4. KAPITEL
“Du kennst mich noch nicht”, erwiderte Cash ruhig. “Aber du weißt hoffentlich, dass ich alles für dich und Rory tun würde. Du musst mich nur anrufen.”
Sie musterte ihn nachdenklich. “Es wäre nicht fair, dich da hineinzuziehen”, begann sie.
“Ich habe keine Angehörigen”, sagte er rau. “Niemanden auf der ganzen Welt.”
“Das stimmt doch nicht”, protestierte sie. “Ich meine, du hast mir doch von deinen Brüdern erzählt und dass dein Vater noch lebt …”
Seine Gesichtszüge verhärteten sich. “In den letzten Jahren habe ich außer Garon, meinen ältesten Bruder, keinen der anderen gesehen”, antwortete er. “Mein Vater und ich sprechen nicht mehr miteinander.”
“Und wie ist es mit deinen anderen Brüdern?”, fragte sie leise.
Seine Augen blickten düster. “Nur Garon”, wiederholte er. “Vor ein paar Wochen ist er noch bei mir gewesen. Er hat mir erzählt, dass sie das Kriegsbeil gern begraben würden.”
“Also redet ihr wenigstens miteinander.”
“Man kann es so bezeichnen.”
Über ihrer Nasenwurzel bildete sich eine Falte. “Du vergibst den Menschen nicht, stimmt’s?”
Er vermied es, sie anzusehen. Er beantwortete auch nicht ihre Frage. Stattdessen tat er so, als interessiere er sich für das Skelett, vor dem sie standen.
“Deine Mutter muss eine ganz besondere Frau gewesen sein”, versuchte sie es erneut.
“Sie war still und freundlich und Fremden gegenüber sehr zurückhaltend. Sie liebte Handarbeiten – Quilts nähen, Häkeln und Stricken.” Er klang, als müsste er sich jedes einzelne Wort mühsam abringen. “Sie war keine Schönheit, auch keine aufregende Person. Mein Vater hat das junge Model bei einer Viehauktion kennengelernt, wo sie bei einer Modenschau mitwirkte, die dort gedreht wurde. Er war total verrückt nach ihr. Meine Mutter konnte da nicht mithalten. Er behandelte sie grausam, weil sie ihm im Weg war. Als sie erfuhr, dass sie Krebs hatte, hat sie es niemandem erzählt. Sie hat einfach aufgegeben.” Er schloss die Augen. “Ich war die ganze Zeit bei ihr im Krankenhaus. Ich bin nicht einmal mehr in die Schule gegangen, und mein Vater hat irgendwann auch aufgehört, mich dazu zu überreden. Ich habe ihre Hand gehalten, als sie gestorben ist. Ich war damals neun Jahre alt.”
Mit einem Mal waren ihr die anderen Besucher rings um sie herum gleichgültig. Sie drehte sich um, legte die Arme um ihn und drückte ihn an sich. “Erzähl weiter”, flüsterte sie, den Mund an seinen Hals gepresst. “Erzähl’s mir.”
Er verachtete sich für seine Schwäche. Er hasste dieses Gefühl. Trotzdem umschlang er ihren schlanken Körper. Ihrem Angebot, ihn zu trösten, konnte er nicht widerstehen. Er hatte es so lange für sich behalten …
Er stieß einen Seufzer aus, und sein Atem strich heftig und warm an ihrem Ohr vorbei. “Zur Beerdigung meiner Mutter brachte er seine Geliebte mit”, fuhr er mit kalter Stimme fort. “Sie hasste mich, und ich hasste sie. Sie hatte es geschafft, zwei meiner drei Brüder auf ihre Seite zu ziehen. Sie waren ganz verrückt nach ihr und sauer auf mich, weil ich sie nicht an mich heranlassen wollte. Ich habe sie von Anfang an durchschaut. Ich wusste, dass sie nur hinter Dads Geld und Besitz her war. Um es mir heimzuzahlen, hat sie alle Sachen meiner Mutter aus dem Haus gebracht und meinem Vater erzählt, ich hätte sie beschimpft und wollte ihn dazu überreden, sich von ihr zu trennen.”
Er holte tief Luft. “Was dabei herauskommen würde, war natürlich klar, aber ich hab’s damals nicht vorausgesehen. Er schickte mich auf eine Kadettenschule und ließ mich nicht einmal in den Ferien nach Hause kommen. Ich sollte mich erst bei ihr für mein schlechtes Benehmen entschuldigen.” Er stieß ein freudloses Lachen aus. Er hielt sie jetzt so fest im Arm, dass es sie schmerzte, aber sie protestierte nicht dagegen. “Ehe ich ging, habe ich ihm gesagt, dass ich ihn bis an mein Lebensende hassen würde. Seitdem habe ich das Haus nicht mehr betreten.”
“Irgendwann hat er sie doch bestimmt ebenfalls durchschaut”, mutmaßte sie.
Er lockerte seinen Griff ein wenig. “Als ich zwölf war”, antwortete er, “hat er sie mit einem seiner Freunde im Bett erwischt und auf die Straße gesetzt. Sie verklagte ihn, um so viel wie möglich aus ihm herauszupressen. Damals hat sie ihm erzählt, dass sie ihn angelogen hatte, was mich anbetraf, um mich aus dem Haus zu bekommen. Dabei hat sie ihm ins Gesicht gelacht. Sie wollte ihm unbedingt eins auswischen. Den Prozess hat sie verloren, aber sie hatte seinen ältesten Sohn auf dem Gewissen.”
“Woher weißt du das alles?”
“Er hat mir einen Brief geschrieben, nachdem ich mich weigerte, seine Telefonanrufe zu beantworten. Er sagte, es täte ihm leid und er wollte, dass ich zurückkäme, weil er mich vermisste.”
