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Als Sergej ein paar Wochen später gerade
mit dem Reitunterricht begonnen hatte, rief Leutnant Danilow
plötzlich: »Sergej Iwanow, komm mit!« Er vermutete schon, dass er
zum Kommandanten gebracht würde. Da er beim ersten Mal vom Tod
seines Vaters erfahren hatte und da beim zweiten Mal sein Großvater
auf ihn gewartet hatte, wusste er nicht, ob er sich fürchten oder
freuen sollte.
Er sollte es bald herausfinden. Kaum war er
eingetreten, eröffnete ihm sein Onkel: »Ich habe gerade erfahren,
dass dein Großvater gestorben ist.« Der Kommandant wartete ein paar
Sekunden, um Sergej Zeit zu geben, diese Nachricht zu verdauen,
bevor er fortfuhr: »Er muss Vorkehrungen getroffen haben, dass du
es sofort erfahren würdest. Wenn du für seine Seele beten möchtest,
kannst du jetzt in die Kapelle gehen. Das wäre alles!«
Sergej ging nicht zur Kapelle, sondern in seine
leere Stube, sah sich um, ob er auch wirklich allein war, und holte
das Medaillon seiner Mutter hervor. Stumm blickte er auf das Foto
seiner Eltern. Jetzt war sein Großvater also bei ihnen und bei
Großmutter Esther. Das Medaillon würde ihn immer an sie alle
erinnern.
Er legte es sich um und nahm sich vor, es so oft
wie möglich zu tragen und es nachts wieder zu verstecken. Dann
holte er die Karte hervor und prägte sich jede Linie und jede
Markierung ein, bis er die Karte mit geschlossenen Augen hätte
nachzeichnen können. Als er sicher war, dass er sich alles genau
gemerkt hatte, zerriss er die Karte in tausend kleine Stücke und
verteilte sie auf verschiedene Mülleimer.
An einem Montagnachmittag im März des Jahres 1881
wurde die Anstalt von einer Nachricht erschüttert, die Sergejs
persönliche Probleme in den Hintergrund treten ließen und ihn daran
erinnerten, dass er Teil einer größeren Welt war - einer Welt
voller Konflikt und Aufruhr. An jenem windigen Tag übten er und
fünfzehn andere Kadetten gerade mit hölzernen Säbeln, als ein
bärtiger Kosak im Galopp durch das Haupttor geritten kam. Sie
starrten den stolzen Reiter ehrfürchtig an.
Allen Kadetten wurde befohlen, sich sofort in der
Kapelle zu versammeln. Dort wurde ihnen der Kosak vorgestellt. Sein
Name war Alexej Orlow. Er hatte früher einmal gemeinsam mit Sergejs
Onkel in einem Kosakenregiment gedient. Der Kommandant verkündete
die traurige Nachricht, dass Zar Alexander II. ermordet worden
war.
An jenem Abend wurde in der Kapelle eine besondere
Messe abgehalten, damit die Instruktoren und Kadetten für die Seele
des Zaren beten konnten. Wie alle anderen so war auch Sergej in
seiner besten Uniform erschienen: dunkelblau mit blitzblank
polierten Knöpfen und dem Zeichen der Anstalt, einem zweiköpfigen
Adler mit einer Rose und einem Säbel in den Klauen.
Alexej Orlow stand aufrecht vor ihnen, sein gut
geschnittenes Gesicht voller Kummer. Er sagte: »Wir Kosaken sind
freie Menschen, die nur dem Zaren und der Mutter Kirche die Treue
geschworen haben.« Er deutete eine respektvolle Verbeugung vor
Vater Georgi an, bevor er weitersprach. »Ich gehörte zur Leibgarde
des Zaren. Aber trotz unserer Bemühungen, Väterchen zu beschützen,
wurde er durch die Bombe eines Attentäters getötet. Der Zar, der
große Befreier, der Millionen Leibeigene in die Freiheit entlassen,
das Rechtssystem reformiert und größere Freiheiten als je zuvor
erlaubt hatte, wurde dennoch von unzufriedenen Revolutionären
gehasst. Da wir von Drohungen gegen sein Leben wussten, nahm er
jedes Mal einen anderen Weg. Ich hatte zwar keinen Dienst, als es
geschah, aber einer meiner Männer war dabei und erzählte mir
alles.«
Orlow wartete einen Moment, bevor er fortfuhr:
»Trotz aller unserer Vorsichtsmaßnahmen gelang es einem jungen
Mann, sich vor einer Brücke vor die Kutsche zu stellen und etwas,
was zunächst aussah wie ein Schneeball, zwischen die Pferde zu
werfen. Die Bombe explodierte, verletzte den Zaren aber nur leicht.
