7. KAPITEL
Vom Flughafen nahm Cash ein Taxi zu Tippys Wohnung. Nach ihrem verzweifelten Anruf hatte er keine Zeit damit verschwenden wollen, den ganzen Weg von Texas mit dem Wagen zurückzulegen. Er wusste zwar nicht, was passiert war, aber er hatte ein sehr ungutes Gefühl in der Magengrube, so als ob etwas sehr Schlimmes geschehen sei. Er musste es unbedingt herausfinden.
Nach dem Telefonat war ihm ihre Stimme, die so hilflos geklungen hatte, nicht mehr aus dem Ohr gegangen. Schließlich hatte er zum Hörer gegriffen und bei ihr angerufen, nur um sicherzugehen, dass mit ihr alles in Ordnung war. Er hatte die richtige Nummer gewählt. Aber es war nicht Tippy gewesen, die ans Telefon gegangen war.
Der Grund für Cashs überstürzten Besuch in New York war die Stimme, die er gehört hatte, als er in Tippys Wohnung angerufen hatte. Es war die Stimme eines Mannes, und sie klang barsch und geschäftsmäßig. Als Cash darum bat, mit Tippy zu sprechen, entstand ein eisiges Schweigen.
Der Mann erkundigte sich, was er wollte. Cash gefror das Blut in den Adern, als er sein Anliegen wiederholte. Wieder entstand eine Pause. Dann sagte man ihm, dass sie zurzeit nicht erreichbar sei. Er solle es am nächsten Tag noch einmal versuchen. Und dann wurde die Leitung unterbrochen.
Noch lange, nachdem der Mann aufgelegt hatte, hielt Cash den Hörer in der Hand. Er fühlte sich ganz miserabel. Tippy war etwas zugestoßen. In ihrem Apartment waren Männer, die ihr Telefon kontrollierten. Polizeibeamte oder jemand anders von den Vollzugsbehörden. Er hatte es am typischen Tonfall der Antwort erkannt. Schließlich hatte er diese Floskeln selbst oft bei Entführungsfällen benutzt, zu deren Aufklärung er hinzugezogen worden war.
Es war ihm unmöglich, am Telefon Licht in die Angelegenheit zu bringen. Den Kollegen erzählte er, dass er eine dringende Familienangelegenheit zu regeln hätte, nahm ein paar Tage frei, überließ Judd die Leitung der Dienststelle und bestieg das nächste Flugzeug nach Manhattan.
Immer wieder rief er sich die Worte des letzten Anrufs in Erinnerung. Tippys Apartment wurde von der Polizei überwacht. Sie hatten jemanden – oder etwas – im Visier. Ihm fielen Tippys Mutter und Rorys Vater ein und die Drohungen, die sie geäußert hatten und von denen Tippy ihm erzählt hatte. Wenn sie nun Rory entführt hatten? Das wäre eine logische Erklärung für Tippys hysterischen Tonfall. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, und er hatte sie zum Teufel geschickt und den Hörer aufgelegt. Er schloss die Augen, als er seine Gewissensbisse fast körperlich schmerzhaft spürte. Wenn Tippy oder Rory etwas zugestoßen sein sollte, weil er seine Hilfe verweigert hatte, dann würde er seines Lebens nicht mehr froh werden können. Aber – wenn Rory in Schwierigkeiten steckte, warum war Tippy dann nicht an ihr eigenes Telefon gegangen?
Er stieg aus dem Taxi, rundete den Fahrpreis großzügig auf und stürmte die Treppen zur Haustür hinauf, indem er zwei Stufen auf einmal nahm. Er drückte auf die Klingel.
“Wer ist da?”, fragte eine Stimme. Es war dieselbe, die er ein paar Stunden zuvor am Telefon gehört hatte.
“Ich bin ein alter Freund von Tippy Moore”, kam ihm die Lüge glatt über die Lippen. “Wir arbeiten zusammen beim Film.”
Eine Pause entstand, und dann war ein verängstigter Junge zu hören.
“Lassen Sie ihn hinein. Bitte!”
Rory! Cash biss die Zähne zusammen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Rory war da drin. Man hatte ihn nicht entführt, aber er klang verzweifelt. Tippy musste etwas zugestoßen sein. Etwas Schreckliches.
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. “Na gut, kommen Sie rauf!”
Der elektrische Türöffner summte. Wie ein Wahnsinniger stürzte er die Treppen hinauf. Es kostete ihn einiges an Mühe, sich ganz normal zu geben, als die Tür zu Tippys Wohnung geöffnet wurde.
Rory stürzte vorbei an den wartenden Männern in Anzügen und warf sich schluchzend in Cashs Arme.
“Was ist denn los?”, fragte Cash leise, während er den Jungen fest an sich gedrückt hielt.
“Sie kennen den Jungen?”, erkundigte sich einer der Männer streng.
Cash betrachtete ihn. Der Mann kam ihm bekannt vor. Zunächst konnte er sich nicht erinnern – doch dann fiel es ihm wieder ein. Der Mann war beim FBI – ein Agent, mit dem er vor Jahren einmal zusammengearbeitet hatte.
“Was geht hier vor?”, wollte Cash wissen, ohne auf die Frage einzugehen.
“Das geht Sie nichts an.”
“Kann er einen Kaffee mit mir trinken?”, schaltete Rory sich hastig ein. “Er ist ein guter Freund von Tippy.”
“Wissen Sie, wo sie ist?”, fragte der Mann im Anzug ihn misstrauisch.
“Bei der Arbeit, nehme ich an”, log Cash schlagfertig. “Oder nicht?”, fragte er Rory mit bedeutungsvollem Ton.
Der Blick des Jungen war sichtlich gehetzt, aber er durfte ihm darauf nicht antworten.
“Klar. Sie ist bei der Arbeit. Wir geben Ihnen fünf Minuten, dann verschwinden Sie wieder”, wandte sich der ältere Mann an Cash. “Wir erwarten einen Anruf.”