“Aber du wolltest nicht zu ihm zurückgehen”, sagte sie mehr zu sich als zu ihm.
“Nein. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm niemals verzeihen würde, was er meiner Mutter angetan hatte und dass er nie wieder versuchen sollte, mit mir in Verbindung zu treten. Ich habe ihm auch gesagt, wenn er nicht mehr für meinen Schulbesuch bezahlen wollte, würde ich mir mein Geld selbst verdienen, aber niemals mehr mit ihm unter einem Dach wohnen.” Er schloss die Augen. Die Erinnerung an den Schmerz, den Kummer und die Wut, die er an jenem Tag empfunden hatte, waren auf einmal wieder gegenwärtig. “Deshalb bin ich in der Kadettenanstalt geblieben, bekam gute Noten, wurde versetzt. Bei der Abschlussfeier soll er im Publikum gewesen sein, sagte man mir. Ich habe ihn aber nicht gesehen.
Danach bin ich sofort in die Armee eingetreten und von einer Spezialeinheit zur nächsten gegangen. Manchmal habe ich auch Aufträge in Absprache mit anderen Regierungen übernommen. Nach dem Militärdienst war ich freiberuflich tätig. Ich hatte nichts, für das es sich zu leben lohnte, und auch nichts zu verlieren. So bin ich reich geworden.” Sein Oberkörper verspannte sich. “Damals schien ich auch niemanden zu brauchen. Ich war knallhart. Ist schon komisch – man sagt dir erst, dass es Sachen gibt, mit denen man nicht leben kann, wenn du sie schon längst getan hast.”
Mit einer zärtlichen Geste streichelte sie über seine vernarbte Wange und folgte mit der Fingerspitze den Einkerbungen in der Haut. “Du bist immer noch dort”, sagte sie ruhig, und ihre Augen flackerten verdächtig, als sie in seine sah. “Du bist ein Gefangener deiner Vergangenheit. Du kannst ihr nicht entkommen, weil du den Schmerz, den Hass und die Bitterkeit nicht vergessen kannst.”
“Kannst du das denn?”, fragte er in scharfem Tonfall. “Kannst du deinem Peiniger vergeben?”
Sie seufzte leise. “Noch nicht”, gab sie zu, “aber ich habe es versucht. Zumindest habe ich gelernt, die Ereignisse zu verdrängen. Es gab eine Zeit, da habe ich die ganze Welt gehasst. Als Rory dann zu mir gekommen ist, habe ich erkannt, dass er an erster Stelle stehen muss und dass ich nicht länger in der Vergangenheit leben durfte. Ich habe es noch nicht ganz verwunden, aber es ist nicht mehr so eine Belastung wie früher, als ich jünger war.”
Mit der Spitze seines Zeigefingers fuhr er über ihre Augenbraue. “Ich habe noch nie zuvor mit jemandem darüber so offen gesprochen.”
“Ich schweige wie ein Grab”, antwortete sie sanft. “Bei der Arbeit bin ich die Vertraute von allen.”
“Genau wie ich”, gestand er mit einem schwachen Lächeln. “Ich sage den Leuten immer, dass die Regierung stürzen würde, wenn ich mit meinem Wissen hausieren ginge. Na ja, vielleicht würde sie das ja wirklich.”
“Meine Geheimnisse sind nicht so wichtig. Geht’s dir jetzt besser?”, fragte sie lächelnd.
Er seufzte. “Ja, tatsächlich”, antwortete er dann überrascht. Er lachte leise. “Vielleicht bist du ja eine Hexe, die mich verzaubert hat”, scherzte er.
“Ein Onkel von mir behauptete, unsere Familie stamme von den Druiden in Irland ab. Es war derselbe, der auch immer behauptet hat, einige unserer Verwandten wären Priester und einer ein Pferdedieb gewesen.” Sie lachte. “Er hasste meine Mutter und versuchte, das Sorgerecht für mich zu bekommen, als ich zehn war. Im selben Jahr ist er an einem Herzinfarkt gestorben.”
“Das ist wirklich Pech.”
“Mein ganzes Leben war eine lange Pechsträhne”, antwortete sie. “Fast wie deines. Wir haben beide Kriege mitgemacht und überlebt.”
“Aber du musst nicht mit meinen Erinnerungen leben”, meinte er leise.
“Schlechte Erinnerungen sind wie Geschwüre”, philosophierte sie nur halb im Scherz. “Sie werden immer schlimmer, bis man sie aufbricht.”
“Meine nicht, Honey.”
Ihre Augen wurden weit vor Staunen. Sie war beeindruckt von dem Kosewort, das eine ganz neue Bedeutung erhielt, wenn er es mit seiner tiefen, weichen Stimme aussprach. Ihre Wangen röteten sich ein wenig. Seltsam. Normalerweise hasste sie diesen Ausdruck, wenn ihre Möchtegern-Liebhaber es in den Mund nahmen, weil sie es als Waffe gegen ihre Weiblichkeit benutzten.
Er hob eine Augenbraue und sah sie verschmitzt an. “Das gefällt dir, was?”, fragte er gedehnt. “Weil du weißt, dass ich solche Ausdrücke grundsätzlich nicht benutze, nicht wahr?”
Sie nickte. “Ich weiß einiges von dir, das ich besser nicht wüsste.”
Er hob den Kopf und musterte sie von oben herab. “In Jacobsville habe ich nur geglaubt, dass du gefährlich bist. Jetzt weiß ich, dass du es wirklich bist.”
Sie lächelte verschmitzt. “Gut, dass du’s gemerkt hast.”