Seine kaiserliche Hoheit bestand darauf, auszusteigen und nach
einem schwerverletzten Kosaken und einem Botenjungen zu sehen. Als
der Zar gerade wieder in die Kutsche steigen wollte, sprang ein
zweiter Mann auf ihn zu. Es gab eine weitere Explosion. Innerhalb
einer Stunde erlagen sowohl der Attentäter als auch unser Väterchen
ihren Verletzungen. Der Mann, der die erste Bombe geworfen hatte,
verriet seine Genossen. Wir wissen, dass einer der Verschwörer eine
junge Frau namens Gelfman war: eine Revolutionärin und
Jüdin.«
Als Sergej die Kapelle verließ, ging er zufällig
neben seinem Onkel her. Der Kommandant sah auf ihn hinab und stieß
zwischen zusammengepressten Lippen hervor: »Das wäre nicht
passiert, wenn dein Vater noch leben würde - nicht, wenn er Dienst
gehabt hätte.«
Kurz darauf hörte Sergej von den
Krönungsfeierlichkeiten für Zar Alexander III. und Gerüchte über
eine Welle von Pogromen, die in Russland und der Ukraine
stattgefunden haben sollten, nachdem sich dort die Nachricht
verbreitet hatte, dass eine »Gruppe Juden« Väterchen Zar ermordet
hatte. Die Nachricht stellte sich zwar als falsch heraus, aber die
Pogrome gingen trotzdem weiter. Die schwangere Gesia Gelfman, die
später im Gefängnis sterben sollte, war die einzige Jüdin unter den
Revolutionären.
In der Anstalt wurde hinter vorgehaltener Hand
weiterhin über Revolutionäre und Juden getuschelt, besonders unter
jenen, die Sakoljew nahe standen. Dieses Gerede machte Sergej
wieder bewusst, dass er selbst jüdisches Blut in seinen Adern
hatte. In den folgenden Wochen machte er sich immer mehr Sorgen um
die Familie Abramowitsch. In diesen gefährlichen Zeiten konnte die
Abgelegenheit der Hügel zwar durchaus ein Vorteil für sie sein,
aber sie konnte sich auch zu ihrem Nachteil auswirken. Was würde
wohl geschehen, wenn eine umherstreifende Patrouille der Kosaken
auf eine jüdische Familie mitten im Wald stoßen würde? Sergej
musste sie warnen.
In dieser Nacht schlich sich Sergej an den
wachhabenden Kadetten vorbei und lief durch den langen Tunnel unter
der Anstalt zum See. Er war den Korridor mittlerweile so oft
gegangen, dass er dies auch mit verbundenen Augen gekonnt hätte.
Und seine Augen hätten genauso gut tatsächlich verbunden sein
können, denn der Tunnel war nachts nicht beleuchtet.
Als Sergej die schwere eiserne Tür aufdrückte,
quietschte diese so laut in den Angeln, dass er sich fast vor
Schreck auf die Zunge gebissen hätte. Er klemmte ein Holzstück
zwischen Tür und Angel, damit sie offen bleiben würde. Dann lief er
im Eiltempo über das offene Gelände, bis er zu dem Felsvorsprung
kam, der den Anfang des Pfades markierte. Von nun an würde er sich
völlig auf seine Erinnerung und seinen Instinkt verlassen müssen.
Glücklicherweise war die Frühlingsnacht klar und der zunehmende
Mond sorgte für genügend Licht.
Dieses Mal musste er schneller sein als das letzte
Mal. Er konnte nur hoffen, dass er den Weg wiederfinden würde.
