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Der Regen und das ständige Zwitschern der
Vögel fingen an, Konstantin auf die Nerven zu gehen. Er wünschte
sich nichts sehnlicher als Stille. Eine geschlagene Stunde wartete
er nun schon voller Ungeduld und fuhr bei jedem Knacken hoch, weil
er hoffte, es wäre Paulina. Irgendwie glaubte er nicht mehr so
recht daran, dass sie tatsächlich kommen würde, aber er hatte die
Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Wenn sie käme, würde alles gut
sein, weil sie dann zusammen sein würden, und wenn sie nicht käme …
Was würde er dann tun?
Ich kann lesen, schreiben und zeichnen und ich
kann gut rechnen, dachte er. Ich werde irgendwo weit weg
Arbeit finden, vielleicht sogar in Amerika. Ich werde eine neue
Sprache lernen und mein Glück machen. Eines Tages werde ich
zurückkommen und auf einem großen Pferd ins Lager einreiten. Ich
werde ein Schwert und ein Gewehr tragen und von Männern begleitet
sein, die ich angeheuert habe. Dann werde ich zu Dimitri Sakoljew
sagen: »Ich komme aus Amerika, um Paulina zu holen!« Ich werde
diesen Satz auf Englisch sagen und wenn er ihn nicht versteht, dann
hat er eben Pech gehabt.
In diesem Moment prasselte ein neuer Regenschauer
nieder und trotz des donnernden Wasserfalls glaubte Konstantin,
sich nähernde Schritte zu hören.
Überglücklich darüber, dass Paulina nun doch
gekommen war, kroch er aus dem Gebüsch heraus - aber statt Paulina
sah er Ataman Sakoljew nur drei Meter entfernt vor ihm
stehen.
Eine Welle der Panik durchflutete Konstantin, die
von dem Impuls wegzulaufen gefolgt wurde. Aber ein solcher Versuch
wäre nutzlos gewesen, denn Sakoljew hätte ihn sofort eingeholt.
Also stand er wie erstarrt da und wartete, was nun passieren
würde.
Sakoljew machte keine Anstalten, sich ihm zu
nähern. Der Ataman schien ganz entspannt zu sein; ja, er wirkte
sogar freundlich. Konstantin sah sich um, aber der Ataman war allem
Anschein nach allein gekommen. Was er dann mit leiser Stimme zu
Konstantin sagte, war etwas, das dieser nie erwartet hatte. Der
Ataman ignorierte den fallenden Regen völlig, der beide bis auf die
Haut durchnässte, und sagte: »Ich weiß schon seit geraumer Zeit,
dass du in meine Tochter verliebt bist, Konstantin. Und ich bin mir
sicher, dass sie dich ebenfalls liebt. Und warum auch nicht? Du
bist ein helles Köpfchen und hast einen guten Charakter.«
Sakoljew lächelte milde und sprach weiter: »Es mag
dir merkwürdig vorkommen, dass ich gerade jetzt zu dir komme, aber
die Situation wird für uns alle nicht leichter und ich habe lange
über eine Lösung nachgedacht. Du weißt doch hoffentlich, dass ich
dich immer gemocht habe, Konstantin.«
Mit diesen Worten setzte sich Sakoljew auf einen
Felsen und bedeutete Konstantin, sich neben ihn zu setzen. Dann
fuhr er fort: »Ich gehe davon aus, dass Paulina bald heiraten wird.
Und ich will nicht, dass sie einen meiner Männer heiratet. Genauso
wenig will ich, dass sie von einem zum anderen herumgereicht wird.
Die beste Lösung wäre also, wenn ihr beide heiratet. Aber du und
ich wir sollten uns über eines im Klaren sein …«
Konstantin traute seinen Ohren nicht. Natürlich war
er misstrauisch, aber was der Ataman sagte, machte Sinn, und
außerdem hörte er sich aufrichtig an. Es gab nur zwei
Möglichkeiten: Entweder sagte der Ataman die Wahrheit, dann war er
im Moment sicher und sein Leben würde sich von nun an bessern, oder
aber der Ataman log, dann war er in höchster Gefahr. Aber wenn er
das Angebot zurückwies - ganz gleich ob es nun ernst gemeint war
oder nicht - und weglief, dann würde er mit Sicherheit nicht mehr
lange leben.
