sehr verlockend. Außerdem ist es momentan zu riskant.”

“Okay.”

“Keine Diskussionen?”, fragte er verblüfft.

“Ich bin zu müde.”

“Iss dein Abendessen.”

Er reichte ihr eine Gabel. Sie holte tief Luft und begann zu essen, obwohl sie keinen Hunger hatte. Aber das Essen war wirklich gut.

“Ich habe übrigens Joel Harper angerufen”, sagte er. Dass er mehrere Ferngespräche hatte führen und auch einige Drohungen aussprechen müssen, ehe er den Mann am Telefon hatte, verschwieg er allerdings. “Er hat Probleme mit dem Film, an dem er gerade arbeitet, und deshalb wird es mindestens noch drei Monate dauern, ehe er zurückkommt. Er sagte, du sollst dir keine Gedanken über deine Versicherung machen. Wenn sie nicht genug zahlen, wird er die Summe aufstocken – sozusagen als Vorschuss zu deiner Gage.”

Vor Erleichterung wäre sie fast in Tränen ausgebrochen. “Gott sei Dank”, flüsterte sie. “Ich habe mir solche Sorgen gemacht …”

“Lass dein Hühnchen nicht kalt werden”, empfahl er ihr. “Ich habe es in der Cafeteria gegessen. Es ist wirklich gut.”

Sie nahm noch einen Bissen. “Das ist ein italienisches Rezept. Wenn ich Zeit habe, kann ich das auch machen.”

“Rory versteht sich ausgezeichnet auf Barbecue.”

Sie hob das Gesicht und schaute ihn an. “Das stimmt. Woher weißt du das?”

“Er hat es mir erzählt.” Er zupfte an seinem Ärmel. “Er ist ein prachtvoller Junge.”

“Ja, das stimmt.”

“Ich habe ihm gesagt, er könnte auch bei mir wohnen, wenn die Schule zu Ende ist.”

Sie zögerte. “Ich weiß nicht. Bis dahin werde ich wahrscheinlich schon wieder arbeiten.”

“Wahrscheinlich nicht”, gab er zurück. “Es ist doch erst Anfang April. Joel wird frühestens im Juli oder August zurück sein.”

Sie seufzte und aß den letzten Bissen Huhn. “Ich dachte, du hast etwas gegen Bindungen.”

Er schlug seine langen Beine übereinander. “Du könntest aus nächster Nähe beobachten, wie Politik gemacht wird”, sagte er ausweichend. “Calhoun Ballenger tritt gegen einen unserer ältesten Senatoren für die Demokraten an. Die Vorwahl ist am ersten Dienstag im Mai. Alles deutet auf einen ziemlich spannenden Wahlkampf hin.”

“Ich habe nicht viel Ahnung von Politik.”

“Es wird dir bestimmt Spaß machen, einiges darüber zu lernen”, lächelte er.

“Meinst du?” Sie öffnete den Eiskrembecher.

“Du hast deine Erbsen nicht gegessen”, sagte er vorwurfsvoll.

“Ich mag Erbsen nicht.”

“Gemüse ist gut für dich.”

“Nur Gemüse, das ich mag, ist gut für mich”, verbesserte sie ihn. Sie nahm einen Löffel Eiskrem. Das Kauen hatte ihr wegen ihrer zahlreichen Gesichtsverletzungen Mühe bereitet. Aber das Eis schmolz auf ihrer Zunge.

“In Jacobsville gibt es eine Eisdiele, in der du sämtliche Geschmacksrichtungen kriegen kannst, die es gibt”, sagte er. “Ich zum Beispiel bin ganz wild auf Erdbeereis.”

“Das mag ich auch am liebsten.” Sie legte den Becher und den Holzlöffel zurück aufs Tablett. Bei dieser Bewegung verzog sie schmerzhaft das Gesicht.

“Tut’s immer noch so weh?”, fragte er teilnahmsvoll.

Sie nickte und ließ sich zurück aufs Kissen fallen. “Hätte ich doch nur eine Pistole und wäre fünf Minuten allein mit Sam”, seufzte sie heiser. “Zu meiner Ehrenrettung kann ich allerdings sagen, dass ich ihm einen Schwinger verpasst habe, als er merkte, dass er kein Geld für mich bekommen würde. Seinen ersten Schlag habe ich sogar abwehren können. Dann hat er nach dieser Flasche gegriffen, und ich habe den Halt verloren. Ich wünschte, er wüsste, wie es sich anfühlt, gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung zu haben.”

“Immerhin hat er eine hübsche Schusswunde”, erzählte er ihr.

Sie runzelte die Stirn. “Er wurde angeschossen?”

“Ja. Dummerweise bin ich ausgerutscht; sonst hätte er mehr als eine Kugel abgekriegt.”

Mit offenem Mund und großen Augen starrte sie ihn an. “Du hast mich da rausgeholt … das hat der FBI-Agent also gemeint, als er sagte, dass es eine Störung gegeben hätte. Du hast mich also gefunden!”

“Ja”, gab er zu. “Ich hatte nicht viel Vertrauen zu den Beamten, die sie auf deinen Fall angesetzt hatten. Sie saßen mit Rory in deinem Apartment und warteten auf einen Anruf, von dem keiner wusste, ob er überhaupt kommen würde. Ein ehemaliger Kollege hat mir dabei geholfen, Stanton und seine Kumpel aufzuspüren.”

“Ich habe mich schon gewundert”, erwiderte sie leise. “Keiner wollte mir nämlich sagen, was passiert war.”