Cash folgte Rory in die Küche und drehte den Wasserhahn auf, um ungestört reden zu können. Dann sah er den Jungen mit einem durchbohrenden Blick an.
“Erzähl’s mir. Schnell”, befahl er ihm.
“Sam hat mich gekidnappt, um Lösegeld zu erpressen”, flüsterte Rory. “Weil Tippy das Geld nicht hat, hat sie mit mir getauscht.” Die Stimme versagte ihm. “Sie hat Sam gesagt, er solle sich das Geld von ihrer Filmgesellschaft holen, weil sie es nicht bezahlen kann. Sie kriegt erst wieder Geld, wenn der Film ins Kino kommt.”
Cashs Herzschlag setzte aus. “Sie werden sie töten”, sagte er unwillkürlich.
“Das weiß sie. Sie hat mir einen Kuss gegeben, als sie mich gehen ließen, und gesagt, sie wüsste, was sie tut und dass es ihr egal sei, was mit ihr passieren würde.” Er musste ein paar Mal schlucken. “Seit sie das Baby verloren hat, ist ihr alles egal. Sie hat mir gesagt, ich solle nach Hause gehen und nicht mehr an sie denken. Sie hat gesagt, dass der Schmerz aufhören würde, wenn sie sie umbringen … Cash!”, schrie er auf, als er ihn mit seinen großen Händen bei den Armen packte.
Cash entschuldigte sich sofort. “Die Zeitungen haben geschrieben, dass sie den Stunt freiwillig gemacht hat”, sagte er rau.
“Das ist eine Lüge. Der Regieassistent hat geschworen, dass nichts passieren würde”, murmelte Rory. “Als Mr. Harper davon erfuhr, hat er den Mann gefeuert. Aber da war es schon zu spät …”
Cash schloss die Augen. Schreckliche Bilder schossen ihm durch den Kopf. Jedes harsche Wort, das er zu Tippy gesagt hatte, fiel ihm wieder ein und ließ ihn nicht mehr los. Sie würde sterben, und es war seine Schuld. Sie hatte ihn angerufen, damit er Rory rettete, und er hatte sie gekränkt und den Hörer aufgelegt. Sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen, den Jungen zu retten, als sich gegen ihn einzutauschen – und sich in die Gewalt desjenigen zu begeben, den sie wie keinen anderen Menschen auf der Welt fürchtete, und das aus gutem Grund.
“Hey, Cash, komm zurück”, schüttelte Rory ihn unvermittelt aus seinen Überlegungen. “Wir müssen sie retten.”
Cash war kreideweiß. Er atmete schwer und versuchte, nicht daran zu denken, was sie im Moment durchzustehen hatte.
“Cash!”, drängte Rory erneut. In diesem Moment wirkte er erwachsener als der Erwachsene neben ihm.
Cash atmete lange aus. “In Ordnung”, sagte er ruhig. “Ich kümmere mich darum.”
“Ich glaube nicht, dass die Typen wissen, was sie tun”, meinte Rory bedrückt. “Die sitzen nur rum und warten darauf, dass das Telefon klingelt. Aber Sam wird bestimmt nicht so dumm sein, hier anzurufen. Er wollte sich mit Tippys Filmgesellschaft in Verbindung setzen. Doch Joel Harper ist irgendwo im Ausland auf der Suche nach Schauplätzen für seinen nächsten Film und gar nicht zu erreichen. Und ohne seine Zustimmung ist keiner berechtigt, Lösegeld zu zahlen. Die Entführer werden sie töten. Ganz bestimmt.”
“Wie hat Stanton dich gekriegt?”, fragte Cash rasch, denn die Männer im Nebenzimmer waren plötzlich still geworden.
“Er hat meinem Freund aus dem Nachbarhaus gesagt, dass ich nach unten kommen soll. Ich dachte, du wärst es gewesen.” Rory wandte den Blick ab. “Sam hat einen Cousin, der auf der Lower East Side wohnt, nicht weit von hier. Sein Vater hat eine kleine Kneipe. Er gehört zu irgendeiner Bande und hat gute Verbindungen zur Unterwelt.”
“Wie heißt er?”, wollte Cash wissen.
“Alvaro irgendwas. Montes, glaube ich. Die Kneipe heißt ‘La Corrida’ und ist drüben in der Second Street.”
Cash warf einen Blick durch die Tür ins Nebenzimmer. Die Männer in den Anzügen beobachteten sie misstrauisch. Einer von ihnen war dunkelhaarig und nur ein wenig älter als Cash. Der andere war größer, etwa Mitte fünfzig und hatte bereits graue Haare. Sein Gesichtsausdruck war kalt wie Stahl.
“Die fünf Minuten sind vorbei”, sagte er jetzt zu Cash. “Sie kommen mir bekannt vor”, fügte er hinzu.
Cash grinste. “Vielleicht haben Sie mich mal im Film gesehen. Kennen Sie Der Tänzer? Da habe ich den Kellner gespielt …”
Der Mann sah angewidert aus. “Ich guck mir keine Musicals an.”
Cash warf Rory einen warnenden Blick zu. “Wenn deine Schwester zurückkommt, werden wir das Schachspiel nachholen, das ich dir versprochen habe”, lenkte er ab. “Du bleibst nicht allein, oder?”
“Nein. Wir sind bei ihm. Da ist er sicher”, erwiderte der Ältere kühl.
Cash zog seine Karte heraus und gab sie Rory. “Ich habe einen kleinen Laden in der Nachbarschaft”, erzählte er den Männern mit einem Lächeln, “wenn ich nicht gerade einen Film mache. Der Junge kann mich anrufen, wenn er einen Platz zum Schlafen braucht und Tippy nicht in der Stadt dreht.”
Das Misstrauen in ihren Blicken wurde größer. “Lassen Sie mich die Karte mal sehen”, verlangte der Kleinere.