Misstrauisch näherte er sich dem Felsen, auf den
Vater Dimitri einladend mit der flachen Hand schlug. Der Augenblick
der Wahrheit war gekommen. Als er sich setzte, lächelte Sakoljew
wieder und legte eine Hand auf Konstantins Schulter. Dann sagte er
in einem Ton anscheinend echter Zuneigung: »Wie sehr du doch
gewachsen bist, Konstantin. Und doch siehst du immer noch so jung
aus wie Paulina.«
Konstantin riskierte ein vorsichtiges Lächeln. Da
er nichts lieber wollte, als Vater Dimitri Glauben zu schenken, kam
er nicht einmal auf den Gedanken, sich drei einfache Fragen zu
stellen. Erstens: Wenn Vater Dimitri tatsächlich das Glück seiner
Tochter so sehr am Herzen lag, warum ließ er sie dann zu einer
Kämpferin und Mörderin ausbilden? Zweitens und wichtiger: Woher
wusste der Ataman, dass er hier war? Und drittens: Wo war
Paulina?
Sergej hatte die Fährte verloren, aber er ritt
dennoch weiter das Flussbett entlang, bis er an den Rand des
Wasserfalls kam. Dort fand er einen Pfad, der nicht von Tieren,
sondern von Menschen stammen musste. Er pflockte Paestka an, damit
das Pferd sich an dem saftigen Gras gütlich tun konnte, dann strich
er sich das regennasse Haar aus dem Gesicht und schlich vorsichtig
den schmalen Pfad entlang.
Plötzlich hörte er trotz des Geräusches des
Wasserfalls Stimmen.
Paulina humpelte so schnell sie nur konnte, aber
mehr als einmal gab ihr schmerzendes Bein nach und sie fiel hin.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie das traurige Gesicht von
Konstantin. Er wartete auf sie und wenn sie bei ihm angekommen war,
würde alles gut sein. Sie kämpfte sich weiter durch den Schlamm und
blickte angestrengt voraus. Als sie noch etwa zwanzig Meter vom
Bach entfernt war, konnte sie zwei Gestalten ausmachen, die auf der
anderen Seite des Baches auf einem Felsen saßen und sich
anscheinend unterhielten.
Sie hielt an und starrte ungläubig auf die Szene.
Die eine Gestalt war die von Konstantin, die andere die ihres
Vaters. Die beiden standen plötzlich auf, als ein dritter Mann
auftauchte.
Als Sergej aus dem Wald trat, kam ihm die ganze
Szene völlig irreal vor. Und aus Sakoljews Gesichtsausdruck war zu
schließen, dass auch dieser nicht glauben konnte, was er sah. Er
starrte Sergej an wie einen Geist. Dann verwandelte sich sein
Gesicht wieder in eine undurchdringliche Maske und er strich sich
das nasse Haar aus dem Gesicht.
Da Sergej Sakoljew seit Anjas Tod zum ersten Mal
wiedersah, verkrampfte er sich unwillkürlich, aber dann atmete er
tief aus und entspannte sich. Alle seine Sinne waren hellwach, als
er mit den Augen die nähere Umgebung absuchte.
Anscheinend waren sie allein: Er selbst, Sakoljew
und ein junger Mann in dem Alter, in dem sein Sohn jetzt sein
sollte.
Sergej wandte sich Sakoljew zu und sagte kurz und
knapp: »Ich bin gekommen, um meinen Sohn zu holen.«
Sakoljew seufzte, als ob er das Unvermeidbare
akzeptiert hatte. Er wusste, dass die Stunde der Abrechnung
gekommen war. »Sergej Iwanow«, sagte er und zwang sich zu einem
freudlosen Lächeln. »So treffen wir uns also wieder. Und du sagst,
du willst deinen Sohn holen? Und das alles, ohne mich vorher zu
begrüßen? Aber ich will dir deine fehlenden Manieren nicht
vorhalten. Wie es aussieht, hast du Glück. Hier steht dein Sohn.