Lachend ließ er die Hand fallen. “Lass uns gehen. Sonst hält man uns nachher auch noch für ein Ausstellungsstück.” Er hielt ihr seine Hand hin.
Sie legte den Kopf schräg. “Ist das der einzige Körperteil, den du mir anbietest?”, fragte sie. Als ihr bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte, wurde sie knallrot.
Er brach in schallendes Gelächter aus und verschränkte seine Finger mit ihren. “Werde bloß nicht ungeduldig”, ermahnte er sie scherzhaft. “Wir haben uns ja noch nicht einmal richtig geküsst.”
Sie räusperte sich. “Mach dir bloß nicht zu viele Hoffnungen. Ich bin nämlich ein sehr prüdes Mädchen.”
“In meiner Gesellschaft wird dieser Zustand nicht lange andauern.”
“So was nenne ich Einbildung.”
Er senkte die Stimme, als er näher kam. “Nicht mehr, wenn du mich erst mal in Aktion erlebst”, neckte er sie, und seine Finger packten fester zu.
“Du bist unglaublich bescheiden”, frotzelte sie.
“Ein Mann mit meinen Talenten kommt ohne Bescheidenheit aus”, murmelte er schelmisch.
Sie hätte es niemals zugegeben, aber die Aussicht ließ ihr den Atem stocken. Er sah es ihrer Miene an. Sein Lächeln wurde breiter.
Sie aßen in einem japanischen Restaurant zu Mittag. Tippy und Rory hörten fasziniert zu, als er sich fließend auf Japanisch mit dem Kellner unterhielt. Außerdem wusste er sehr geschickt mit Essstäbchen umzugehen.
“Ich wusste gar nicht, dass du Japanisch sprichst”, rief Tippy aus. “Bist du mal in Japan gewesen?”
“Mehrmals”, antwortete er, während er mit den Stäbchen höchst gekonnt ein Stück Huhn zum Mund führte. “Mir gefällt es dort ausgezeichnet.”
“Beherrschst du auch noch andere Sprachen?”, wollte Rory wissen.
“Etwa sechs”, erwiderte er kurz. Er lächelte über den bewundernden Blick des Jungen. “Wenn du jemals zum Geheimdienst willst, kommst du mit Sprachen weiter als mit einem juristischen Examen.”
“Das stimmt nicht”, widersprach Tippy. Er wollte gerade etwas erwidern, doch sie fiel ihm ins Wort. “Du kriegst einen interessanten Job als Computertechniker, heiratest und gründest eine Familie.”
Rory warf ihr einen Blick zu. “Ich heirate, wenn du es tust.”
Cash konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
“Noch besser”, fügte er hinzu, “ich heirate, wenn er es tut.” Dabei zeigte er auf Cash.
“Auf diese Wette würde ich mich nicht einlassen”, riet Cash Tippy.
“Ich auch nicht”, pflichtete sie ihm bei.
Er sah sie neugierig an, aber er lächelte nicht. Tatsächlich hatte er Gefühle, die er noch nie zuvor in seinem Leben empfunden hatte, und das wurde ihm allmählich unheimlich. Diese Frau brachte es fertig, dass er Dinge wollte und brauchte, die er mehr fürchtete als Pistolenkugeln. Er sehnte sich danach, mit ihr ins Bett zu gehen, und es wurde immer offensichtlicher, dass sie ihm diesen Wunsch erfüllen würde. Die Aussichten ließen ihn schwindlig werden. Er stellte sich vor, wie er mit ihr auf einem weißen Laken lag, ihr wunderbarer Körper unter seinem, und ihre Beine schlangen sich um seine Hüften, während ihr Mund gierig Küsse von seinen Lippen sog. Sie hatte nie Sex gehabt, dem sie vorbehaltlos zugestimmt hätte, hatte sie ihm gestanden, aber er könnte ihr Lehrmeister sein. Er hatte eine Menge Erfahrung, kannte viele Techniken, und er konnte sie mit der unendlichen Vielfalt sinnlicher Freuden bekannt machen. Nichts hätte er lieber getan. Konnte sie es nicht sehen? Wusste sie es nicht?
In seiner Gegenwart strahlten ihre Augen. Sie mochte im Geiste noch unberührt sein, aber sie war klug genug, die Begierde im Gesicht eines Mannes und an seinem Körper zu sehen und zu spüren. Natürlich wusste sie darüber Bescheid. Er hatte das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein.
Er zwang sich, sie nicht anzuschauen, während er darüber nachdachte, was er als Nächstes tun sollte. Es war keine gute Idee gewesen, nach New York zu fahren, schalt er sich. Er musste verschwinden, solange es noch Zeit war.
Tippy war die Veränderung in seinem Verhalten nicht entgangen, und unvermittelt reagierte sie sehr sensibel auf wechselnde Nuancen in seinen markanten Gesichtszügen.
Sie zog sich ebenfalls zurück. War sie eben noch zuvorkommend und fröhlich gewesen, verhielt sie sich nun plötzlich genauso distanziert wie Cash.
Sie gingen zu Tippys Apartment zurück, wo ein Junge in Rorys Alter vor der Tür stand und ungeduldig läutete. Er drehte sich um, als die anderen näher kamen.
“Hallo, Rory. Meine Mom will uns in diesen neuen Fantasyfilm mitnehmen, und anschließend kannst du bei mir übernachten.” Er warf Tippy und Cash einen raschen Blick zu und verzog das Gesicht. “Wahrscheinlich willst du gar nicht mitkommen, wo ihr Besuch habt …”
“Oh nein, Don, Cash ist kein Besuch; er gehört zur Familie”, antwortete Rory ohne zu zögern. Vor lauter Begeisterung achtete er nicht auf Cashs Gesichtsausdruck. “Ich würde gerne mitkommen. Darf ich, Tippy?”
