3. KAPITEL

Später erschien Tippy dieser Tag, an dem sie sich die Stadt ansahen, als einer der schönsten, die sie je erlebt hatte. Cash kannte New York offenbar wie seine Westentasche, und es machte ihm Spaß, ihr und Rory Geschichten über die Stadt zu erzählen, von denen sie noch nie etwas gehört hatten.

“Woher weißt du eigentlich so viel über New York?”, wollte Rory wissen, als sie am Abend in Tippys Apartment saßen.

“Mein bester Freund bei der Grundausbildung war New Yorker”, erklärte er. “Er konnte mir praktisch alles über die Stadt erzählen.”

Tippy lachte. “So eine Freundin habe ich auch. Sie weiß alles über Nassau”, sagte sie. “Im Moment ist sie als Model bei einem Fotoshooting – ausgerechnet in Moskau.”

“Model für was?”

Tippy warf ihm einen verschmitzten Blick zu. “Na für Badeanzüge.”

“Du machst Witze.”

“Ganz und gar nicht. Ihre Auftraggeber dachten, es sei sexy, wenn sie in Fellstiefeln und einem Pelzmantel vor dem Kreml posiert.”

“Hier würde sie damit bestimmt ziemliche Probleme kriegen”, meinte er.

“Es ist kein echter Pelz”, erwiderte sie lachend. “Aber es ist eine sehr teure Imitation, und sie sieht aus wie echt.”

“Möchtest du ein Sandwich haben, Cash?”, rief Rory aus der Küche.

“Nein danke. Ich gehe jetzt ins Hotel und entspanne mich ein bisschen”, setzte er lächelnd hinzu. “Mir hat der Tag richtig gut gefallen.”

“Mir auch, Cash”, erwiderte Rory aufrichtig. “Kommst du morgen wieder?”

“Ja?”, wollte auch Tippy wissen.

Er schaute in Rorys fragendes und Tippys strahlendes Gesicht. “Natürlich”, antwortete er lächelnd. “Ich bin fit für eine Museumstour. Ihr auch?”

“Ich liebe Museen”, jubelte Rory.

“So lange ich nicht in einem Modell stehen muss”, seufzte Tippy. “Ich erinnere mich nur zu gut an ein Shooting, bei dem ich vor einer Rodin-Skulptur vier Stunden lang ein Bein hochhalten und mich zurücklehnen musste. Davon habe ich heute noch Muskelkater.”

“Ist es etwa jene, an die ich auch gerade denken muss?”, meinte Cash gedehnt und grinste, als sich ihre Wangen vor Verlegenheit röteten.

“Ich bin mir sicher, dass es eine von denen war, wo die Figuren vollkommen angezogen sind”, log sie.

Er schüttelte den Kopf. “Das glaubst auch nur du”, meinte er. “Wann steht ihr denn in den Ferien immer so auf?”

“Um acht”, sagte Rory.

Tippy nickte. “Wir gehen nicht besonders spät ins Bett. Rory ist an militärischen Drill im Morgengrauen gewöhnt, und ich muss in aller Herrgottsfrühe aufstehen, um einen Film zu drehen”, erwiderte sie seufzend.

“Also dann um acht Uhr. Ich kenne eine Bäckerei, wo es Zimtbrötchen, Hefeteilchen und gefüllte Donuts gibt …”

“Ich darf keine Süßigkeiten essen”, erwiderte Rory traurig und zeigte auf Tippy. “Sie kann sich nämlich nie beherrschen. Wenn etwas Süßes auf dem Tisch liegt, verschlingt sie es sofort.”

Tippy lachte vergnügt. “Er hat recht. Den größten Teil meines Lebens habe ich damit verbracht, gegen meine Pfunde zu kämpfen. Wir essen Eier und Speck zum Frühstück. Nur Proteine. Kein Brot.”

“Das erinnert mich an meine Grundausbildung”, seufzte er. “Na gut. Können wir hier frühstücken? Aber bitte mach Kaffee”, sagte er streng. “Kein Frühstück ohne Kaffee. Selbst wenn ich ihn aus einer Schnabeltasse trinken müsste.”

“Eine Schnabeltasse?”, fragte Tippy erstaunt.

“Mit Schnabeltasse wirke ich verdammt sexy”, erwiderte er mit todernster Miene. Tippy lachte. Cashs schöner Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Er hatte schon lange keine Frau mehr angelächelt und es wirklich ernst gemeint. Nun ja, abgesehen von Christabel Gaines. Aber sie war ja jetzt mit seinem besten Freund verheiratet.

“Ich esse jedenfalls noch ein Sandwich, bevor ich ins Bett gehe”, verkündete Rory. “Gute Nacht, Cash. Bis morgen.”

“Abgemacht”, rief Cash zurück.

Er griff nach Tippys schmaler Hand und zog sie zur Tür. “Wenn du willst, erkundige ich mich mal, ob es etwas Nettes in der Oper oder im Ballett gibt.”

“Ich mag beides”, erwiderte sie.

“Wie steht’s mit Sinfoniekonzerten?”, wollte er wissen.

Sie nickte begeistert.