“Sie wussten es nicht”, sagte er leichthin. “Da es keine Indizien gibt, die mich mit der Schießerei in Verbindung bringen, haben die FBI-Leute und ich eine Vereinbarung getroffen. Ich habe einen einflussreichen Bekannten gebeten, meine Anwesenheit am Tatort irgendwie zu erklären. Der Mann schuldete mir nämlich noch einen Gefallen. Er hat sich mit den Polizisten und den anderen Regierungsbeamten in Verbindung gesetzt. Auf jeden Fall möchte ich den Ärger vermeiden, der mir sicher wäre, wenn ich zugeben würde, dass ich der Schütze war. Das könnte einen Skandal verursachen und meinen Ruf als Polizeichef in Jacobsville ziemlich ramponieren.”

“Oh.”

“Also tun wir alle so, als habe Sam sich selbst ins Bein geschossen und dass er zu betrunken war, um sagen zu können, aus welcher Richtung der Schuss kam”, erklärte er, während er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte. “Sam kann von Glück sagen, dass er noch unter den Lebenden ist, nach allem, was er dir angetan hat.”

“Er war wirklich furchtbar wütend”, erinnerte sie sich schaudernd.

“Hat er versucht, dich zu vergewaltigen?”

“Er war zu sehr damit beschäftigt, mich zu schlagen, als dass er an Sex gedacht hätte”, erwiderte sie mit einem tiefen Seufzer. “Fairerweise muss man sagen, dass einer seiner Kumpel versucht hat, ihn davon abzuhalten, aber Sam war außer sich. Er hatte irgendetwas genommen, ich weiß nicht was. Seine Augen waren glasig, und er war ziemlich high.”

“Wer von den Männern hat versucht, ihn zurückzuhalten?”, wollte er wissen.

“Er hatte blondes Haar”, murmelte sie. “An mehr kann ich mich nicht erinnern.”

“Der eine, der mit ihm zusammen festgenommen wurde, war blond. Und einer ist entwischt. Ich glaube, das war der Dunkelhaarige.”

“Vielleicht.” Sie blinzelte. “Meine Mutter hat eine Menge auf dem Kerbholz”, sagte sie. “Wenn ich rachsüchtig wäre, könnte ich den Klatschblättern eine Geschichte erzählen, die die Leser niemals vergessen würden.”

“Und hinterher würdest du’s bereuen”, meinte er. “Lass dich bloß nicht zu so etwas hinreißen.”

Sie sah ihn traurig an. “Sie können kaum noch etwas Schlimmeres über mich schreiben.”

Seine Gesichtszüge verhärteten sich. “Und ich war so blöd, ihnen zu glauben”, sagte er. “Ich bin am meisten schuld daran.”

Sie schüttelte den Kopf. “Manche Dinge passieren einfach”, meinte sie betrübt. “Meine Mutter steckt hinter allem. Da bin ich mir sicher. Sie hatte mir schon vorher am Telefon gedroht. Ich habe nicht geglaubt, dass sie das Leben ihres eigenen Sohnes für Geld aufs Spiel setzen würde. Ganz schön naiv von mir.”

“War sie schon immer Alkoholikerin?”

Sie nickte. “Solange ich denken kann. Als ich acht war, habe ich Bürgen gesucht, damit sie aus dem Gefängnis kam. Sie ist wegen Prostitution, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Trunkenheit am Steuer, Diebstahl und was noch alles festgenommen worden. Sie hat sich einem Mann nach dem anderen an den Hals geworfen, um Geld zu bekommen, damit sie uns etwas zu essen kaufen konnte. Irgendwann wurde die Trunkenheit ein Dauerzustand, sodass sie nicht einmal mehr das tun konnte. Meine Schuluniform habe ich nur auf Bezugsschein bekommen.” Sie seufzte bekümmert. “Das war, bevor Sam zu uns zog.”

“Der ist der Prototyp eines Versagers”, meinte er kalt.

“Das brauchst du mir nicht zu sagen. Meine Mutter denkt allerdings anders darüber.”

“Über Geschmack lässt sich nicht streiten.”

Sie lachte erschöpft. “Das sage ich auch immer.” Sie schloss die Augen. “Ich bin so müde.”

“Du hast eine Menge durchgemacht. Zu viel.”

“Passt du auf, dass Rory nichts geschieht?”, fragte sie plötzlich.

“So gut solltest du mich doch kennen.”

Natürlich. Vielleicht wollte er nicht unbedingt Tippy haben, aber in Rory war er wirklich ganz vernarrt. Er würde bestimmt dafür sorgen, dass die Entführer ihn nicht noch einmal erwischten.

“Du glaubst doch nicht, dass er auf Kaution freikommt?”, fragte sie besorgt.

“Nicht, wenn ich es verhindern kann”, versicherte er ihr.

Er verschwieg ihr jedoch, dass ein Richter manchmal davon überzeugt werden konnte, einem Verdächtigen zu glauben und ihn gegen eine angemessene Summe freizulassen. Stanton würde bestimmt alles daransetzen, nicht hinter Gitter zu müssen. Und wenn er damit Erfolg hatte, würde er sich sofort die Frau vorknöpfen, die ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Schließlich hatte er nichts mehr zu verlieren.

Aber Cash würde ihm einen Strich durch die Rechnung machen und auf Tippy und Rory aufpassen. Das nahm er sich fest vor. Nie wieder würde er es zulassen, dass einem von beiden etwas zustieße.