Don Hartley wohnte im Nachbarhaus, und seine Eltern wussten über Tippys Probleme mit ihrer Mutter Bescheid. Sie hatten stets ein wachsames Auge auf Rory.
Sie zögerte. “Nun ja …”, begann sie schließlich.
“Ich wette, dass Cash ganz wild darauf ist, dich in ein schickes Restaurant auszuführen. Nur ihr zwei ganz allein”, meinte er eifrig.
Cash musste lachen. “Wir könnten ins Ballett gehen”, schlug er vor. “Ich … äh … ich habe die Karten schon. Obwohl ich nicht wusste, ob du es sehen möchtest …”
“Ich liebe Ballett”, antwortete sie mit belegter Stimme. “Als ich klein war, wollte ich auch Tanzen lernen, aber … ich hatte nie die Möglichkeit.” Sie warf Don einen Blick zu. “Gut, er kann mit euch gehen. Aber zum Frühstück muss er zurück sein. Ich habe in diesen Ferien nämlich nicht viel von ihm, weil wir am Tag nach Neujahr mit den Dreharbeiten weitermachen.”
“Das ist doch nicht dein Ernst”, rief Cash.
“Doch. Der Produzent hat uns gesagt, dass der Regisseur im März in Europa mit seinem nächsten Film anfangen muss, und deshalb hat er’s eilig, mit diesem hier fertig zu werden.” Sie seufzte.
“Da kriegst du ja noch mehr blaue Flecken”, stöhnte Rory.
Sie zuckte mit den Schultern. “Was kann ich dagegen tun?”, fragte sie. Und mit einem verschmitzten Lächeln fügte sie hinzu: “Ich bin schließlich ein Star.”
Rory packte eine Tasche mit den Sachen, die er zum Übernachten benötigte, und verschwand nach nebenan. Cash ging in sein Hotel, um einen Anzug anzuziehen, während Tippy ihre gesamte Garderobe nach dem richtigen Kleid durchforstete. Als sie es endlich gefunden hatte, stand Cash schon wieder vor der Tür.
Bei seinem Anblick stockte ihr der Atem. In seiner Abendgarderobe – ein blütenweißes Hemd, dunkle Krawatte, makellos gebügelte Hosen und auf Hochglanz polierte Schuhe, in denen sich das Deckenlicht spiegelte – wirkte er umwerfend attraktiv. Sein pechschwarzes Haar glänzte. Er sah unverschämt gut aus.
“Du gehst also im Morgenmantel?”, fragte er ironisch.
Sie zog den Gürtel enger zusammen. “Ich bin auf der Suche nach etwas Passendem.”
Er warf einen Blick auf seine Uhr. “Du hast noch fünf Minuten Zeit”, teilte er ihr mit. “Ich habe im ‘Bull and Bear’ einen Tisch für sechs bestellt.”
Der Mund blieb ihr offen stehen. “Das ist doch eins der teuersten Restaurants in der Stadt …”
“Im Waldorf-Astoria”, beendete er den Satz für sie. “Ich weiß. Das Ballett fängt um acht an. Ich bin so weit. Wenn du nicht so …”, er deutete auf ihren knöchellangen, dunkelblauen Hausmantel, “… mitkommen willst, solltest du ein bisschen auf die Tube drücken.”
Als sie ins Schlafzimmer ging, ließ sie eine betörende Duftwolke zurück.
Sie wählte ein schulterfreies weißes Samtkleid mit einer schwarzen Schleife und einen dazu passenden schwarzen Mantel mit einem weißen Besatz. Das Haar ließ sie lose über die Schultern fallen, und wie gewöhnlich hatte sie nur eine Spur von Make-up aufgelegt. Als Schmuck entschied sie sich für Diamantohrringe, eine Diamantkette und ein Diamantarmband. Ohne einen weiteren Blick in den Spiegel zu werfen, eilte sie zurück zu Cash.
Er studierte die Titel in ihrem Bücherregal. Als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, drehte er sich um und blieb wie vom Donner gerührt stehen.
Plötzlich war sie verunsichert. “Soll ich lieber etwas anderes anziehen?”, fragte sie nervös.
Er schaute sie mit seinen dunklen Augen an, ohne etwas zu sagen. “Ich habe mal in einer Galerie ein Bild gesehen”, murmelte er schließlich, während er langsam auf sie zuging. “Darauf war eine Fee, die lachend im Mondlicht tanzt. Du siehst genauso aus.”
“Trug sie auch ein Samtkleid?”, witzelte sie.
“Ich meine es durchaus ernst.” Er nahm ihr Gesicht in seine großen Hände. “Bis jetzt habe ich immer gedacht, sie sei das verführerischste Wesen, das mir jemals begegnen würde.” Sein Blick wanderte zu ihrem Mund. “Das haut mich um!”
Langsam beugte er sich zu ihr hinunter, und seine festen Lippen berührten zärtlich ihren weichen Mund. Dabei ging er ganz vorsichtig vor, um sie nicht zu verängstigen. Behutsam zog er sie an sich und spielte mit ihren Lippen, bis die Anspannung aus ihrem Körper wich und sie seinen Kuss erwiderte. Sie holte tief Luft und barg den Kopf an seinem breiten Brustkorb. Ihre Hände fuhren an seinem Rücken hinauf bis zu seinem Nacken. Sie fühlten sich kalt auf seiner Haut an.
Er hob den Kopf ein wenig an, sodass er in ihre blassgrünen Augen schauen konnte. Ihr war beklommen zumute. Aber sie machte keine Anstalten, sich von ihm zu lösen. Im Gegenteil – ihre Augen funkelten vor Sehnsucht.