“Ich glaube, ich würd’s auch überleben, wenn ich einen Anzug anziehen müsste”, seufzte er.

“Wenn ich mich recht erinnere, hast du Christabel Gaines in Houston mal zu einem Ballett eingeladen”, sagte sie, wobei sie einen Anflug von Eifersucht nicht verbergen konnte.

Das überraschte ihn. Er schaute sie so durchdringend an, dass sie seinem Blick auswich. “Meine Güte, Christabel Gaines. Wie lange ist das her! Ja, ich habe sie tatsächlich mit in ein Ballett genommen. Sie hatte noch nie zuvor eins gesehen.”

“Ich habe sie immer für eine verwöhnte kleine Prinzessin gehalten”, sagte Tippy. “Aber ich habe mich total in ihr getäuscht. Sie ist eine sehr außergewöhnliche Frau. Judd ist ein Glückspilz.”

“Das kann man wohl sagen”, pflichtete er ihr bei. Der Gedanke an Christabel schmerzte ihn immer noch. “Sie sind ganz vernarrt in ihre Zwillinge.”

“Babys sind auch süß”, sagte sie. “Rory war auch noch als Vierjähriger unheimlich niedlich.” Sie lächelte sehnsüchtig. “Mit einem Kind ist jeder Tag ein Abenteuer.”

“Dazu kann ich nichts sagen.”

Verwundert registrierte sie seinen versteinerten Gesichtsausdruck.

Er wandte den Blick ab. “Ich muss gehen. Wir sehen uns morgen früh.”

Er ließ ihre Hand los und ging. Sie ahnte, dass er in früheren Jahren einmal sehr verletzt worden war, und es hatte wohl mit Kindern zu tun. Judd hatte ihr von seiner Vermutung erzählt, dass Cash einmal verheiratet gewesen sein musste, aber mehr hatte er auch nicht gewusst. Er war und blieb ein Rätsel. Aber er übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. In dieser Intensität hatte sie das noch bei keinem anderen Mann erlebt.

Pünktlich um acht Uhr am nächsten Morgen stand Cash vor der Tür. In der einen Hand hielt er eine silberne Thermoskanne mit Kaffee, in der anderen eine Papiertüte.

“Ich habe doch Kaffee gemacht”, sagte sie rasch.

Er hob die Thermoskanne hoch. “Cappuccino mit Vanillegeschmack”, erklärte er und schwenkte sie vor ihrer Nase hin und her. “Meine einzige Schwäche. Nun ja, abgesehen von dieser.” Jetzt wedelte er mit der Tüte.

“Was ist denn da drin?”, fragte Tippy, während sie ihm zum Frühstückstisch folgte, der bereits gedeckt war und an dem Rory erwartungsvoll saß.

“Quarktaschen”, sagte er. “Tut mir leid, aber ich kann nun mal auf Süßes nicht verzichten. Ich glaube, Zucker gehört zu den vier Grundnahrungsmitteln – neben Schokolade, Eiscreme und Pizza.”

Rory und Tippy mussten lachen.

“Erstaunlich”, meinte sie, während sie seinen muskulösen Körper sehnsüchtig betrachtete. “Du siehst überhaupt nicht danach aus, als hättest du jemals im Leben Fett oder Zucker zu dir genommen.”

“Ich trainiere jeden Tag”, gestand er. “Das muss ich. Die Uniformen sind uns passgenau auf den Körper geschneidert, um unsere Muskeln zu betonen”, setzte er mit todernster Miene hinzu.

Ihr Blick fuhr über seinen ausgeprägten Bizeps. Er trug ein eng anliegendes Baumwollhemd, eine dunkle Hose und eine schwarze Lederjacke. Auf dem Weg zur Küche warf er sie lässig auf einen Sessel.

“Alles in Ordnung?”, fragte er, als er ihren erstaunten Blick bemerkte.

Sie seufzte. “Ich habe gerade deine Muskeln bewundert”, entgegnete sie trocken.

Rory verschwand im Badezimmer. Cash griff nach Tippys langem Rock und zog sie zu seinem Stuhl. “Wenn du brav bist, zieh ich irgendwann mal mein Hemd für dich aus”, raunte er ihr verführerisch zu.

Sollte sie jetzt lachen oder empört sein? Bei ihm wusste man wirklich nie, woran man war.

“Natürlich nicht sofort”, schränkte er ein. “Zu dieser Sorte Mann gehöre ich nicht.”

Nun musste sie doch lachen. In ihren grünen Augen funkelten kleine Blitze. Er grinste ebenfalls. “Hier. Nimm eine Quarktasche. Ich habe genug für uns alle mitgebracht.”

Sie griff in die Tüte, während sie den Blick seiner dunklen Augen auf sich spürte.

“Deine Haut ist auch ohne Make-up wunderschön”, sagte er aufrichtig. “Sie sieht aus wie Seide.”

Ihr Kopf fuhr herum. Als sich ihre Blicke trafen, schlug ihr Herz schneller. Er war wirklich verdammt sexy.

“Was denkst du gerade?”, fragte er leise.

“Ich wette, du kennst dich mit Frauen bestens aus”, entgegnete sie. Ihre Stimme klang belegt.