Rory sah zu Cash, der die Karte zurücknahm und den Männern zeigte. Darauf war zu lesen: “Ein Zuhause fern der Heimat – Smith’s Familienhotel, Brooklyn, New York.” Eine Telefonnummer war ebenfalls angegeben. “Sind Sie Smith?”, fragte er Cash.
“Richtig. Den Namen kann man sich leicht merken, nicht wahr?”, setzte er mit einem verbindlichen Lächeln hinzu. Er war heilfroh, dass er daran gedacht hatte, die alten Visitenkarten einzustecken.
Der Mann gab sie Rory zurück. “Er wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, falls es notwendig ist”, sagte er unfreundlich. “Und jetzt verschwinden Sie.”
“Pass auf dich auf, Rory”, sagte Cash. Dabei nickte er vielsagend, als wollte er ihm mitteilen, dass alles wieder in Ordnung komme.
Rory erwiderte das Nicken, auch wenn er nicht daran glaubte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Cash es anstellen wollte, sie auf eigene Faust zu retten. Das war schließlich alles andere als ein Routine-Job.
Genau das dachte auch Cash, als er das Apartment verließ und eine Kurzwahlnummer auf seinem Spezial-Handy wählte, das er für solche Notfälle mit sich führte.
“Peter?”, sagte er, als sich jemand meldete. “Hier ist Grier. – Gut, und dir? Hör zu, ich brauche Hilfe.”
“Und wie soll die aussehen?”, kam die Antwort.
“Etwa ein halbes Pfund Plastiksprengstoff, ein Kampfmesser, ein Seil, eine 45er Automatik, eine Schockgranate und einen fahrbaren Untersatz, um nach Brooklyn zu kommen.”
Schallendes Gelächter am anderen Ende der Leitung war die Antwort. “Aber klar, kein Problem. Ich lauf mal eben rüber zum Supermarkt und hol die Sachen. Wo steckst du denn?”
Eine halbe Stunde später kletterte Cash zwei Blocks weiter unten in den Wagen und gab Peter Stone, seinem Protegé, die Hand. Der junge Mann arbeitete zurzeit als Bodyguard. Vorher war er in der Firmengruppe von Mica-Stahl gewesen. Anschließend war er als Sicherheitsbeauftragter zu Bojo gewechselt, einem früheren Mitglied der Gruppe. Sein Einsatzgebiet war Qawi im Mittleren Osten, wo er in den Diensten von Scheich Philippe Sabon stand. Zwischen zwei Aufträgen besuchte Peter seine Verwandten in den Staaten.
“Du als Polizeichef in der Provinz. Nicht zu fassen”, meinte Peter amüsiert.
“Du als internationaler Terroristenbekämpfer”, konterte Cash.
Peter zuckte mit den Schultern. “Wir tun, was wir können.” Er wurde wieder ernst. “Was ist denn überhaupt los?”
“Eine Freundin von mir ist gekidnappt worden, und jetzt verlangen sie Lösegeld. Ich werde sie befreien.”
“Eine Freundin?”, fragte Peter verwundert. “Ausgerechnet dir bedeutet eine Frau soviel, dass du sie retten willst? Dann muss sie ja wirklich etwas Besonderes sein.”
“Ist sie auch”, erwiderte Cash knapp. Er wandte den Blick ab. “Sie hat sich selbst gegen ihren kleinen Bruder eingetauscht. Sie hat den Entführern erzählt, dass sie sich das Geld bei ihrer Filmgesellschaft holen können, aber sie wusste, dass sie nicht bezahlen würden. Zurzeit gibt es da niemanden, der befugt ist, Lösegeldverhandlungen zu führen. Ihr war das natürlich auch von vornherein klar.”
“Eine Frau mit Mumm”, sagte Peter aufrichtig.
“Verdammt viel Mumm. Und sie wird sterben, wenn ich nichts unternehme. Der Mann, der sie in seiner Gewalt hat, ist ein ziemlich mieses Schwein.”
“Don Kincaid ist in der Stadt”, sagte Peter. “Außerdem könnte ich mich mit Ed Bonner in Verbindung setzen, falls nötig. Er hat als Boss in Marcus Carreras Revier gearbeitet, bevor Carrera seine Gruppe neu aufgebaut …”
“Carrera ist der allerletzte Ausweg”, unterbrach Cash ihn. “Er führt Listen über die Leute, denen er mal einen Gefallen getan hat.”
“Ich weiß, was du meinst”, erwiderte Peter trocken. “Ich schulde ihm noch einen, und mir wird ganz mulmig, wenn ich mir überlege, was er wohl von mir erwartet.”
“Vielleicht bittet er dich nur um einen exotischen Stoff”, grinste Cash.
“Mach dich bloß nicht lustig über seine Quilts”, warnte Peter ihn schnell. “Ein Typ, der mal sein Hobby nur erwähnt hat, liegt immer noch im Krankenhaus.”
“Wir haben einen Sheriff in Texas, der ebenfalls Quilts näht und Carrera kennt”, erzählte Cash. “Er war mal in einer Quilt-Show im Fernsehen. In meiner Abteilung arbeitet ein Kollege, der mal eine witzige Bemerkung über Männer mit diesem Hobby gemacht hat. Inzwischen geht’s ihm aber wieder gut”, fügte Cash hinzu. “Sein neuer Schneidezahn sieht aus wie echt.”
Peter lachte, während er den Wagen in eine Gasse steuerte. “Wohin fahren wir denn überhaupt?”
“Zu einer kleinen Kneipe namens ‘La Corrida’.”
“Die kenn ich doch!”, rief Peter. “Der Besitzer, Alavaro Montes, kommt aus Spanien. Sein Vater war Stierkämpfer. Er ist in der Arena gestorben – so, wie er es sich immer gewünscht hat.”
“Ist er ein Gauner?”
“Nein”, antwortete Peter. “Aber einige aus seiner Familie sind nicht ganz astrein. Dazu gehört sein nichtsnutziger Sohn”, ergänzte er kalt. “Der Kerl müsste dringend mal sein Verhalten ändern.”