Sein Name ist Konstantin. Du kannst ihn gerne haben.«
Konstantin, der nicht fassen konnte, welche Wendung
sein Leben plötzlich genommen hatte, wollte gerade etwas sagen, als
Sakoljew ihm die Hand um den Hals legte.
Sergej sah das Blitzen des Messers in dem
Augenblick, als Sakoljew den Kopf des Jungen fasste, ihm die Klinge
an den Hals legte und …
Im selben Moment hatte Sergej die drei Meter
Entfernung überwunden, schlug die Hand mit dem Messer nach unten
gegen die Brust des Jungen und hielt sie dort fest. Er brach
Sakoljews Arm und nahm ihm das Messer aus der kraftlos gewordenen
Hand. Mit der anderen Hand griff er in das Haar seines Feindes und
riss den Kopf so weit nach hinten, dass er ihm fast das Genick
gebrochen hätte. Aber dann überlegte er es sich anders, stieß
Konstantin weg und landete einen Ellenbogentreffer mitten in
Sakoljews Gesicht, sodass dieser besinnungslos zu Boden sank.
Genau in diesem Augenblick traf eine völlig
verwirrte Paulina ein. Sie hatte gesehen - oder glaubte gesehen zu
haben - wie Vater Dimitri ihrem Kontin die Kehle durchschneiden
wollte, was der weißhaarige Mann aber glücklicherweise verhindert
hatte.
Sakoljew kam trotz der furchtbaren Schmerzen in
seinem gebrochenen Arm schnell wieder zu sich, aber als er Paulina
sah, machte er keine Anstalten aufzustehen. Vom Boden aus schrie er
seiner Tochter mit aller Autorität, über die er noch verfügte, zu:
»Töte ihn, Tochter! Töte das Monster!«
»Nein!«, rief Konstantin. »Paulina, du darfst es
nicht tun! Er ist mein Vater.«
Was Konstantin sagte, ergab keinen Sinn. Nichts
ergab mehr einen Sinn. Aber Paulinas Körper reagierte nach den
Jahren des Trainings und gehorchte dem Willen des Mannes, der sie
aufgezogen hatte. Ihr schmerzendes Bein war vergessen, als sie das
weißhaarige Monster angriff, das ihre Mutter umgebracht hatte und
sie in ihren Träumen verfolgte. Sie sprang hoch, um ihm mit einem
Tritt gegen den Kopf den Garaus zu machen - und landete mit einem
klatschenden Geräusch im Wasser. Als sie sich umdrehte, war der
weißhaarige Mann nicht mehr dort, wo er eben noch gestanden hatte.
Sie warf sich herum, sah ihn hinter sich stehen und versuchte, ihm
die Beine wegzufegen, aber aus irgendeinem Grund gelang es ihr
nicht; stattdessen fiel sie hin. Ohne zu zögern sprang sie wieder
auf und deckte Sergej Iwanow mit einem wahren Trommelfeuer von
Fausthieben ein, aber er wich jedem ihrer Schläge elegant
aus.
Irgendetwas stimmte nicht. All die Jahre des
Trainings hatten sie auf so etwas nicht vorbereitet. Es ergab
keinen Sinn, dass das Monster sie nicht einmal angegriffen hatte.
Er war ihren Schlägen und Tritten einfach nur ausgewichen. War er
wirklich ein Zauberer, der mit ihr Katz und Maus spielte?
Wieder drang sie auf ihn ein und wieder wehrte der
Mann ihre Angriffe mühelos ab, ohne sie seinerseits anzugreifen.
Keuchend hielt sie einen Moment lang inne, um kurz
durchzuatmen.