Seine Augen wurden schmal. “Und du weißt nichts über Männer.”

Ein Schleier lag in ihrem Blick. “Ich hab’s auch nie gewollt”, sagte sie leise. Sie betrachtete seinen wohlgeformten Mund.

“Sei vorsichtig”, warnte er sie. “Ich bin sehr lange allein gewesen.”

“Du würdest mir nicht wehtun”, sagte sie kühn, ohne den Blick von ihm abzuwenden. “Ich wünschte … oh, ich wünsche mir so …”

“Was wünschst du dir?”, hakte er nach. Er biss die Zähne zusammen, als er den Duft ihres Körpers wahrnahm. Sie stand jetzt so dicht bei ihm, dass er das Auf- und Abschwellen ihrer Halsschlagader über dem Kragen ihrer Bluse sehen konnte. Am liebsten hätte er sie sofort in seine Arme genommen und leidenschaftlich geküsst.

In ihr brannte das gleiche Verlangen. Sie betrachtete seinen Mund und fragte sich, wie es wohl wäre, diese Lippen zu küssen – so wie sie ihren Kollegen vor der Kamera in dem Film geküsst hatte, den sie auf der Dunn-Ranch gedreht hatten. Sie konnte beinahe Cashs feste Lippen spüren. Ihr Verlangen war so stark, dass es fast schmerzte. Sie glaubte, zu verdursten, und alles Wasser dieser Welt würde nicht ausreichen, ihren Durst zu stillen.

Durch halb geöffnete Lippen atmete sie hörbar ein. “Ich wünschte …”

Das Geräusch der Toilettenspülung riss sie in die Wirklichkeit zurück. Sie richtete sich auf, vergaß ihre Quarktasche und ging zum Spülbecken, um die Hände zu waschen. Sie musste etwas tun, um sich zu beruhigen.

Rory kam zurück. Er bemerkte die knisternde Stimmung überhaupt nicht. Unbekümmert nahm er sich eine Quarktasche. Nach einer Minute goss Tippy sich einen Kaffee und Rory ein Glas Orangensaft ein. Dann setzte sie sich an den Tisch, als sei nichts geschehen.

Zuerst gingen sie ins Naturkundemuseum, um sich die neu gestaltete Dinosaurierausstellung im dritten Stock anzusehen. Es war nur eine von mehreren Sonderschauen, die viele Besucher anlockten. Sie mussten über eine Stunde anstehen, ehe sie ihre Eintrittskarten kaufen konnten. Anschließend standen sie Schlange, um einen Film zu sehen und in einem Laden zu stöbern, in dem es nur Bücher und Objekte rund um Albert Einstein gab.

Aufgeregt lief Rory von einem Objekt zum anderen und kletterte die steile Treppe empor, um von oben einen Blick auf das größte Skelett mit seinen gigantischen Schulterblättern und Hüftgelenken zu werfen.

“Er ist ganz vernarrt in Dinosaurier”, bemerkte Tippy, während sie an Cashs Seite durch die Ausstellung ging. Sie trug dunkelblaue Jeans, eine helle Bluse und einen dazu passenden Mantel. Das Haar fiel ihr auf die Schultern und zog die Blicke sowohl von Männern als auch Frauen auf sich. Ihr Gesicht wirkte sehr natürlich, denn sie hatte sich wie immer nur leicht geschminkt.

Cash empfand einen gewissen Stolz in ihrer Gegenwart. Sie ist wirklich wunderschön, dachte er, und das hat nur wenig mit ihrem Aussehen zu tun. Sie hatte ein Herz aus Gold. Und nur das zählte.

“Ich finde Dinosaurier auch toll”, meinte er. “Vor einigen Jahren war ich schon mal in diesem Museum, aber die Dinosaurier habe ich verpasst, weil die Abteilung gerade renoviert wurde. Sie sind wirklich beeindruckend.”

Sie beugte sich über eine Tafel, um sie lesen zu können.

“Du hast deine Brille nicht auf”, bemerkte er.

Sie lachte unsicher. “Wenn ich sie aufsetze, bin ich ein wandelndes Verkehrsrisiko”, sagte sie trocken. “Ich reinige die Gläser so oft wie möglich, aber sie bleiben verkratzt. Ich habe sie schon zwei Mal ersetzen lassen.”

“Es gibt inzwischen kratzfeste Gläser”, sagte er.

“Die hab ich ja. Aber sie sind eben doch nicht kratzfest. Jedenfalls nicht meine.” Ihre perfekt geschwungenen Schultern hoben sich. “Ich wünschte, ich könnte Kontaktlinsen tragen, aber ich vertrage sie leider Gottes nicht. Ich kriege regelmäßig Infektionen.”

Er streckte seine große, schlanke Hand aus, griff nach einer Haarsträhne und ließ sie durch die Finger gleiten. Dabei zog er sie sanft näher. “Ich liebe deine Haare”, meinte er leise. “Ich habe noch nie einen so schönen Farbton gesehen.”