“Komisch, dass du ihn erwähnst”, sagte Cash. “Das ist genau der Typ, hinter dem wir her sind.”
“Was du nicht sagst!” Peter grinste. “Dann wollen wir Papa Montes mal einen Besuch abstatten. Vielleicht kann er uns sagen, wo sein Sohnemann eine Geisel verstecken würde, wenn er eine in seiner Gewalt hätte.”
“Hör mal, ich habe aber überhaupt keine Lust auf eine Kneipenschlägerei …”
“Die wird’s auch nicht geben”, versicherte Peter ihm. “Wart’s nur ab.”
Sie betraten die kleine, schummrige Kneipe. Ein hochgewachsener Mann mit grauen Strähnen in seinem schwarzen, lockigen Haar schaute auf, als sie auf den Tresen zusteuerten. Bis auf einen alten Mann an einem Ecktisch war das Lokal leer.
“Peter”, begrüßte ihn der Besitzer mit einem freundlichen Lächeln. “Ich habe gar nicht gewusst, dass du wieder in der Stadt bist.”
“Nur für ein paar Tage, Viejo”, erklärte Peter und erwiderte das Lächeln. “Das ist mein Freund Grier.”
Der Besitzer der Kneipe zögerte. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, während er Cash musterte. “Ich habe von Ihnen gehört”, sagte er ruhig.
“Das geht vielen so”, erwiderte Peter leichthin. “Eine Freundin von ihm ist entführt worden.”
“Und jetzt kommst du zu mir.” Der alte Mann schloss die Augen und seufzte schwer. “Da brauche ich dich natürlich nicht mehr nach dem Grund zu fragen. Es ist mein Cousin, der Mann aus dem Süden, der uns diese ganzen Schwierigkeiten macht. Letztes Mal war es Waffenschmuggel. Ist es wieder so was Schlimmes?”
“Wenn nicht sogar noch Schlimmeres”, antwortete Peter. “Du wüsstest vermutlich, wo er sich versteckt hält, wenn er eine Geisel hätte?”
“Eine Geisel!” Der Mann schloss die Augen. “Ja, ja, ich weiß, wo er hingehen würde”, sprach er langsam weiter. “In ein Lagerhaus, wo ich meinen Schnaps und die guten Weine aufbewahre”, sagte er nach einer Pause. “Ein paar Blocks von hier entfernt.” Er gab Peter die Adresse. “Passt du auf, dass du meinen Sohn nicht damit hineinziehst?”
“Ihr Sohn steckt schon mittendrin”, schaltete Cash sich mitleidlos ein. “Und wenn dieser Frau auch nur das Geringste zustößt, wird er es bereuen.”
Der alte Mann zuckte zusammen. “Ich bin immer ein guter Vater gewesen”, sagte er bedrückt. “Ich habe alles getan, um ihm den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen und ihn von Freunden fernzuhalten, die auf der falschen Seite des Gesetzes standen. Aber als er von zu Hause fortging, habe ich die Kontrolle über ihn verloren, verstehen Sie? Haben Sie Kinder?”, fragte er Cash.
“Nein”, sagte Cash in einem Tonfall, der keine weiteren Fragen duldete. “Ist sonst noch jemand bei Ihrem Sohn – außer Ihrem Cousin?”
Der Mann schüttelte den Kopf. “Sein Bruder ist Anwalt. Vielleicht eine glückliche Fügung. Mein anderer Sohn hat mir niemals Sorgen gemacht. Er war immer ein guter Junge.”
“Ich bin lange genug bei der Polizei, um zu wissen, dass Kinder auf die schiefe Bahn geraten können, selbst wenn ihre Eltern alles richtig machen. Das ist meistens eine Frage der Persönlichkeit und nicht der Erziehung”, erklärte Cash.
“Gracias”, sagte der Kneipenbesitzer ruhig.
“Bis bald, Viejo”, verabschiedete Peter sich. “Und vielen Dank.”
Der alte Mann nickte nur. Er wirkte sehr bekümmert.
“Er ist ein anständiger Kerl”, sagte Peter, als sie wieder im Wagen saßen. “Er hat viele Opfer gebracht, um seine Jungen richtig zu erziehen. Die Mutter ist bei der Geburt des jüngsten gestorben. Sie war ebenfalls eine gute Frau.”
“Das ist Tippy auch”, knurrte Cash wütend. Ungeduldig wartete er darauf, endlich etwas tun zu können. Er musste sehr geschickt zu Werke gehen, wenn er sie lebendig befreien wollte. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn er nicht rechtzeitig an Ort und Stelle war.
Das Lagerhaus befand sich in einer Seitenstraße, und eine der Straßenlaternen war zerbrochen. Vermutlich durch einen Steinwurf. Eine Gruppe Jugendlicher lungerte herum und begann zu buhen. Als sie jedoch Cash und Peter in ihrer Arbeitsausrüstung sahen, hatten sie es plötzlich eilig, in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden.
“Mach dir über die keine Sorgen”, beruhigte Peter ihn. “In dieser Gegend kommt uns keiner in die Quere. Nicht um alles in der Welt. Wie kommen wir hinein?”
Sie hatten das Lagerhaus bereits genau unter die Lupe genommen und alle Ausgänge kontrolliert.
“Über das Dach und durch die Lüftungsschächte”, sagte Cash. “Und vom ersten Stock über die Treppe hinunter ins eigentliche Lagerhaus.”
“Pass auf, dass du nicht zu viele Flaschen zerdepperst”, meinte Peter besorgt. “Viejo hat nicht viel Geld, und das hier ist vermutlich sein gesamter Besitz.”
“Ich tue, was ich kann. Los.”
“Was ist mit der Polizei?”, fragte Peter ernst.
“Gute Idee.” Cash holte sein Handy hervor und wählte eine Nummer.
Mit Hilfe von Klettereisen erreichten sie das Dach und seilten sich rasch und leise durch den Lüftungsschacht auf das oberste Stockwerk ab.