“Ich werde dir nicht wehtun”, versprach er leise.
“Vor dir habe ich keine Angst”, erwiderte sie etwas außer Atem.
“Bist du sicher?”, fragte er, ohne seinen Mund von ihren Lippen zu nehmen, die er mit kleinen, raschen Küssen bedeckte, was auf beide eine ungeahnte Wirkung hatte. Unvermittelt packte er sie bei den Hüften und presste sie fest gegen seinen muskulösen Körper. Ihr stockte der Atem, als sie die heiße Welle der Begierde spürte, die bei dieser intimen Berührung durch ihre Adern schoss.
Sein Griff wurde fester und sein Mund fordernder. “Möchtest du ihn in dir spüren?”, wisperte er ihr ins Ohr.
“Cash!” Sie versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu befreien und verspürte ein wenig Furcht, als es ihr nicht sofort gelang.
Er merkte es endlich und lockerte seinen Griff. “Tut mir leid”, sagte er knapp.
Regungslos blieb sie stehen und schaute ihm in die Augen. “Mir auch. Ich habe vergessen, dass Männer … die Kontrolle verlieren”, flüsterte sie.
“Ich nicht”, erwiderte er kurz angebunden. “Niemals. Bis jetzt.”
Sie sah ihn mit großen Augen hingerissen an. Sein freimütiges Geständnis hätte sie beunruhigen sollen. Aber es hatte den entgegengesetzten Effekt. Er war sich nicht bewusst, dass er dadurch in ihren Augen verletzlicher wurde. Mit einem tiefen Seufzer verjagte sie das Gefühl von Furcht.
“Das ist schon in Ordnung”, flüsterte sie und zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. “Ich habe keine Angst mehr.”
Seine Finger fuhren die zarten Rundungen ihres Kinns entlang, wanderten weiter zu ihrem Mund und spielten mit ihren weichen Lippen. Er war ein Forscher auf der Suche nach unbekanntem Territorium, ein Künstler, der sein Modell erkundete, und jede seiner Liebkosungen wurde zur köstlichen Qual.
Ihr Körper erbebte, als sein Arm sie näher an sich zog. Sie hob den Mund und schloss die Augen – für ihn eine unmissverständliche Einladung.
“Du schmeckst wie Zuckerwatte”, sagte er, während sein warmer Atem ihre Haut streifte und seine Lippen sich auf ihre pressten. “Ich möchte dich am liebsten auffressen …”
Sie kostete seinen kosenden, neckenden, suchenden Mund, der gleichzeitig weich und hart war. Sie vertraute ihm blind, schmiegte sich an ihn wie ein Vogel, der in der Geborgenheit seines Nestes Schutz suchte, und genoss seine Nähe. Er stellte keine Bedrohung dar. Er machte ihr keine Angst. Im Gegenteil – sie liebte die Berührung seines Körpers, den frischen, belebenden Duft seines Aftershaves. Ihr gefiel die Art, wie er sie festhielt – ausgesprochen zärtlich, aber auch kraftvoll und vertrauenerweckend.
Sie spürte ihre Knie weich werden, während kleine lustvolle Wellen ihr Rückgrat entlangjagten. Ein wenig zögernd drängte sie sich an ihn, während sie die Hände in seinem Nacken verschränkte. Dabei stellte sie sich unwillkürlich auf die Zehenspitzen, um ihm noch näher sein zu können. Sie hätte sterben können vor Begierde.
Er spürte ihre Reaktionen und schaute in ihre fragenden Augen. “Du willst mich. Ich weiß es, aber ich werde dich nicht überrumpeln. Bei mir bist du sicher”, sagte er. “Du kannst dich ruhig gehen lassen. Ich werde dir nicht wehtun, und ich werde dich zu nichts überreden. Einverstanden?”
Noch immer war sie unsicher. Trotzdem nickte sie unmerklich und schloss die Augen.
Ihr Vertrauen in ihn ließ ihn ganz schwach werden. Er wusste genau, wie schwer es ihr fallen musste, die Kontrolle über ihren Körper einem Mann zu überlassen, nach allem, was sie in ihrer Jugend durchgemacht hatte. Er musste sich zusammenreißen, um seine eigene Lust im Zaum zu halten. Er wollte zärtlich zu ihr sein. Er wollte ihr ein solches Vergnügen bereiten, dass sie keinen anderen Mann mehr auch nur würde anschauen wollen, solange sie lebte …!
Wieder fuhr er sanft mit seinen Lippen über ihren Mund. Er achtete auf ihre Reaktionen, ließ sich von ihnen leiten, hielt sich zurück, wenn sie sich versteifte, wurde drängender, wenn sie ihm entgegenkam. Ihre sehnsuchtsvolle Begierde wuchs von Sekunde zu Sekunde.
Sie stöhnte leise, als er sanft an ihren Lippen knabberte, und ihr Körper drängte sich ihm voller Leidenschaft entgegen. Er spürte, wie ihre Lust durch seine Berührungen angefacht und ins schier Unermessliche gesteigert wurde.
Ja, dachte er erhitzt, sie will mich. Obwohl sie sich dessen noch gar nicht wirklich bewusst ist. Er schlang die Arme um sie und hob sie empor, während seine Küsse immer leidenschaftlicher wurden.
Sie schauderte, als sie sein pulsierendes Begehren spürte. Sein Mund wurde immer besitzergreifender, und sein Körper straffte sich. Sie hörte sein heiseres Stöhnen, als er den Druck seiner Arme noch verstärkte.