Nachdem er es geschafft hatte, aus der Kadettenanstalt zu
entkommen, ohne dass es jemand bemerkt hatte, sah er sich nun
anderen Gefahren gegenüber: Er konnte sich verlaufen oder hungrigen
Wölfen über den Weg laufen. Sollte er sich verlaufen, würde er die
Schule zwar bei Tageslicht sicher wiederfinden, aber dann wäre
seine Abwesenheit längst bemerkt worden. Unerlaubtes Entfernen war
ein schweres Vergehen, das schwer bestraft werden würde.
Einige ältere Kadetten, die sich einmal nachts
fortgeschlichen hatten, waren gezwungen worden, Spießruten zu
laufen. Sie mussten langsam und mit gesenkten Köpfen zwischen zwei
Reihen Kadetten hindurchmarschieren, die sie mit Gerten schlugen.
Am Ende der Reihe standen die Instruktoren, die ebenfalls
erbarmungslos zuschlugen. Grün und blau geschlagen und blutend
wurden die Missetäter dann in Einzelzellen gesteckt, wo sie drei
Tage lang weder Wasser noch Nahrung erhielten. Kommandant Iwanow
hatte damals gesagt: »Wenn ihr euch unerlaubt von der regulären
Truppe entfernen würdet, würde euch weit Schlimmeres passieren.«
Niemand hatte es jemals wieder versucht - bis heute.
Sobald er die Hütte erreicht hätte, würde er den
Abramowitschs alles über die Ermordung des Zaren, die Pogrome und
den Tod seines Großvaters berichten. Dann nach einer Tasse Tee, die
Sara ihm gewiss anbieten würde, und nach einer Umarmung würde er
noch vor Sonnenaufgang zurückkehren. So plante er sein Vorhaben,
während er den mondbeschienenen Pfad entlang eilte.
Sergej keuchte, aber er behielt sein Tempo bei.
Sein geringes Gewicht und seine Ausdauer erwiesen sich nun als
eindeutiger Vorteil. In seinem jugendlichen Überschwang dachte er
sogar daran, nie wieder zur Anstalt zurückzukehren. Was hielt ihn
denn dort schon? Sicher, er würde Andrej vermissen und vielleicht
sogar seinen Onkel Wladimir. Er würde vielleicht sogar manchmal
wehmütig an die Kadettenanstalt zurückdenken. Aber er würde das
tägliche Leben dort sicher nicht vermissen und er wäre endlich
Dimitri Sakoljew los.
Das Medaillon trug er um den Hals und andere
Besitztümer hatte er nicht. Wenn er doch nur den Mut aufbringen
würde, Benjamin zu bitten, ihn bleiben zu lassen. Würden Awrom und
Leja seine Geschwister werden? Und Sara und Benjamin seine Eltern?
War so etwas überhaupt denkbar? Ja, das wäre es, beschloss er. Er
würde ein guter Sohn sein, ihnen immer helfen, damit sie stolz auf
ihn sein könnten. Voller freudiger Erwartung rannte Sergej so
schnell er konnte. Der Mond stand fast direkt über ihm. Nun konnte
es nicht mehr weit sein.
Aber als einen Augenblick später der Mond hinter
dunklen Wolken verschwand, war der Pfad nicht mehr zu erkennen.
Sergej konnte kaum seine Hand vor Augen sehen. Er schaute in den
Himmel hinauf und sah links und rechts Sterne glitzern. Nur der
Mond war verdeckt. Er tastete sich mit ausgestreckten Armen weiter.
Er wusste, dass er fast da sein musste, denn er konnte schon das
Herdfeuer riechen.
Dann erstarrte er plötzlich, als ihm klar wurde,
dass es nicht das Herdfeuer war, das er roch. Und es waren auch
nicht Wolken, die den Mond verdeckten. Es war dichter Rauch.