“Danke”, antwortete sie. Seine unerwartete Nähe ließ ihre Knie weich werden. Er roch nach Rasierwasser und Seife – saubere, anziehende Düfte. Ihre Hände lagen auf seinem Hemd und spürten die Muskeln unter dem Stoff – warme, straffe Polster. Am liebsten hätte sie ihm das Hemd ausgezogen und seine bloße Haut berührt. Die Macht dieses Wunsches ließ ihr den Atem stocken. Noch nie hatte sie eine so heftige Begierde empfunden.

“Ist die Farbe echt?”, wollte er wissen.

“An meinem Körper ist alles echt”, sagte sie leise.

Er schaute länger und intensiver in ihre grünen Augen, als er es eigentlich wollte. Seine Gesichtsmuskeln schienen sich zu straffen. Vermutlich konnte er ihr Herz rasen hören. Sie konnte nichts dafür. Er war ein ausgesprochen männlicher Typ. Auf seine Berührung reagierte ihr Körper sofort. “Ich traue Frauen nicht.”

“Du warst doch verheiratet”, erinnerte sie ihn.

Er nickte. Seine Finger spielten mit ihrer Haarsträhne. Sein Blick war verschleiert. “Ich habe sie geliebt. Und ich dachte, sie liebt mich auch.” Sein Lachen klang zynisch. “Jedenfalls hat sie alles geliebt, was ich ihr gekauft habe.”

Sie spürte einen Schauer über ihren Rücken laufen. “Es gibt so vieles in deiner Vergangenheit, über das du nicht sprichst”, meinte sie leise. “Du bist irgendwie sehr verschlossen, mein lieber Cash.”

“Es fällt mir nicht leicht, jemandem zu vertrauen”, gab er zu. “Wenn du Menschen zu nahe an dich heranlässt, können sie dich verletzen.”

“Und du glaubst, die Lösung besteht darin, sie alle fernzuhalten?”, fragte sie.

“Glaubst du das nicht?”, entgegnete er schroff. “Ich kann mich nicht erinnern, dich mit jemandem zusammen gesehen zu haben – besonders nicht mit einem Mann. Abgesehen von Rory und die kurze Zeit mit Judd Dunn.

Sie musste schlucken. “Ich habe nur die schlimmsten Erinnerungen an Männer. Nur bei Cullen war es anders, und da gab es keinen körperlichen Kontakt. Er war gern mit Frauen befreundet, aber sexuell war er von ihnen abgestoßen.”

“Hast du ihn geliebt?”

Ihre Antwort überraschte ihn. “Auf meine Weise, ja. Er war einer von den beiden Menschen in meinem Leben, die gut zu mir waren, ohne etwas dafür zu erwarten.” Sie lächelte bitter. “Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft man als Frau in meinem Job angemacht wird. Es hat Jahre gedauert, ehe ich damit fertig wurde und mir ein paar passende Sprüche zurechtgelegt habe.”

“Du kannst mir keinen Vorwurf machen, weil ich’s auch versucht habe”, erwiderte er knapp. “Schließlich bist du der Fleisch gewordene Traum aller Männer.”

Ihr Herz machte einen Sprung. “Auch deiner?”, fragte sie schelmisch. Obwohl ihr gar nicht nach Scherzen zumute war. Denn sie wollte, dass er sie begehrte. Mehr als alles andere.

Er ließ ihr Haar los. “Ich habe schon vor Jahren mit den Frauen abgeschlossen.”

“Fühlst du dich denn nicht einsam?”, wollte sie wissen.

“Du denn?”, schnappte er zurück.

Sie seufzte, während sie sehnsüchtig seine markanten Gesichtszüge studierte. “Ich habe kalte Füße gekriegt”, sagte sie mit belegter Stimme. “Ein oder zwei Mal habe ich es in den letzten Jahren mit jemandem versucht, der nett zu sein schien. Aber sie hatten keine Lust, mit mir zu reden oder mich näher kennenzulernen. Sie wollten nur mit mir ins Bett gehen.”

Seine Augen wurden schmal. “Könntest du denn …?”

Ihr Blick fiel auf seinen Brustkorb, dessen Muskeln sich durch das eng anliegende Hemd abzeichneten. “Ich weiß es nicht”, antwortete sie aufrichtig. “Ich habe es … bislang nicht versucht.”

“Möchtest du denn?”

Stirnrunzelnd biss sie sich auf die Unterlippe und starrte auf den Dinosaurier, ohne ihn wahrzunehmen. “Ich bin jetzt sechsundzwanzig. Ich setze mein Herz nicht mehr aufs Spiel, und ich komme ganz gut damit zurecht. Ich habe Rory und meinen Beruf. Ich denke, mehr brauche ich nicht.”

“Das ist nur das halbe Leben.”

“Genau wie deins”, meinte sie vorwurfsvoll und sah ihn eisig an.

“Ich habe aber bessere Gründe als du”, entgegnete er kühl.

“Doch du sagst sie mir nicht”, meinte sie. “Du vertraust mir nicht genug.”