Da sie kleine Empfänger im Ohr und Mikrofone vor den Lippen hatten, konnten sie sich auch über größere Entfernungen miteinander verständigen, ohne laut sprechen zu müssen. Cash ging als Erster. Das Nylonseil hatte er über die Schulter geschlungen und das Klappmesser hatte er an seiner Hüfte befestigt. Zusätzlich hatte er die 45er Automatik. Er und Peter waren ganz in Schwarz gekleidet und hatten Skimasken übers Gesicht gezogen.
Auf dem Laufgang hielt er kurz inne und warf einen Blick in den unteren Bereich des Lagerhauses. Zwischen den Fässern und Weinregalen bemerkte er eine Frau, die mit dem Gesicht nach unten auf einem Pappkarton lag. Über ihr standen drei Männer und stritten sich. Einer von ihnen hielt eine zerbrochene Flasche in der Hand. Er fuchtelte damit in der Luft umher. Die Frau rührte sich nicht. Cashs Herz setzte einen Schlag lang aus, als er sah, was unten vor sich ging. Wenn sie sie verletzten, würde er die Männer töten. Dann gäbe es für ihn absolut kein Halten mehr.
Er bedeutete Peter stumm, auf der anderen Seite des Lagerhauses Stellung zu beziehen. Sein Partner nickte, während er auf sein eigenes zusammengerolltes Nylonseil zeigte. Peter brauchte eine Ewigkeit, um sich geräuschlos zwischen den Kartons einen Weg zu bahnen. Vor einem Stück Plastik blieb er stehen und wartete, bis ein vorbeifahrender Lastwagen das Knistern übertönte, dass er unweigerlich verursachen würde, wenn er über die Plane lief.
Endlich hatte er seine Position erreicht und zeigte Cash den erhobenen Daumen. Beide verknoteten ihre Nylonseile am Eisengeländer im ersten Stock. Cash zog seine Automatik hervor; Peter tat es ihm nach. Cash kletterte auf das Geländer und sah Peter zu, wie er das Gleiche tat. Dann rutschten beide mit lautem Gebrüll nach unten, um die Männer aus der Fassung zu bringen.
“Was zum Teufel …”, begann der größere Mann im Erdgeschoss fassungslos.
“Schieß! Schieß doch!”, schrie der zweite Mann und zog eine Pistole. Er feuerte ein paar Schüsse in Cashs Richtung, aber Cash hatte es im Laufe der Jahre zu großer Geschicklichkeit gebracht, wenn es darum ging, Kugeln auszuweichen. Er ließ das Seil los, rollte zur Seite und feuerte.
Der zweite Mann packte sich ans Bein und fiel stöhnend zu Boden. Den anderen hatte Peter im Würgegriff von hinten umklammert. Der dritte Mann gab sich sofort geschlagen und rannte zum Ausgang. Noch ehe Cash ihn sich genauer ansehen konnte, war er bereits verschwunden.
Cash steckte die Waffe weg und lief zu Tippy. Als er näher kam, sah er, dass ihr Gesicht blutüberströmt war. Auch ihre Bluse war blutverschmiert und zerrissen. Ihre weich geschwungenen Schultern und ihr Rücken waren über und über mit Wunden und blauen Flecken bedeckt. Sie bewegte sich nicht. Sie schien nicht einmal zu atmen.
In diesem Moment erinnerte Cash sich an das Bild, wie Christabel Gaines auf dem Boden lag, nachdem sie vor einigen Monaten von einem von Judds Gegnern niedergeschossen wurde. Wieder wurde er von Panik ergriffen, aber dieses Mal war das Gefühl noch viel schlimmer.
“Tippy!”, rief er, während er sich neben sie kniete und den Finger auf die Halsschlagader legte. Seine Hand zitterte.
Ein paar entsetzliche Sekunden lang dachte er, sie sei tot. Er konnte ihren Herzschlag nicht spüren. Doch plötzlich bemerkte er eine Reaktion – ein kaum fühlbares, unregelmäßiges Pochen.
“Sie lebt!”, rief er zu Peter hinüber. Er riss das Handy hervor und wählte den Notruf.
Sie war immer noch bewusstlos, als der Rettungswagen vorfuhr. Gleichzeitig trafen die Polizisten ein, begleitet von zwei Männern in Zivil. Bis dahin hatte Peter ihre Utensilien ebenso weggeschafft wie den schwarzen Arbeitsanzug, den Cash getragen hatte. Es sollten keine Indizien gefunden werden, die die beiden Männer mit dem Schauplatz des Verbrechens in Verbindung hätten bringen können. Allerdings würden sie auch nicht die Waffe finden, von der die Kugel im Oberschenkel des größeren Kidnappers stammte.
Unterdessen hatte Cash bereits in Tippys Apartment angerufen, um die Männer vom FBI über die Ereignisse in Kenntnis zu setzen. Deshalb waren sie zur gleichen Zeit wie die Polizei eingetroffen.
Der größere der beiden Männer im Anzug verzog die Lippen, als er Cash auf dem Boden des Lagerhauses erkannte. Cash hielt Tippys blutüberströmten Kopf im Schoß, als die Sanitäter mit der Trage herbeieilten. Uniformierte Polizisten sicherten die Eingänge, und die Männer von der Spurensicherung hatten bereits mit ihrer Arbeit begonnen.
“Jetzt weiß ich wieder, wo ich Sie gesehen habe”, meinte der hochgewachsene Beamte zu Cash.
“Das tun Sie nicht”, erwiderte Cash mit Bestimmtheit.
Der Mann blickte finster. “Jetzt hören Sie mal zu …”
“Nein, Sie hören zu!”, fiel ihm Cash ins Wort. “Diese Männer haben meine Verlobte entführt. Nicht eine Sekunde lang wäre es mir in den Sinn gekommen, mich neben das Telefon zu setzen und zu warten, bis es läutet. Dummerweise habe ich die Schießerei verpasst. Die war schon in vollem Gange, als wir hier eintrafen.”