Eigentlich hätte sie Furcht empfinden müssen. Möglicherweise verlor er bei anderen Frauen nicht die Kontrolle. Bei ihr dagegen hatte er sich sofort gehen lassen. Sie war geschmeichelt, dass sie solche Begierde in ihm weckte. Benommen erinnerte sie sich daran, dass er ihr gesagt hatte, er habe schon lange keine Frau mehr gehabt. Er war hungrig, und sie war offensichtlich bereit. Was wäre, wenn er nicht aufhören wollte? Was, wenn er gar nicht aufhören konnte?
Er spürte, dass ihre Leidenschaft nachließ, und er löste sich sofort von ihr. Er hob den Kopf und schaute sie an. Sein Gesicht war ausdruckslos. Nur in seinen dunklen Augen blitzte es geheimnisvoll.
Sie schluckte schwer. “Ich wollte es nur mal ausprobieren”, brachte sie mühsam hervor.
“Um zu sehen, ob ich auch wirklich aufhören kann?”, fragte er lächelnd.
Verlegen nickte sie. Mit der Fingerspitze zeichnete er ihre vollen Lippen nach. “Du bist ganz anders, als ich erwartet habe.”
“Genau wie du.” Einen Moment lang barg sie ihr Gesicht an seiner Brust, als sie sich an seine unverblümte Frage erinnerte, die er ihr vor wenigen Minuten gestellt hatte. Allein der Gedanke daran erregte sie. Sie stellte sich vor, wie es wäre, ihn tief in ihrem Körper zu haben, und schauderte vor Lust. Doch gerade als sie es ihm gestehen wollte, ließ er sie los.
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Nasenspitze. “Höchste Zeit zu gehen. Wir sind sowieso schon spät dran.”
Zögernd schaute sie zu ihm hoch. Sie fühlte sich erhitzt, erregt und hungrig. In ihrem Blick lag unbefriedigte Lust. “Wenn ich dich bitten würde …”
“Ja?”, fragte er erwartungsvoll.
Sie schluckte und zwang sich weiterzureden. “Wenn ich dich bitten würde, mit mir ins Bett zu gehen …”
Er legte seinen Daumen auf ihre roten Lippen. Seine Augen flackerten. “Ich möchte es. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich es möchte. Aber ich fange keine Sachen an, die ich nicht zu Ende bringen kann.”
“Aber ich könnte es zu Ende bringen”, entgegnete sie mit Nachdruck. “Ich könnte es – mit dir.”
Sein Körper reagierte darauf mit einem regelrechten Schaudern. Er schob sie von sich weg, denn er wagte es nicht, dieser Aufforderung nachzukommen. Er hätte ohnehin Prügel verdient für das, was er heute Abend bereits getan und gesagt hatte.
“Aber du tust es nicht. Nicht heute Abend. Ich habe dich zum Essen und ins Ballett eingeladen”, sagte er schroff, während er zur Tür ging. Er warf ihr einen strengen Blick zu. “Kommst du?”
Sie schämte sich wegen ihres überstürzten Angebots, dass sie ausgerechnet Cash Grier gemacht hatte. Sie war wütend auf ihn, weil er dieses Gefühl in ihr erzeugt hatte. Schließlich hatte er damit angefangen. Erst drängte er sich ihr auf, und dann, als sie bereit und erregt war, stieß er sie von sich. Warum benahm er sich so?
“Abendessen und Ballett”, pflichtete sie ihm kurz angebunden bei, schlang den Mantel fest um sich und knöpfte ihn bis zum Kinn zu. “Und mach dir keine Sorgen – ich werde dich im Auto schon nicht verführen.”
Er schaute sie an. “Vielen Dank. Ich habe nämlich schon das Schlimmste befürchtet.”
Wütend rauschte sie an ihm vorbei.
Sie nahmen ihr Essen zu sich, ohne zu wissen, was eigentlich auf ihrem Teller war. Tippy hatte deswegen ein schlechtes Gewissen, denn es schmeckte wirklich köstlich. Von dem eleganten Restaurant aus gingen sie ins Ballett, wo sie neben Cash saß und überhaupt nicht mitbekam, was auf der Bühne vor sich ging. Allein die farbenprächtigen Kostüme der Tänzer erregten ihre Aufmerksamkeit. Dabei erlebte sie ein Wechselbad der Gefühle – von zornig bis hochgestimmt. Und sie spürte eine brennende Begierde, die sie nie zurvor gekannt hatte. Ihr Verlangen nach ihm hatte sie blind gemacht. Am liebsten hätte sie ihm an Ort und Stelle die Kleider vom Leib gerissen. Wütend und gedemütigt von ihrer unerfüllten Sehnsucht, würdigte sie ihn während der ganzen Vorstellung keines Blickes.
Als könnte er ihre Gefühle ahnen, sagte er kein Wort, während sie nebeneinandersaßen, und vermied auch die geringste Berührung. Erst als sie das Theater verließen und zum Parkhaus gingen, nahm er ihren Arm, um sie über die Straße zu geleiten, aber er hatte den Eindruck, ein grobes Stück Holz anzufassen.
Er öffnete die Wagentür. Sie stieg ein und legte den Gurt an. Während er den Motor startete und aus der Parklücke fuhr, musterte er sie aus den Augenwinkeln. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr Angebot nicht akzeptiert hatte. Aber er war aufrichtig. Er hatte ihr nichts zu geben. Überhaupt nichts. Es wäre unfair gewesen, eine Situation auszunutzen, in die sie Hals über Kopf hineingetaumelt war. Es schmeichelte ihm natürlich, dass sie ihn so attraktiv fand, aber er traute der Sache nicht. Er traute ihr nicht. Er war immer noch erstaunt darüber, dass er seine dunkelsten Geheimnisse einer Frau anvertraut hatte, die genau genommen kaum mehr als eine entfernte Bekannte für ihn war. Obwohl sie sich ganz und gar nicht wie entfernte Bekannte verhielten. Sie gingen sehr ungezwungen miteinander um. Viel zu ungezwungen.