Er steckte die Hände in die Taschen seiner Hose und funkelte sie an. “Ich war mal verheiratet. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich verliebt und ganz verrückt nach meiner Frau. Ich wollte alles mit ihr teilen. Sie hatte mir gerade gesagt, dass sie schwanger sei. Ich war vollkommen aus dem Häuschen. Ich wollte ihr alles über mein früheres Leben erzählen.” Sein Blick wurde kalt. “Ich habe es auch getan. Sie hörte zu, und ich hatte den Eindruck, sie würde mich verstehen. Sie blieb ganz ruhig und sagte kein Wort. Sie war ein wenig blass, aber das war ja keine Überraschung. Ich habe schreckliche Dinge getan. Es gehörte zu meiner Arbeit. Es waren wirklich schlimme Sachen.” Er wandte sich von ihr ab. “Dann musste ich für ein paar Tage auf Geschäftsreise. Sie hat sich ganz normal von mir verabschiedet. Als ich zurückkam, hatte ich ein paar Geschenke für sie und das Baby mitgebracht, obwohl sie gerade erst ein paar Wochen schwanger war. Sie erwartete mich mit gepackten Koffern an der Tür.”

Er lehnte sich gegen das Geländer und mied ihren Blick, als er weitersprach: “Sie erzählte mir, dass sie während meiner Abwesenheit im Krankenhaus war. Sie hatte sich auch mit einem Anwalt in Verbindung gesetzt. Und während sie zur Tür hinausging, sagte sie mir, sie würde nicht einmal im Traum daran denken, das Kind eines kaltblütigen Killers auf die Welt zu bringen.”

Tippy hatte geahnt, dass es in seinem Leben Verletzungen geben musste, die nichts mit seiner Arbeit zu tun hatten. Jetzt kannte sie die Wahrheit. Nun verstand sie auch, warum er so vernarrt in die Zwillinge von Judd und Christabel war. Sie konnte seinen Schmerz fast körperlich spüren, so als ob es ihr eigener wäre. Und gleichzeitig war sie zutiefst geschmeichelt, dass er ihr so persönliche Dinge anvertraute.

“Kein Kommentar?”, fragte er kalt, ohne sie anzusehen.

“War sie sehr jung?”, fragte sie leise.

“Genauso alt wie ich.”

Sie schaute auf seine Hände, die das Stahlgeländer umklammerten – so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Ansonsten zeigte er keine Reaktion.

“Ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun”, antwortete sie ruhig. “Ich würde niemals mit einem Mann schlafen, ohne Vorkehrungen zu treffen, es sei denn, ich liebte ihn. Und ich denke, ein Kind gehört dazu.”

Langsam wandte er den Kopf und schaute sie neugierig an. “Sie hatte recht. Ich war ein kaltblütiger Killer”, sagte er tonlos.

Sie sah seine grimmige Miene. Ihr Blick war sanft. “Das glaube ich nicht.”

“Wie bitte?”, fragte er unwirsch.

“Der Kommandant hat Rory erzählt, dass du Mitglied einer bestens ausgebildeten Spezialeinheit beim Militär warst”, sagte sie. “Sie haben dich losgeschickt, wenn Verhandlungen nichts mehr brachten und wenn Menschenleben auf dem Spiel standen. Jetzt sag mir bloß nicht, dass du ein Unterweltkiller warst oder für Geld getötet hast. So eine Sorte Mensch bist du nicht.”

Er schien den Atem anzuhalten. “Du weißt gar nichts über mich”, erwiderte er barsch.

“Meine Großmutter war Irin. Sie hatte das zweite Gesicht. Das ist eine besondere Gabe. Alle Frauen in meiner Familie haben sie – bis auf meine Mutter”, ergänzte sie. Liebevoll ruhte ihr Blick auf seinem Gesicht. “Ich weiß von Dingen, von denen ich besser nichts wüsste. Ich kann Ereignisse voraussehen, ehe sie eintreten. In letzter Zeit habe ich mir große Sorgen um Rory gemacht, weil ich spüre, dass er in Gefahr schwebt.”

“Ich glaube nicht an Hellseherei”, antwortete er steif. “Das ist Aberglaube.”

“Vielleicht für dich. Ich sehe es nicht so.” Auf der Suche nach ihrem kleinen Bruder ließ sie ihren Blick durch den Saal wandern. Sie entdeckte ihn inmitten einer Gruppe von Besuchern, die einen ausgestopften urzeitlichen Quastenflosser betrachteten, der von der Decke hing.

Cash fühlte sich verletzt. In Gegenwart dieser Frau hatte er das Gefühl, vollkommen durchschaubar geworden zu sein, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er kapselte sich lieber ab und behielt seine Geheimnisse für sich. Er wollte nicht, dass Tippy seine Gedanken erraten konnte.

“Jetzt habe ich dich wütend gemacht. Das tut mir leid”, sagte sie leise, ohne ihn anzuschauen. “Ich gehe jetzt in den Laden mit den Einstein-Sachen. Rory hätte gern ein T-Shirt. Treffen wir uns doch in einer Stunde in der Eingangshalle.”

Er hielt sie zurück. “Warte. Lass uns zusammen gehen.” Er nahm ihre Hand. Wortlos schlenderten sie durch einige der kleineren Ausstellungsräume, die sich bereits geleert hatten. Vor einer Vitrine blieben sie stehen. Cash legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. “Ich habe Rory mal gesagt, dass mir Aufrichtigkeit über alles geht.”

