50
Der Regen und das ständige Zwitschern der Vögel fingen an, Konstantin auf die Nerven zu gehen. Er wünschte sich nichts sehnlicher als Stille. Eine geschlagene Stunde wartete er nun schon voller Ungeduld und fuhr bei jedem Knacken hoch, weil er hoffte, es wäre Paulina. Irgendwie glaubte er nicht mehr so recht daran, dass sie tatsächlich kommen würde, aber er hatte die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Wenn sie käme, würde alles gut sein, weil sie dann zusammen sein würden, und wenn sie nicht käme … Was würde er dann tun?
Ich kann lesen, schreiben und zeichnen und ich kann gut rechnen, dachte er. Ich werde irgendwo weit weg Arbeit finden, vielleicht sogar in Amerika. Ich werde eine neue Sprache lernen und mein Glück machen. Eines Tages werde ich zurückkommen und auf einem großen Pferd ins Lager einreiten. Ich werde ein Schwert und ein Gewehr tragen und von Männern begleitet sein, die ich angeheuert habe. Dann werde ich zu Dimitri Sakoljew sagen: »Ich komme aus Amerika, um Paulina zu holen!« Ich werde diesen Satz auf Englisch sagen und wenn er ihn nicht versteht, dann hat er eben Pech gehabt.
In diesem Moment prasselte ein neuer Regenschauer nieder und trotz des donnernden Wasserfalls glaubte Konstantin, sich nähernde Schritte zu hören.
Überglücklich darüber, dass Paulina nun doch gekommen war, kroch er aus dem Gebüsch heraus - aber statt Paulina sah er Ataman Sakoljew nur drei Meter entfernt vor ihm stehen.
 
Eine Welle der Panik durchflutete Konstantin, die von dem Impuls wegzulaufen gefolgt wurde. Aber ein solcher Versuch wäre nutzlos gewesen, denn Sakoljew hätte ihn sofort eingeholt. Also stand er wie erstarrt da und wartete, was nun passieren würde.
Sakoljew machte keine Anstalten, sich ihm zu nähern. Der Ataman schien ganz entspannt zu sein; ja, er wirkte sogar freundlich. Konstantin sah sich um, aber der Ataman war allem Anschein nach allein gekommen. Was er dann mit leiser Stimme zu Konstantin sagte, war etwas, das dieser nie erwartet hatte. Der Ataman ignorierte den fallenden Regen völlig, der beide bis auf die Haut durchnässte, und sagte: »Ich weiß schon seit geraumer Zeit, dass du in meine Tochter verliebt bist, Konstantin. Und ich bin mir sicher, dass sie dich ebenfalls liebt. Und warum auch nicht? Du bist ein helles Köpfchen und hast einen guten Charakter.«
Sakoljew lächelte milde und sprach weiter: »Es mag dir merkwürdig vorkommen, dass ich gerade jetzt zu dir komme, aber die Situation wird für uns alle nicht leichter und ich habe lange über eine Lösung nachgedacht. Du weißt doch hoffentlich, dass ich dich immer gemocht habe, Konstantin.«
Mit diesen Worten setzte sich Sakoljew auf einen Felsen und bedeutete Konstantin, sich neben ihn zu setzen. Dann fuhr er fort: »Ich gehe davon aus, dass Paulina bald heiraten wird. Und ich will nicht, dass sie einen meiner Männer heiratet. Genauso wenig will ich, dass sie von einem zum anderen herumgereicht wird. Die beste Lösung wäre also, wenn ihr beide heiratet. Aber du und ich wir sollten uns über eines im Klaren sein …«
Konstantin traute seinen Ohren nicht. Natürlich war er misstrauisch, aber was der Ataman sagte, machte Sinn, und außerdem hörte er sich aufrichtig an. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder sagte der Ataman die Wahrheit, dann war er im Moment sicher und sein Leben würde sich von nun an bessern, oder aber der Ataman log, dann war er in höchster Gefahr. Aber wenn er das Angebot zurückwies - ganz gleich ob es nun ernst gemeint war oder nicht - und weglief, dann würde er mit Sicherheit nicht mehr lange leben.
Misstrauisch näherte er sich dem Felsen, auf den Vater Dimitri einladend mit der flachen Hand schlug. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Als er sich setzte, lächelte Sakoljew wieder und legte eine Hand auf Konstantins Schulter. Dann sagte er in einem Ton anscheinend echter Zuneigung: »Wie sehr du doch gewachsen bist, Konstantin. Und doch siehst du immer noch so jung aus wie Paulina.«
Konstantin riskierte ein vorsichtiges Lächeln. Da er nichts lieber wollte, als Vater Dimitri Glauben zu schenken, kam er nicht einmal auf den Gedanken, sich drei einfache Fragen zu stellen. Erstens: Wenn Vater Dimitri tatsächlich das Glück seiner Tochter so sehr am Herzen lag, warum ließ er sie dann zu einer Kämpferin und Mörderin ausbilden? Zweitens und wichtiger: Woher wusste der Ataman, dass er hier war? Und drittens: Wo war Paulina?