“Sie können sich doch nicht ohne Weiteres in die Ermittlungsarbeiten von Regierungsbeamten einmischen.”
“Und ob ich das kann”, erwiderte Cash knapp. “Versuchen Sie doch, mich davon abzuhalten.”
“Ich verständige die Zentrale, und spätestens morgen früh haben sie Sie beim Arsch”, sagte der FBI-Agent wütend.
“Ich verständige die Zentrale, und dann können Sie ab morgen Bleistifte auf dem Broadway verhökern”, entgegnete Cash schlagfertig.
Der jüngere Agent zog seinen Kollegen beiseite und wisperte aufgeregt in sein Ohr. Der größere gab schließlich klein bei. “Morgen früh möchte ich Sie hier nicht mehr sehen.”
“Das werden Sie auch nicht”, erwiderte Cash gelassen. Er konzentrierte sich wieder auf Tippy, der es immer schwerer fiel zu atmen.
Die beiden Agenten traten einen Schritt näher und betrachteten das Werk der Kidnapper. “Warum zum Teufel haben sie das getan?”, fragte der Ältere aufgebracht. “Sie war doch überhaupt keine Bedrohung für sie.”
“Dem Typen, der angeschossen wurde, gefällt es, Frauen zu quälen”, sagte Cash ohne aufzublicken. Das Bild von Stanton, der mit einer zerbrochenen Flasche über Tippy stand, als Cash das Lagerhaus betrat, ging ihm nicht aus dem Kopf.
“Ach, wirklich?” Der Beamte trat zu dem Mann, der seinen Oberschenkel mit einem Fetzen von seinem Hemd verband, um die Blutung zu stillen.
“Besorgen Sie mir einen Krankenwagen, Sie Dummkopf”, verlangte Sam Stanton selbstbewusst. “Ich bin angeschossen worden. Einer dieser komischen maskierten Typen hat auf mich gefeuert.”
“Das hat Zeit, Jungs, es ist keine schlimme Sache”, rief der Beamte den Sanitätern zu. “Kümmert euch erst um sie.”
“Verdammter Mistkerl”, stöhnte Stanton.
Cash warf dem Agenten einen Blick zu. “Danke”, sagte er mit rauer Stimme.
Der andere Mann zuckte nur mit den Schultern.
Während Tippy auf die Trage gelegt wurde, begann der Notarzt bereits mit der Untersuchung. Cash kletterte ins Auto und hielt ihre Hand. Er hatte wahnsinnige Angst um Tippy und bemühte sich, es nicht zu zeigen. Er dachte an Rory, der ganz allein war. Er hatte die Beamten nicht gefragt, was sie mit dem Jungen gemacht hatten. Er hoffte inständig, dass sie ihn zu den Nachbarn gebracht hatten, den Eltern seines Freundes.
Doch als der Krankenwagen in die Notaufnahme rollte, wartete Rory bereits mit zwei FBI-Agenten.
Cash hätte sie am liebsten umarmt. Rory rannte zu der Trage. Sein Gesicht war kreideweiß, und seine Augen waren rot und geschwollen. “Tippy!”, rief er.
Cash fing ihn ab und umarmte ihn. “Sie lebt”, sagte er sofort. “Sie hat Wunden und Quetschungen und eine Gehirnerschütterung, und sie sieht entsetzlich aus. Aber sie wird wieder gesund werden.”
Rory schaute zu ihm auf. In seinem Blick lagen Angst und Zweifel. “Du würdest mich doch nicht anlügen, oder?”
“Nein”, sagte Cash tonlos. “Das würde ich niemals tun. Sie wird wieder vollkommen hergestellt werden. Das verspreche ich dir.”
“Was ist mit Sam?”, fragte Rory bedrückt.
“Frag diese Leute da”, sagte Cash und lächelte den Agenten müde zu. “Sie warten darauf, ihn und seinen Kumpel ins Gefängnis zu bringen, wenn seine Wunde verarztet worden ist. Da war noch ein dritter, aber er konnte entkommen. Vielleicht kriegen sie ihn ja noch.”
“Sam ist angeschossen worden? Das ist gut”, sagte Rory zufrieden. “Haben Sie auf ihn geschossen?”, fragte er die Männer vom FBI.
“Nein”, kam die Antwort sofort wie aus einem Mund.
“Mich brauchst du nicht anzusehen”, sagte Cash mit ausdrucksloser Miene. “Außerhalb von Texas trage ich keine Pistole mit mir herum. Das ist gegen das Gesetz.”
Die FBI-Agenten durchbohrten ihn mit ihren Blicken. Cash lächelte zurück, als könnte er kein Wässerchen trüben.
“Stanton weiß nicht, wer auf ihn geschossen hat”, fuhr der Beamte mit einem misstrauischen Blick fort. “Und er hat gesagt, dass es zwei Kerle waren und nicht bloß einer.”
“Vermutlich war er betrunken”, schlug Cash mit Unschuldsmiene vor.
Der ältere Beamte seufzte. “Vermutlich”, bestätigte er. “Kennen Sie zufällig einen Mann namens Callahan in unserem Bezirksbüro?”
“Ich bin mir nicht sicher”, antwortete Cash grinsend.
Der Beamte schüttelte nur den Kopf.
Rory spürte, dass Cash etwas verbarg, und bemühte sich, nicht zu grinsen.
“Was steht heutzutage auf Entführung und Körperverletzung?”, wollte Cash von den Agenten wissen.
“Genug, dass sie lange graue Bärte haben, wenn sie wieder rauskommen”, versicherte ihm der größere der beiden Männer. “Wir werden sie schon dazu bringen, uns etwas über den Kerl zu erzählen, der geflohen ist. Und ich schwöre bei Gott, dass ich bis zum Ende meines Lebens bei jedem Antrag auf Haftentlassung ein Wörtchen mitzureden habe, wenn wir den Kerl erwischen. Ich werde die Richter immer wieder daran erinnern, was sie der jungen Frau angetan haben.”