“Nicht, wenn es darum geht, dass irgendjemand in deinem Privatleben herumschnüffelt.”

“Ich habe dir von meinem Privatleben erzählt”, erwiderte er und holte tief Luft. “Niemand sonst weiß etwas von meinem Kind.”

“Ich habe das zweite Gesicht”, erinnerte sie ihn lächelnd.

“Ja.” Flüchtig berührte er ihre Wange. “Ich habe mehr Narben auf der Seele als du, und das will etwas heißen. Wir sind beide gebrannte Kinder. Unter diesen Umständen wäre es verrückt, wenn wir etwas miteinander anfingen. Und deshalb wird das auch nicht passieren.”

Ihre Augen blickten ebenso schüchtern wie neugierig. “Du würdest …, du hast daran gedacht – mit mir etwas anzufangen?” Sie schien nicht zu glauben, was sie soeben gehört hatte.

Es war offensichtlich, dass sie geschmeichelt war. Er war überrascht, denn er hatte nicht geglaubt, dass sie sich so sehr zu ihm hingezogen fühlte. Nach all den Erfahrungen, die sie gemacht hatte, wäre es bestimmt nicht einfach für sie.

“Mit deiner Vergangenheit …”, überlegte er laut.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Sofort ging ihr Atem schneller. “Du hast eins vergessen. Du bist Polizist.”

“Und deshalb hast du keine Angst vor mir?”, murmelte er. Er atmete auch ein wenig schneller, als sie so dicht vor ihm stand. Sie duftete wie ein sommerlicher Blumenstrauß.

Sie hob die Schultern. “Judd Dunn war ein Texas Ranger. Mit ihm habe ich mich sicher gefühlt.”

“Was willst du damit sagen?”

Sie kaute an ihrer Unterlippe, und ihre Wangen überzog ein Hauch von Röte. “Ich fühle mich … nicht wirklich … sicher mit dir. Du machst mich nervös. Ich fühle mich unsicher – unruhig. Ich muss dauernd daran denken, wie es wäre, dich zu berühren – die ganze Zeit”, flüsterte sie, als gerade keiner der anderen Besucher in ihrer Nähe war. “Ich wüsste zu gerne, wie es wäre, von dir geküsst zu werden.”

Er konnte nicht glauben, dass sie das gesagt hatte. Aber er konnte es auch in ihren verträumten Augen lesen. Sie wirkte ganz benommen.

Seine schlanken Hände zogen sie dicht zu sich heran, und sie spürte die Wärme seines muskulösen, durchtrainierten Körpers. Er spürte, wie ihr der Atem stockte. Seine Augen musterten ihre vollen Lippen. “Ich wünsche mir auch die ganze Zeit, dich zu berühren, Tippy”, sagte er heiser. Mit der Kuppe seiner Daumen streichelte er ihre Unterarme und zeichnete die weichen Rundungen ihrer Brüste nach. Sein Mund war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Sein Atem war warm und roch nach Minze. “Ich stelle mir vor, wie es ist, deine weiche Haut an meinem Körper zu spüren. Wie es ist, deine Lippen zu küssen und dich mit meiner Zunge zu schmecken.”

Tippy atmete schwer. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie lehnte die Stirn gegen seine Brust und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Ihre Fingernägel krallten sich in seiner Haut. “Oh, Cash”, stöhnte sie.

Seine Hände wurden fordernder. Die Begierde durchfuhr seinen Körper wie eine heiße Welle. Sein Körper versteifte sich, weil er fürchtete, die Kontrolle über sich zu verlieren. Er wollte einen Schritt zurücktreten, aber eine winzige Bewegung ihrer Hüften machte ihn Schaudern vor Lust.

Sie sah ihn an und war überrascht, wie prompt sein Körper reagierte. Sie wusste, warum Männer so reagierten, aber bisher hatte es sie immer angewidert. Doch jetzt empfand sie es als faszinierend und wunderschön. Ihre Lippen öffneten sich leicht, als sie in seine dunklen Augen sah und in ihnen lesen konnte wie in einem offenen Buch. Er wollte sie. Unbedingt.

Wieder bewegte sie sich leicht, denn sie wollte ihm unbedingt Vergnügen bereiten. Aber plötzlich wanderten seine Hände zu ihrer schmalen Taille und umfassten ihre Hüften mit festem Griff.

“Wenn du das noch mal tust”, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, “kann es passieren, dass wir zum öffentlichen Ärgernis werden. Möchtest du das wirklich riskieren?”

“Oh, oh.” Sie schluckte. Schamrot im Gesicht schaute sie sich um. Glücklicherweise schien sie niemand zu beachten.

Er schob sie von sich fort und richtete sich auf. Dabei sagte er sich still das große Einmaleins vor, um sich abzulenken. Es beunruhigte ihn, wie heftig er auf Tippy reagiert hatte.