 
Sergej hatte die Fährte verloren, aber er ritt dennoch weiter das Flussbett entlang, bis er an den Rand des Wasserfalls kam. Dort fand er einen Pfad, der nicht von Tieren, sondern von Menschen stammen musste. Er pflockte Paestka an, damit das Pferd sich an dem saftigen Gras gütlich tun konnte, dann strich er sich das regennasse Haar aus dem Gesicht und schlich vorsichtig den schmalen Pfad entlang.
Plötzlich hörte er trotz des Geräusches des Wasserfalls Stimmen.
 
Paulina humpelte so schnell sie nur konnte, aber mehr als einmal gab ihr schmerzendes Bein nach und sie fiel hin. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das traurige Gesicht von Konstantin. Er wartete auf sie und wenn sie bei ihm angekommen war, würde alles gut sein. Sie kämpfte sich weiter durch den Schlamm und blickte angestrengt voraus. Als sie noch etwa zwanzig Meter vom Bach entfernt war, konnte sie zwei Gestalten ausmachen, die auf der anderen Seite des Baches auf einem Felsen saßen und sich anscheinend unterhielten.
Sie hielt an und starrte ungläubig auf die Szene. Die eine Gestalt war die von Konstantin, die andere die ihres Vaters. Die beiden standen plötzlich auf, als ein dritter Mann auftauchte.
Als Sergej aus dem Wald trat, kam ihm die ganze Szene völlig irreal vor. Und aus Sakoljews Gesichtsausdruck war zu schließen, dass auch dieser nicht glauben konnte, was er sah. Er starrte Sergej an wie einen Geist. Dann verwandelte sich sein Gesicht wieder in eine undurchdringliche Maske und er strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht.
Da Sergej Sakoljew seit Anjas Tod zum ersten Mal wiedersah, verkrampfte er sich unwillkürlich, aber dann atmete er tief aus und entspannte sich. Alle seine Sinne waren hellwach, als er mit den Augen die nähere Umgebung absuchte.
Anscheinend waren sie allein: Er selbst, Sakoljew und ein junger Mann in dem Alter, in dem sein Sohn jetzt sein sollte.
Sergej wandte sich Sakoljew zu und sagte kurz und knapp: »Ich bin gekommen, um meinen Sohn zu holen.«
Sakoljew seufzte, als ob er das Unvermeidbare akzeptiert hatte. Er wusste, dass die Stunde der Abrechnung gekommen war. »Sergej Iwanow«, sagte er und zwang sich zu einem freudlosen Lächeln. »So treffen wir uns also wieder. Und du sagst, du willst deinen Sohn holen? Und das alles, ohne mich vorher zu begrüßen? Aber ich will dir deine fehlenden Manieren nicht vorhalten. Wie es aussieht, hast du Glück. Hier steht dein Sohn. Sein Name ist Konstantin. Du kannst ihn gerne haben.«
Konstantin, der nicht fassen konnte, welche Wendung sein Leben plötzlich genommen hatte, wollte gerade etwas sagen, als Sakoljew ihm die Hand um den Hals legte.
Sergej sah das Blitzen des Messers in dem Augenblick, als Sakoljew den Kopf des Jungen fasste, ihm die Klinge an den Hals legte und …
Im selben Moment hatte Sergej die drei Meter Entfernung überwunden, schlug die Hand mit dem Messer nach unten gegen die Brust des Jungen und hielt sie dort fest. Er brach Sakoljews Arm und nahm ihm das Messer aus der kraftlos gewordenen Hand. Mit der anderen Hand griff er in das Haar seines Feindes und riss den Kopf so weit nach hinten, dass er ihm fast das Genick gebrochen hätte. Aber dann überlegte er es sich anders, stieß Konstantin weg und landete einen Ellenbogentreffer mitten in Sakoljews Gesicht, sodass dieser besinnungslos zu Boden sank.
Genau in diesem Augenblick traf eine völlig verwirrte Paulina ein. Sie hatte gesehen - oder glaubte gesehen zu haben - wie Vater Dimitri ihrem Kontin die Kehle durchschneiden wollte, was der weißhaarige Mann aber glücklicherweise verhindert hatte.
Sakoljew kam trotz der furchtbaren Schmerzen in seinem gebrochenen Arm schnell wieder zu sich, aber als er Paulina sah, machte er keine Anstalten aufzustehen. Vom Boden aus schrie er seiner Tochter mit aller Autorität, über die er noch verfügte, zu: »Töte ihn, Tochter! Töte das Monster!«
»Nein!«, rief Konstantin. »Paulina, du darfst es nicht tun! Er ist mein Vater.«
Was Konstantin sagte, ergab keinen Sinn. Nichts ergab mehr einen Sinn. Aber Paulinas Körper reagierte nach den Jahren des Trainings und gehorchte dem Willen des Mannes, der sie aufgezogen hatte. Ihr schmerzendes Bein war vergessen, als sie das weißhaarige Monster angriff, das ihre Mutter umgebracht hatte und sie in ihren Träumen verfolgte. Sie sprang hoch, um ihm mit einem Tritt gegen den Kopf den Garaus zu machen - und landete mit einem klatschenden Geräusch im Wasser. Als sie sich umdrehte, war der weißhaarige Mann nicht mehr dort, wo er eben noch gestanden hatte. Sie warf sich herum, sah ihn hinter sich stehen und versuchte, ihm die Beine wegzufegen, aber aus irgendeinem Grund gelang es ihr nicht; stattdessen fiel sie hin. Ohne zu zögern sprang sie wieder auf und deckte Sergej Iwanow mit einem wahren Trommelfeuer von Fausthieben ein, aber er wich jedem ihrer Schläge elegant aus.