Er fädelte sich abrupt und ziemlich rücksichtslos in den fließenden Verkehr ein.
Seine Stimmung entging ihr nicht. Sie legte ihre Abendtasche auf den Schoß und betrachtete die Menschenmassen auf den Gehwegen, die flackernden Neonreklamen und die angestrahlten Plakate an den Fassaden.
“Bilde dir bloß nichts ein, Grier”, sagte sie schließlich barsch. “Ich bin davon überzeugt, dass es mindestens fünf oder sechs Männer auf diesem Planeten gibt, die so fantastisch sind, dass ich mich ihnen in aller Öffentlichkeit an den Hals werfen würde.”
Ein undefinierbarer, rauer Laut kam aus seiner Kehle.
Sie drehte sich nicht zu ihm, um nachzuschauen, ob es ein Lachen oder etwas anderes war. “Außerdem kann ich immer noch eine kalte Dusche nehmen oder einen Mannschaftssport betreiben …”
Der Wagen geriet aus der Spur, während er versuchte, sich über seine Gefühle Klarheit zu verschaffen. “Hörst du jetzt mal auf?”, befahl er ihr schließlich. “Wir wissen doch beide, dass du sofort anfängst zu schreien, wenn ich dich vorsätzlich anfassen würde.”
Sie zuckte zusammen. “Denkst du das wirklich?”
“Ich habe den größten Teil meines Lebens bei der Polizei und beim Militär verbracht”, sagte er, während er vor einer Kurve den Fuß vom Gaspedal nahm. “Ich weiß mehr über Vergewaltigungsopfer, als du dir vorstellen kannst.”
Sie erwiderte nichts, sondern sah ihn einige Momente lang erwartungsvoll an.
Er warf ihr einen Blick zu, als er um die Kurve gebogen war. “Du kannst die besten Absichten haben, aber es ist für dich bestimmt nicht einfach, mit einem Mann zusammen zu sein – selbst mit einem Mann, von dem du glaubst, dass du ihn willst. Genauso lagen die Dinge bei einem der schlimmsten Vergewaltigungsfälle, bei denen ich aussagen musste. Ein Mädchen, das vergewaltigt worden war, wollte mit seinem neuen Freund ins Bett. Dann auf einmal wollte sie doch nicht, aber er konnte nicht mehr aufhören.”
“Was ist denn passiert?”
“Sie begann zu schreien, und in dem Moment kamen ihre Eltern nach Hause. Sie ließen den Jungen festnehmen. Sie hat dann versucht, die Anzeige zurückzunehmen, aber es war zu spät. Weil es sein erstes Vergehen war, kam er auf Bewährung frei, aber er hat nie mehr ein Wort mit ihr gesprochen. Dabei liebte sie ihn wirklich. Es war ihr nur unmöglich, Sex mit ihm zu haben.”
Sie verschränkte fröstelnd die Arme über ihrem Mantel und schauderte.
“Verstehst du, was ich damit sagen will?”, fragte er barsch.
Sie nickte. Dann schaute sie wieder auf die vorbeifliegenden Schaufensterfronten.
Er presste die Lippen zusammen. “Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn ich die Kontrolle verlieren und dich zu etwas zwingen würde, verstehst du?”, gestand er schließlich in aller Öffentlichkeit.
Sie holte tief Luft. “Aber ich hab’s dir doch angeboten”, sagte sie mit belegter Stimme.
Er musterte sie durchdringend. “Was bedeutet das schon, wenn du deswegen noch stärker verletzt wirst, als du es ohnehin schon bist?”
Ihr Zorn verrauchte zusehends, während sie ihn schweigend ansah. “Seitdem das passiert ist, habe ich einem anderen Mann gegenüber noch nie solche Gefühle gehabt”, gestand sie. “Ich fand Cullen sehr attraktiv, aber er mochte keine Frauen. Trotzdem war es bei ihm anders. Ich bin ganz wild auf dich”, sagte sie mit einem nervösen Lachen. “Mein ganzer Körper schmerzt. Es ist fast unerträglich. Ich kann nur noch daran denken, wie es wäre, die ganze Nacht mit dir zusammen zu sein.”
Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden, während er sich verzweifelt einzureden versuchte, dass diese Sache mit absoluter Sicherheit in einer Katastrophe enden würde.
“Aber wenn du nicht interessiert bist, dann ist es eben so. Ich glaube, du machst dir Sorgen wegen einer Heirat. Wenn das deine Meinung ändern könnte – ich habe nicht die Absicht, dir einen Antrag zu machen, egal, wie gut du im Bett bist”, versicherte sie ihm.
Unwillkürlich musste er lachen. “Du verstehst es nicht.”
“Du bist impotent”, vermutete sie.
Er starrte sie an. “Ich bin nicht impotent.”
“Du sparst dich für eine auf, von der du mir nichts erzählt hast?”, hakte sie nach.
“Verdammt!”
“Ich versuche doch nur, dir zu erklären, dass mir an deiner Mitarbeit bei einem wissenschaftlichen Projekt gelegen ist”, fuhr sie ungerührt fort.
“Bei was?”
“Bei einem wissenschaftlichen Projekt. Anatomie.” Sie grinste breit.
Er merkte, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Das war ganz und gar nicht gut. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, denn es war so gut wie sicher, dass sie ihren eigenen verlieren würde.
“Ich würde dich noch nicht einmal darum bitten, das Licht anzulassen.”