Ihr erging es ähnlich. Von kühler Zurückhaltung bis zu leidenschaftlicher Bereitwilligkeit war es bei ihr nur eine Sache von Sekunden gewesen. Plötzlich konnte sie nur noch an ein Bett denken, in dessen Mitte Cash auf sie wartete. In ihrer Fantasie stellte sie sich Cashs mächtigen Körper ganz ohne Kleider vor …

Sie gab einen leisen Laut von sich. In dieser Sekunde hätte sie Cash nicht ansehen können, selbst wenn es um ihr Leben gegangen wäre.

Trotz aller Anspannung vermochte er ein leises Lachen nicht zu unterdrücken. Sie war ein offenes Buch. Es schmeichelte ihm, dass er sie mit einem so harmlosen Liebesspiel dermaßen erregen konnte. Sie erregte ihn ebenfalls, aber er konnte ihr nicht trauen. Oder etwa doch? Er hatte noch nie einem anderen Menschen von seiner Frau erzählt.

Ihre perfekt manikürten Hände griffen nach seinem Hemd und drückten seine Brust – fast so, als ob sie dort Halt suchten. Trotzdem war zwischen ihren Körpern eine gewisse Distanz. Sie wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Noch nie hatte sie sich so unsicher gefühlt, so schüchtern. Gleichzeitig war sie noch nie so glücklich und aufgeputscht gewesen wie in diesem Augenblick.

Seine großen Hände umfassten ihre schlanken Handgelenke und drückten sie. Eine Gruppe Besucher lief an ihnen vorbei, lachte und unterhielt sich. Doch sie waren die einzigen Menschen auf der Welt.

“Ich könnte dir wehtun”, begann Cash. “Nicht körperlich, meine ich. Und ich bin ein Risiko. Ein Einzelgänger. Zu sehr daran gewöhnt, für mich allein zu sein. Ich teile nicht gerne. Und ich habe auch nicht mehr … viele Gefühle.”

Er klang verletzlich. Sie war fasziniert. Ihre sanften grünen Augen schauten in seine dunklen, die gehetzt blickten. Es war, als ob Blitze einschlügen. Hörbar hielt sie den Atem an. “Ich empfinde Dinge, von denen ich niemals geglaubt hätte, dass ich es könnte.”

Seine Hände umklammerten ihre Hüften. “Es wäre Selbstmord”, sagte er harsch durch zusammengepresste Zähne.

Sie erinnerte sich an eine Textstelle aus einem Buch, und in ihren Augen tanzten kleine Funken, als sie flüsterte: “Willst du denn etwa ewig leben?”

Ihre Frage löste die Spannung, und er lachte.

Ihr Gesicht strahlte. “Vor ein paar Tagen wusste ich noch nicht, ob ich mit einem Mann zusammen sein könnte”, gestand sie mit belegter Stimme. “Aber ich bin mir fast sicher, dass es mit dir klappen könnte. Ich weiß, dass ich es könnte.”

Dieses Geständnis bewegte ihn tief. Nachdenklich betrachtete er sie. “Wozu würde das führen, Tippy?”, fragte er nach einer Weile.

Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie spürte allein ihre körperlichen Bedürfnisse. “Wozu?”, wiederholte sie verständnislos.

Sein Brustkorb hob und senkte sich. “Ich möchte nicht noch einmal heiraten”, sagte er tonlos. “Wirklich nicht.”

Ihre Augen wurden groß, als ihr bewusst wurde, worauf sie angespielt hatte. Ein Rest ihres Verstandes arbeitete noch und verhinderte, dass die Situation für sie noch peinlicher wurde. “Jetzt mach mal halb lang, mein Lieber”, protestierte sie. “Das war kein Heiratsantrag. Ich kenne dich doch kaum. Kannst du kochen und putzen? Weißt du, wie man ein Haushaltsbuch führt? Kannst du Strümpfe stopfen? Und wie sieht es mit dem Einkaufen aus? Ein Mann, der nicht gerne durch die Läden läuft, käme für mich niemals in Frage.”

Er blinzelte zweimal und fasste sich ans Ohr. “Könntest du das bitte wiederholen?”, fragte er höflich. “Ich glaube, mein Aufnahmevermögen hat gerade für eine Sekunde lang ausgesetzt …”

“Außerdem stelle ich hohe Anforderungen an einen potenziellen Ehemann”, fuhr sie ungerührt fort. “Und du bist noch nicht einmal im Halbfinale. Überstürz bloß nichts, Grier. Du bist nur zur Probe hier.”

Seine dunklen Augen blitzten. “Okay, okay”, meinte er gedehnt.

Sie trat einen Schritt zurück und legte den Kopf schräg. “Bild dir bloß keine Schwachheiten ein, nur weil ich mich bereit erklärt habe, mit dir auszugehen. Und vergiss nicht, dass wir einen Anstandswauwau dabei haben. Komm also bloß nicht auf dumme Gedanken.”

Er musste lächeln. “Okay.”

Sie runzelte die Stirn. “Kennst du keine anderen Worte mehr?”

Er grinste verschmitzt und wollte gerade etwas sagen.

“Oh, das behältst du gefällig für dich.”

Er zog die Augenbrauen hoch.