Sergej rannte wie ein Wahnsinniger auf die Hütte
zu, sprang über Felsen, über die kleine Wiese und blieb plötzlich
wie angewurzelt stehen. Sein Unterkiefer fiel herunter. Das Licht
des Mondes, das plötzlich wieder zu sehen war, offenbarte ihm eine
grausige Szene und seine Angst verwandelte sich augenblicklich in
blankes Entsetzen. Wo einmal die Hütte gestanden hatte, waren nun
nur noch rauchende Trümmer zu sehen. Aufglimmende Holzstücke
erleuchteten die schreckliche Szene.
Er konnte die Hitze auf seinem Gesicht spüren, als
er wie ein Betrunkener durch die Trümmer stolperte. Von Leben keine
Spur. Er betete inbrünstig, dass die Abramowitschs wohlbehalten aus
dem Wald kommen mögen, um ihn zu begrüßen. Zusammen würden sie die
Hütte sicherlich wieder aufbauen können.
Nein, zwang er sich selbst zu sagen, ich
muss den Tatsachen ins Auge blicken. Ihr Leben, meine
Hoffnungen und Träume, alles ausgelöscht, alles verbrannt.
Keuchend und hustend durchsuchte er die Trümmer und stöberte in der
Asche herum. Und dann fand er das, was er nicht hatte finden
wollen: die geschwärzten Knochen eines Armes und einer Hand, die
wie hilfesuchend zum Himmel gestreckt war.
Obwohl ihm die Hitze und der Gestank zu schaffen
machten, schob Sergej die rauchenden Balken beiseite, unter denen
das Skelett eines Mannes zum Vorschein kam, an dessen Knochen noch
Fleisch klebte. Der Gestank und der Anblick brannten sich
unauslöschlich in Sergejs Gedächtnis ein. Der verbrannte Körper
hatte einmal Benjamin Abramowitsch gehört. Sergej zwang sich weiter
zu graben, bis er einen Mädchenschuh und eine Puppe fand. Nun
musste er endlich einsehen, dass er die Tatsachen nicht länger
leugnen konnte: Der Rest der Familie lag irgendwo unter dem
rauchenden Albtraum, der einmal ein Heim gewesen war.
Er drehte sich um und übergab sich. Irgendwie
gelang es ihm dann, Benjamins Leiche aus den Trümmern zu ziehen und
in eine kleine Vertiefung zu legen, die er entdeckt hatte. Da die
Erde locker genug war, schaffte er es, mit bloßen und blutenden
Händen ein flaches Grab zu schaufeln, in das er Benjamins Körper
legte und mit Erde bedeckte. Es war unmöglich, alle Trümmer zu
durchsuchen und das, was von Sara und den Kindern übrig geblieben
war, ebenfalls zu begraben. Sergej hatte getan, was er
konnte.
Mit brennenden Augen stolperte Sergej den Hügel
hinunter. Kurz vor Sonnenaufgang warf er sich mit all seinen
Kleidern in einen eiskalten Bach, um den Gestank des Todes aus
seinen Haaren und seiner Kleidung zu waschen. Aber seine brennenden
Gedanken konnte er nicht so leicht loswerden. Warum bin ich bloß
nicht eher gegangen? Ich hätte sie retten können! Wäre ich doch nur
einen Tag früher gekommen! Sein Kopf dröhnte und sein Atem ging
stoßweise.
Da er nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte,
kehrte ein nasser, völlig durchfrorener und erschöpfter Sergej eine
Stunde vor Sonnenaufgang zur Eisentür zurück, die immer noch offen
stand. Er bewegte sich wie ein Geist. Es war ihm egal, ob ihn
jemand sah oder nicht. Vielleicht bin ich ja gestorben,
dachte er, und nun bin ich ein Gespenst, das für Menschen nicht
sichtbar ist. Dann warf er sich auf seine Pritsche und fiel zu
Tode erschöpft in einen bleiernen Schlaf.
Beim ersten Licht des Tages öffneten sich seine
Augen. Einen Augenblick lang dachte er, er hätte nur einen Albtraum
gehabt. Aber als er sich aufsetzte, spürte er die Erschöpfung in
seinen Knochen und sah den Ruß an seinen Händen. Es war kein Traum
gewesen. Es war grausame Realität. Und er konnte niemandem davon
erzählen, was er gesehen hatte - nicht einmal Andrej.