In diesem Augenblick hörte der Regen auf, die
dichte Wolkendecke teilte sich und der Himmel erstrahlte in einem
neuen Licht. Und in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne
sah Sergej das Gesicht seines Angreifers zum ersten Mal in aller
Deutlichkeit. Es war das Gesicht eines Mädchens, aber nichts das
irgendeines Mädchens. Er sah in das Gesicht von Anja. Dann sah er,
wie die Sonnenstrahlen vom Medaillon um ihren Hals reflektiert
wurden.
Seine Suche war zu Ende.
In diesem Moment kreischte Sakoljew wie von Sinnen:
»Töte ihn! Dies ist die Gelegenheit!« Aber seine Stimme
hatte bereits viel von ihrer Autorität eingebüßt.
Und auch Konstantin schrie wieder: »Hör auf,
Paulina, bitte! Er ist doch mein Vater!«
»Nein«, erwiderte Sergej dem Jungen, ohne seine
Augen von dem Mädchen namens Paulina zu nehmen. »Ich wünschte, ich
wäre dein Vater, aber ich habe keinen Sohn. Ich habe eine Tochter
und sie steht vor mir.«
Paulina stand wie erstarrt da und wusste nicht
mehr, was sie tun sollte. Sakoljew lag still am Boden und wartete
auf seine Chance. Dann befahl er ihr zum letzten Mal, Sergej zu
töten. Mit sich überschlagender Stimme kreischte er: »Bring deine
Aufgabe zu Ende! Er hat deine Mutter getötet!«
Paulina umkreiste langsam den weißhaarigen Mann.
Der stand ganz entspannt mit beinahe heiterem Gesicht da. Da sah
sie, dass er weinte.
Völlig verwirrt zeigte Paulina auf Sakoljew und
schluchzte: »Aber das ist doch mein Vater.«
»Nein!« Wieder meldete sich Konstantin zu Wort. Er
strich sich über die blutende Brust und ging langsam auf Paulina
zu. »Nein, Paulina. Es tut mir leid, aber ich weiß schon seit
langem, dass der hier nicht dein Vater ist. Ich war damals ein
kleiner Junge, aber ich kann mich noch an den Tag erinnern, als sie
dich brachten.«
Da sprang Sakoljew mit einem Messer in der linken
Hand auf. Es war der Wahnsinn, der seine Beine antrieb und der ihn
vorwärts springen ließ.
Sergej blickte über Paulinas Schulter und sah
Sakoljew auf sie zurasen. Es war unmöglich zu sagen, wen der Irre
umbringen wollte. Sergej sprang blitzschnell vor und stieß Paulina
zur Seite.
Als sie zu Boden fiel und sich abrollte, dachte sie
im ersten Moment, er habe sie angegriffen. Aber das änderte sich,
als sie Vater Dimitri mit dem Messer in der Hand auf Sergej Iwanow
zulaufen sah.
Sergej sah in Zeitlupentempo, wie sich Sakoljew ihm
näherte. Die Welt war still geworden, kein Geräusch drang zu ihm
durch, während er ganz entspannt mit den Händen an der Seite
dastand. Dies war der Augenblick, auf den er sich so lange
vorbereitet hatte.
Im letzten Moment, als das Messer schon herabstieß,
wich Sergej aus, drehte seinen Körper leicht und mit einer einzigen
fließenden Bewegung seiner Arme warf er Sakoljew in den Bach direkt
oberhalb des Wasserfalls.
Sakoljew landete auf dem Rücken, versuchte
aufzustehen und rutschte aus. Das Wasser trug ihn davon und dem
Wasserfall entgegen.
Im letzten Moment seines Lebens richtete er seine
toten Augen auf Sergej. Sein Gesicht zeigte so etwas wie
Erleichterung, als er über den Abgrund rutschte und in die Tiefe
fiel.
Sergej beobachtete Paulina, die sich vorsichtig zum
Abgrund vortastete und auf den verrenkten Körper von Dimitri
Sakoljew blickte.