“Ich weiß, du glaubst mir nicht, dass ich Gedanken lesen kann, aber deine habe ich gerade gelesen, und wenn ich deine Mutter wäre, dann würde ich dir jetzt den Mund mit Seife auswaschen.”

Die Erwähnung seiner Mutter vertrieb das Lächeln aus seinem Gesicht und ließ ihn wieder zuschnappen.

Sie zog eine Grimasse. “Entschuldige. Es tut mir wirklich leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.”

Er legte die Stirn in Falten. “Warum nicht?”

Sie wich seinem Blick aus und ging zu einem Skelett, das in einer Vitrine stand. “Ich weiß über deine Mutter Bescheid. Crissy hat es mir erzählt.”

Sekundenlang sagte er nichts. “Wann?”

“Nachdem du mich zum Weinen gebracht hast”, gestand sie. Sie erinnerte sich nicht gerne an diese Episode. “Sie sagte mir, es sei nicht persönlich gemeint, aber du würdest einfach keine Models mögen. Sie hat mir auch den Grund genannt.”

Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Schreckliche Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf.

Sie drehte sich um und schaute zu ihm auf. “Du kannst es nicht vergessen, nicht wahr, selbst nach all den Jahren nicht? Hass ist eine Säure, Cash. Sie frisst dich innerlich auf. Und die einzige Person, die verletzt wird, bist du selbst.”

“Du musst das ja wissen”, antwortete er ruppig.

Sie war nicht beleidigt. “Ja, ich weiß es auch”, sagte sie. “Ich weiß, wie man hasst. Man hat mich so sehr geschlagen, dass ich mich vor lauter Schmerzen nicht mehr wehren konnte. Ich hatte Wunden am ganzen Körper, ich blutete, und danach wurde ich vergewaltigt, immer wieder, und ich schrie um Hilfe, aber es ist niemand gekommen, während meine eigene Mutter …” Sie schluckte und schlug die Augen nieder.

Er sah sie an und litt so sehr mit ihr, dass ihm übel wurde. Er spürte ihren Schmerz. “Jemand hätte ihn töten sollen”, sagte er tonlos.

“Unser Nachbar war Polizist”, sagte sie mit rauer Stimme. “Ich habe mir immer vorgestellt, dass er mein richtiger Vater sei, weil er sich immer um mich gekümmert hat. Er hörte meine Schreie und kam herbeigelaufen – glücklicherweise hatte er an diesem Abend frei. Er nahm Stanton und meine Mutter fest und ließ sie ins Gefängnis bringen. Mich brachte er in ein Kinderheim. Er war sehr nett zu mir.” Sie schluckte schwer. “Alle waren sie nett. Aber meine Mutter konnte sich aus allem herausreden, sogar wenn sie einen Mord begangen hätte, und Stanton konnte es auch, wenn er sich bemühte. Ich wusste, dass sie eine Möglichkeit finden würden, mich zu sich zurückzuholen, und ich wäre lieber gestorben. Deshalb habe ich mich nachts aus dem Schlafsaal geschlichen, vorbei an den Erziehern, und bin abgehauen.”

“Haben sie nach dir gesucht?”, fragte er.

“Offenbar, aber Cullen verwischte meine Spuren, und er hatte genug Geld, um mir sicheren Schutz zu geben. Er wurde mein Vormund, als ich vierzehn war, und meine Mutter war klug genug, mich ihm nicht fortzunehmen. Er kannte ein paar Leute mit gefährlichen Berufen”, fügte sie mit einem ironischen Lächeln in seine Richtung hinzu, denn schließlich gehörte auch er dazu. “Er hatte einen Freund, der ein großes Tier in der Unterwelt war – Marcus Carrera. Inzwischen arbeitet er legal. Er hat mehrere Casinos auf den Bahamas und anderswo, und er und Cullen waren Partner bei irgendeinem Geschäft. In den letzten Jahren hat er seine Weste wirklich weiß waschen können, obwohl allein sein Ruf ausreicht, um die Leute daran zu hindern, sich mit ihm anzulegen.”

“Ich kenne Carrera persönlich”, überlegte Cash. “Für einen ehemaligen Gangster ist er ganz in Ordnung.”

“Jedenfalls sagte Cullen meiner Mutter, dass er mit Marcus reden würde, wenn sie auch nur einen Versuch machte, das Sorgerecht für mich zurückzubekommen. Sie kannte seinen Ruf. Danach hat sie jedenfalls nie mehr versucht, das Sorgerecht für Rory zu bekommen.”

“Siehst du sie noch?”

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. “Nein, ich sehe sie nicht und ich rede nicht mit ihr – nur über meinen Anwalt. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe, war, dass sie wieder pleite ist und damit drohte, den Klatschblättern etwas von mir zu erzählen.” Sie schaute ihn an. “Ich stehe am Anfang einer neuen Karriere. Ich kann es mir nicht leisten, meinen Namen in den Dreck ziehen zu lassen. Ich würde nirgendwo mehr Arbeit finden. Es bleibt schließlich immer etwas hängen. Ich könnte alles verlieren, auch Rory, wenn sie anfängt, Geschichten aus meiner Vergangenheit zu verbreiten. Sie hat ja nichts mehr zu verlieren.”