“Danke”, sagte Cash aus vollem Herzen.
Der Mann zuckte mit den Schultern.
“Ich finde Sie klasse”, ließ sich Rory vernehmen. “Vielen Dank.”
“Wir tun nur unseren Job”, antwortete der Kleinere. Aber er lächelte.
Der Notarzt kam heraus, um mit Cash zu sprechen. Tippy hatte eine Gehirnerschütterung, wie Cash bereits bekannt war, und obwohl sie jetzt bei Bewusstsein war, musste sie für die nächsten Stunden unter ständiger Beobachtung bleiben. Zusätzlich zu den Schnittwunden im Gesicht und auf ihrem Oberkörper hatte sie stumpfe Verletzungen im Rippenbereich, was ein Grund zur Besorgnis war. Die Prellungen beeinträchtigten ihre Atmung, konnten zu Blutungen oder einem Blutsturz führen und im schlimmsten Fall zu einem vollkommenen Versagen der Lungenfunktion. Die Ärzte wollten eine Computertomografie und Röntgenaufnahmen von ihrem Kopf und Brustkasten machen, um das Ausmaß der Verletzungen feststellen zu können. Ein paar Tage würde sie im Krankenhaus bleiben müssen. Der Doktor hatte die verschiedenen Tests und Untersuchungen in Auftrag gegeben, und sobald sie etwas Genaueres wüssten, wollten sie sich mit Cash in Verbindung setzen.
Cash teilte dem Arzt entschlossen mit, dass er nirgendwohin gehen würde, sondern so lange wie nötig im Wartezimmer bleiben würde. Der Doktor wollte wissen, ob er mit ihr verwandt sei. Falls er die Frage verneinte, verboten sie ihm möglicherweise, sie zu sehen. Das musste er um Rorys willen verhindern.
“Ich bin ihr Verlobter”, sagte Cash ruhig und blieb damit bei der Geschichte, die er bereits den FBI-Agenten aufgetischt hatte. Er setzte hinzu: “Sie war früher mal Model. Inzwischen ist sie Filmschauspielerin und macht gerade ihren zweiten Film. Ihr erster hatte im vergangenen November Premiere und war ein großer Erfolg. Ihr Gesicht ist ihr Kapital”, setzte er ernst hinzu.
“Ich werde dafür sorgen, dass sofort ein Gesichtschirurg hinzugezogen wird. Wir müssen die Schnittwunden säubern und nähen und sterile Tücher auflegen, um Infektionen zu vermeiden. Aber nach allem, was ich bisher gesehen habe, kann ich Ihnen jetzt schon versichern, dass sie keine schweren Verletzungen im Gesicht hat. Ihre Lunge macht uns im Moment am meisten Sorge”, fuhr er mit leiserer Stimme fort. “Wir werden Sie auf dem Laufenden halten.”
“Danke”, erwiderte Cash ebenso leise.
“Keine Ursache”, entgegnete der Arzt lächelnd.
Rory stand immer noch bei den beiden FBI-Agenten. Cash erklärte ihnen, er sei für den Jungen verantwortlich, und ging mit ihm in die Cafeteria, wo er ihm einen Softdrink kaufte und erzählte, was er soeben erfahren hatte.
“Das gefällt mir”, sagte Rory nach einer Minute. “Dass du ehrlich mit mir bist”, setzte er hinzu, als er Cashs fragenden Blick bemerkte.
“Es würde mir nicht im Traum einfallen, dich anzulügen”, erwiderte Cash.
Neugierig sah Rory ihn an. “Warum wolltest du eigentlich nicht mit mir sprechen, als ich dich in Texas angerufen habe?”
Cash fühlte sich unbehaglich. Er hasste diese Frage, weil sie ihn an seine engstirnige Reaktion erinnerte. “Einer meiner Beamten hat den Anruf nicht durchgestellt. Er glaubte, das hätte ich so gewollt”, log er. Im selben Augenblick verachtete er sich dafür.
“Tippy ist nicht so”, sagte Rory mit Überzeugung zu ihm. “Sie würde niemals ein Baby für ihre Karriere opfern, gleichgültig, wie reich oder berühmt sie werden könnte. Sie hat mir mal gesagt, dass Ruhm und Besitz niemals ein Ersatz für jemanden sein könnten, der dich liebt.”
Cash hätte es wissen müssen. Aber es fiel ihm nicht leicht, anderen zu vertrauen.
“Sie wird darüber hinwegkommen”, sagte Rory plötzlich. “Sie braucht nur etwas Zeit. Du … du bleibst doch, bis wir wissen, wie es mit ihr weitergeht?”
“Natürlich”, antwortete er geradeheraus.
Rory entspannte sich ein wenig. “Danke.”
Darauf erwiderte Cash nichts. Er machte sich Gedanken über Tippys kritischen Zustand. Was würden die nächsten Stunden wohl bringen? Darüber wagte Cash gar nicht genauer nachzudenken.
Rory war in dem Krankenhausbett, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte, schließlich doch noch eingeschlafen, als der Arzt zu Cash kam und ihm die Untersuchungsergebnisse mitteilte. Wie er vermutet hatte, war die Lunge schwer in Mitleidenschaft gezogen, und es hatte ein paar Blutungen gegeben. Sie hatten die Flüssigkeit abgesaugt und ihre Wunden genäht. Der Gesichtschirurg glaubte, dass sie gut verheilen würden, da weder Muskeln noch Nerven beschädigt worden waren. Jetzt mussten sie warten – ob der Zustand der Lunge sich verschlimmerte und wie sich die Gehirnerschütterung entwickelte. Für die Nacht war Tippy auf die Intensivstation verlegt worden, damit sie ständig unter Kontrolle war.
Cash wusste zu viel über Lungen- und Kopfverletzungen, als dass er sich keine Sorgen gemacht hätte. Auf der Intensivstation saß er gegen sämtliche Vorschriften neben ihrem Bett und hielt ihre Hand. Sie hatten ihr ein Schmerzmittel gegeben, und sie dämmerte im Halbschlaf vor sich hin. Zuerst schien sie ihn gar nicht zu erkennen.