Irgendetwas stimmte nicht. All die Jahre des Trainings hatten sie auf so etwas nicht vorbereitet. Es ergab keinen Sinn, dass das Monster sie nicht einmal angegriffen hatte. Er war ihren Schlägen und Tritten einfach nur ausgewichen. War er wirklich ein Zauberer, der mit ihr Katz und Maus spielte?
Wieder drang sie auf ihn ein und wieder wehrte der Mann ihre Angriffe mühelos ab, ohne sie seinerseits anzugreifen. Keuchend hielt sie einen Moment lang inne, um kurz durchzuatmen.
In diesem Augenblick hörte der Regen auf, die dichte Wolkendecke teilte sich und der Himmel erstrahlte in einem neuen Licht. Und in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne sah Sergej das Gesicht seines Angreifers zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Es war das Gesicht eines Mädchens, aber nichts das irgendeines Mädchens. Er sah in das Gesicht von Anja. Dann sah er, wie die Sonnenstrahlen vom Medaillon um ihren Hals reflektiert wurden.
Seine Suche war zu Ende.
In diesem Moment kreischte Sakoljew wie von Sinnen: »Töte ihn! Dies ist die Gelegenheit!« Aber seine Stimme hatte bereits viel von ihrer Autorität eingebüßt.
Und auch Konstantin schrie wieder: »Hör auf, Paulina, bitte! Er ist doch mein Vater!«
»Nein«, erwiderte Sergej dem Jungen, ohne seine Augen von dem Mädchen namens Paulina zu nehmen. »Ich wünschte, ich wäre dein Vater, aber ich habe keinen Sohn. Ich habe eine Tochter und sie steht vor mir.«
Paulina stand wie erstarrt da und wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Sakoljew lag still am Boden und wartete auf seine Chance. Dann befahl er ihr zum letzten Mal, Sergej zu töten. Mit sich überschlagender Stimme kreischte er: »Bring deine Aufgabe zu Ende! Er hat deine Mutter getötet!«
Paulina umkreiste langsam den weißhaarigen Mann. Der stand ganz entspannt mit beinahe heiterem Gesicht da. Da sah sie, dass er weinte.
Völlig verwirrt zeigte Paulina auf Sakoljew und schluchzte: »Aber das ist doch mein Vater.«
»Nein!« Wieder meldete sich Konstantin zu Wort. Er strich sich über die blutende Brust und ging langsam auf Paulina zu. »Nein, Paulina. Es tut mir leid, aber ich weiß schon seit langem, dass der hier nicht dein Vater ist. Ich war damals ein kleiner Junge, aber ich kann mich noch an den Tag erinnern, als sie dich brachten.«
Da sprang Sakoljew mit einem Messer in der linken Hand auf. Es war der Wahnsinn, der seine Beine antrieb und der ihn vorwärts springen ließ.
Sergej blickte über Paulinas Schulter und sah Sakoljew auf sie zurasen. Es war unmöglich zu sagen, wen der Irre umbringen wollte. Sergej sprang blitzschnell vor und stieß Paulina zur Seite.
Als sie zu Boden fiel und sich abrollte, dachte sie im ersten Moment, er habe sie angegriffen. Aber das änderte sich, als sie Vater Dimitri mit dem Messer in der Hand auf Sergej Iwanow zulaufen sah.
Sergej sah in Zeitlupentempo, wie sich Sakoljew ihm näherte. Die Welt war still geworden, kein Geräusch drang zu ihm durch, während er ganz entspannt mit den Händen an der Seite dastand. Dies war der Augenblick, auf den er sich so lange vorbereitet hatte.
Im letzten Moment, als das Messer schon herabstieß, wich Sergej aus, drehte seinen Körper leicht und mit einer einzigen fließenden Bewegung seiner Arme warf er Sakoljew in den Bach direkt oberhalb des Wasserfalls.
Sakoljew landete auf dem Rücken, versuchte aufzustehen und rutschte aus. Das Wasser trug ihn davon und dem Wasserfall entgegen.
Im letzten Moment seines Lebens richtete er seine toten Augen auf Sergej. Sein Gesicht zeigte so etwas wie Erleichterung, als er über den Abgrund rutschte und in die Tiefe fiel.
Sergej beobachtete Paulina, die sich vorsichtig zum Abgrund vortastete und auf den verrenkten Körper von Dimitri Sakoljew blickte.
Socrates - Der friedvolle Krieger
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