Er runzelte die Stirn. “Warum sollte ich die Lampen ausmachen wollen?”
“Nun ja, ein Mann in deinem Alter”, murmelte sie, während sie ihre lackierten Fingernägel betrachtete. “Ich meine, du hast doch sicher einen gewissen Stolz, wenn es um deinen Körper geht.” Sie sah ihn durch halb geschlossene Lider an.
Er spürte, wie er sich verspannte. Sie hatte ja keine Ahnung, wie sehr ihn diese Art von Unterhaltung erregte.
“Vielen Dank, aber mein Körper ist ganz in Ordnung.”
“Wenn das so ist, können wir das Licht ja auch brennen lassen.”
Er seufzte resigniert, als er in ihre Straße einbog und vor ihrem Haus parkte. Er ließ den Motor laufen, während er sie im Schein der Straßenlaternen grimmig betrachtete.
“Willst du es hier unten tun – bei laufendem Motor?”, flüsterte sie mit heiserer Stimme und sah sich um.
“Nein!”, fuhr er sie ruppig an.
“Sollten wir dann nicht besser nach oben gehen?”, schlug sie vor. “Ich kann zwar nicht sehen, ob die Nachbarn noch wach sind, aber die sind mittlerweile sowieso nicht mehr so leicht zu schockieren.”
Ihre Blicke trafen sich, während er versuchte, sich über die Konsequenzen klar zu werden. Aber sein Gehirn funktionierte nicht wie sonst. Sein Körper hinderte ihn daran, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Allein ihr Anblick in dem weißen Kleid, das ihre verführerischen Rundungen mehr preisgab als verbarg, verursachte ihm geradezu körperliche Schmerzen. Es war schon so lange her. Viel zu lange. Er war reif für eine zügellose Nacht. Allerdings nicht mit einer vergewaltigten Frau, die streng genommen noch unberührt war.
“Das ist deine letzte Chance”, sagte sie atemlos, während sich ihre Fingernägel in ihre Abendtasche krallten. Sie musste ihren ganzen Mut zusammen nehmen, um ein so ungeheuerliches Angebot machen zu können.
Er reagierte unwirsch. “Jetzt pass mal auf …”
Abwehrend hob sie die Hand. “Hör doch endlich mit deinen Ausflüchten auf”, schnitt sie ihm das Wort ab. “Es tut mir leid, aber es bringt nichts. Du möchtest nicht. Na gut. Das verstehe ich. Vielen Dank für das Essen und die Einladung ins Ballett. Ich weiß, es hat nicht so ausgesehen, aber es hat mir wirklich sehr viel Spaß gemacht.”
Sie öffnete die Tür und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. “Sehen wir uns morgen? Schließlich ist Heiligabend.”
Er runzelte die Stirn. “Ich weiß nicht.”
“Du bist herzlich eingeladen. Es gibt Truthahn mit allem Drum und Dran”, sagte sie.
Er war verwirrt und aufgebracht. Noch nie hatte er sich so hin- und hergerissen gefühlt. Andererseits hatte er sich noch nie so sehr nach einer Frau gesehnt. Trotzdem war er immer noch der Ansicht, dass sie die ganze Angelegenheit viel zu sehr auf die leichte Schulter nahm. Schließlich hatte sie sich noch nie wirklich mit ihrer schrecklichen Vergangenheit auseinandergesetzt.
“Hast du schon mal eine Therapie gemacht?”, fragte er unvermittelt.
“Du glaubst wirklich, ich brauche eine Therapie, nur weil ich dich gefragt habe, ob du mit mir schlafen willst?”, fragte sie ungläubig.
“Zum Teufel”, fuhr er sie an, “kannst du nicht einmal eine Minute ernst bleiben?”
“In den vergangenen Jahren bin ich die ganze Zeit ernst gewesen, aber es hat mich keinen Schritt weitergebracht.”
“Du brauchst Hilfe”, beharrte er.
Sie funkelte ihn an. “Ich brauche keine Hilfe. Alles, was ich brauche … ach, vergiss es. Es interessiert dich ja sowie nicht.”
“Du hast deine Vergangenheit noch nicht verarbeitet”, sagte er steif.
“Das stimmt nicht. Auch wenn du anderer Meinung bist, kann ich sehr gut mit ihr leben. Kannst du das auch?”
Wütend drehte sie sich um und stieg die Stufen empor. Das Blut rauschte ihr durch die Adern, und sie glaubte, jeden Moment zu explodieren. Es war ein Gefühl, das sie ebenso wenig kontrollieren konnte wie ihr unbefriedigtes Verlangen. Er hielt sie offenbar für unfähig, wie eine Frau zu empfinden. Sie wusste, dass sie es konnte – jedenfalls mit ihm. Aber wenn er ihr nicht glaubte, hatte es wenig Zweck, ihn davon überzeugen zu wollen.
Bevor sie die Haustür aufschloss, drehte sie sich verstohlen um. Der Motor lief, die Scheiben waren geschlossen, aber er hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Seine Miene war grimmig.
Sie winkte ihm zu und trat ins Haus. Noch nie war ihr eine so einfache Aktion so schwer gefallen. Sie wusste, dass sie ihn möglicherweise nicht wiedersah. Ironischerweise hatte sie die Wahrheit gesagt. Ihr Körper bebte vor Verlangen. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Jeder andere Mann hätte sie ins Schlafzimmer geführt, noch ehe sie ihre Einladung ausgesprochen hätte. Und ausgerechnet der Mann, der ihr so viel bedeutete, machte sich zu viele Gedanken um ihre Komplexe, als dass er eine eindeutige Aufforderung akzeptiert hätte.