Er würde nicht von ihrer Seite weichen. Hätte er ihr zugehört, anstatt sie zur Hölle zu wünschen, dann wäre sie jetzt nicht hier. Das wusste er. Und dieses Wissen bereitete ihm Schmerzen. Sie hätte sterben können. Es konnte immer noch passieren. Davon hatte er Rory vorsichtshalber nichts gesagt. Er schlief friedlich in einem Zimmer am anderen Ende des Korridors und war davon überzeugt, dass es seiner Schwester gut ging.
Cash dagegen fand überhaupt keinen Schlaf. Erst gegen Morgengrauen öffnete Tippy ihre grünen Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Umgebung wahrnahm. Sie jammerte und hustete, als sie Luft zu holen versuchte. Es tat höllisch weh. Sie tastete mit der Hand nach dem verletzten Brustkorb und stöhnte.
“Ganz ruhig”, sagte Cash sanft. “Bleib still liegen. Was möchtest du?”
Sie sah in seine besorgten Augen. Das musste ein Traum sein. Mit dem Anflug eines Lächelns murmelte sie: “Ich bin also gestorben”, und schlief wieder ein.
Er läutete nach der Schwester. Innerhalb kürzester Zeit war sie bei ihm. Sie lächelte, als sie seine Neuigkeiten hörte. Danach ging sie zum Stationsarzt, um weitere Instruktionen einzuholen.
“Das ist kein Traum”, flüsterte Cash über Tippys Stirn gebeugt und küsste sie liebevoll. “Ich bin hier, und du lebst. Gott sei Dank. Gott sei Dank!”
Sie glaubte, Cashs tiefe Stimme zu hören. Er klang verängstigt. Aber er hasste sie. Er konnte unmöglich bei ihr sein. Jemand hatte sie geschlagen, heftig und oft. Sie erinnerte sich, dass sie zum Schluss nur noch weinend um Gnade gebettelt und um ihr Leben gefleht hatte. Sie konnte nicht kämpfen. Es hätte nichts genützt. Sie wollte Cash, aber er verachtete sie. Sie hatte ihr gemeinsames Kind verloren. Er würde ihr niemals verzeihen. Das musste ein weiterer Traum sein.
Unter ihren geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor.
“… hasst mich”, wimmerte sie. “Er hasst mich.”
“Nein”, sagte er heiser. “Das tut er nicht.”
Unruhig bewegte sie den Kopf auf dem Kissen hin und her. “Lass mich in Ruhe”, brachte sie mühsam flüsternd hervor. “Es ist egal, was mit mir geschieht.”
“Ganz und gar nicht.”
Er klang verzweifelt. Jetzt träumte sie ganz gewiss. Er flehte sie an. Er wollte sie. Es tat ihm leid. Sie musste ihm vergeben. Sie musste weiterleben.
Moment mal – das konnten nur Halluzinationen sein. Er hatte ihr doch gesagt, sie solle sich zum Teufel scheren. Genau das hatte sie getan. Besser hätte man nicht beschreiben können, was ihr in diesem düsteren Lagerhaus zugestoßen war. Man hatte ihr die Rippen gequetscht, Wunden zugefügt, ihre Haut aufgeritzt. Die Zukunft erschien ihr wie eine undurchdringliche Nebelwand. Die Aussicht auf Arbeit konnte sie nicht ermutigen. Nicht einmal die Tatsache, dass sie Rory wiedersehen würde. Sie war so müde von den täglichen Kämpfen. Vor ihr lag nur noch unerträgliches Leid. Sie begann zu weinen und stöhnte erneut, weil es ihr Schmerzen in der Lunge bereitete. Genau in dem Augenblick, als die Krankenschwester eilig zurückkam, wurde ihre Stimme lauter.
Cash musste das Zimmer verlassen. Protestierend befolgte er die Aufforderung. Er machte sich die schlimmsten Vorwürfe. Es klang so, als habe sie jeglichen Lebenswillen verloren. Sie wollte aufgeben und sterben. Er durfte sie nicht gehen lassen!
“Das wird schon wieder”, versicherte ihm die Schwester in munterem Tonfall. “Ruhen Sie sich ein wenig aus. Wir kümmern uns schon um sie. Sie wird nicht sterben. Wirklich nicht. Das werden Sie bald sehen.”
Sie war eine erfahrene Frau, die sich mit allen Arten von Verletzungen auskannte. Als sie in den gequälten Blick seiner dunklen Augen sah, entdeckte sie mehr darin, als ihm lieb war.
“Sie wird nicht aufgeben”, fuhr die Schwester gelassen fort. “Dafür werde ich schon sorgen, das verspreche ich Ihnen. Sie haben noch genug Zeit, um alles wiedergutzumachen.” Sie ließ seine Hand los und lächelte ihm zu. “Sie sollten versuchen, ein bisschen zu schlafen. Ihr wird es bald wieder besser gehen. Wir lassen sie nicht aus den Augen. Einverstanden?”
Er spürte einen Hauch von Erleichterung. Er war so schrecklich müde. Und er hatte solche Angst …
“Einverstanden”, sagte er nach einer Minute.
Sie führte ihn in den Warteraum und drückte ihn sanft in einen Sessel. “Ich komme zu Ihnen, wenn wir sie ins Zimmer gebracht und versorgt haben.”
“Sie bringen sie schon von der Intensivstation?”, fragte er verdutzt.
“Natürlich”, antwortete sie mit einem vergnügten Lächeln. “Rekonvaleszenten haben dort nichts zu suchen.”
Damit drehte sie sich um und verließ den Raum. So bekam sie nicht mit, dass seine Augen feucht wurden. Sie würde leben. Selbst wenn sie ihn hasste, sie würde weiterleben. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück. Ein paar Sekunden später schlief er tief und fest.