36
Während der nächsten Tage brachte Sergej
viele Stunden in tiefer Kontemplation zu, denn es gab einiges, über
das er sich klar werden musste. Daneben machten Seraphim und er
lange Spaziergänge, auf denen sie manchmal miteinander redeten,
manchmal aber einfach nur schweigend nebeneinander hergingen. Über
eines sprachen sie dabei allerdings nie: über das Kämpfen.
Sergejs Fragen konnten auch durch Seraphim nicht
beantwortet werden, er musste die Antworten in sich selbst finden.
Sollte er an seinem Schwur festhalten? War das Festhalten
konsequent, weil er eine Verpflichtung eingegangen war, oder war er
einfach nur stur? Würde er sich für den Krieg oder für den Frieden
entscheiden? Lag in dem Geschehen ein tieferer Sinn verborgen?
Vielleicht waren ja all diese Fragen in Wirklichkeit nur eine
einzige Frage. Dann stellte sich Sergej die entscheidende Frage:
Würde es Anja glücklich machen, wenn er die Männer tötete oder bei
dem Versuch starb?
Sergej war sich nicht mehr sicher und er quälte
sich mit Selbstvorwürfen, weil er seinen Schwur möglicherweise
nicht würde halten können. Vielleicht hatte Sakoljew ja Recht
gehabt, als er ihn einen Schwächling und Feigling genannt hatte.
Wenn er sich nun seinen Feinden nicht stellen würde, warum hatte er
dann all die Jahre trainiert? Sergej war wie eine geladene Pistole,
die darauf wartete, das abgefeuert würde.
Aber Seraphim würde sagen, dass eine Pistole auch
wieder entladen und ein gezogenes Schwert wieder in die Scheide
zurückgesteckt werden kann.
Da fiel ihm eine Geschichte ein, die ihm Seraphim
vor einigen Monaten erzählt hatte und die auch auf seine jetzige
Situation angewendet werden konnte. Seraphim hatte von einem jungen
stolzen, aber jähzornigen Samurai gesprochen, der es sich zur
Angewohnheit gemacht hatte, Bauern schon beim kleinsten Anzeichen
von Respektlosigkeit erbarmungslos niederzustrecken. In jenen Tagen
standen die Samurai über dem Gesetz und ein solches Verhalten war
durchaus akzeptiert und nicht unüblich.
Aber eines Tages, als er wieder einmal einen Bauern
getötet hatte und gerade dabei war, das Blut von der Klinge zu
wischen und das Schwert wieder einzustecken, kamen dem jungen
Samurai Zweifel, ob die Götter sein Tun guthießen oder ob sie ihn
in das Reich der höllischen Wesen schicken würden. Da ihn diese
Frage nicht mehr losließ, suchte er einen Zen-Meister namens
Kanzaki auf. Mit vollendeter Höflichkeit legte der Samurai sein
rasiermesserscharfes Schwert ab, verbeugte sich tief und bat:
»Bitte erzählt mir von Himmel und Hölle.«
Meister Kanzaki sah den jungen Mann an und
lächelte. Dann begann er immer lauter zu lachen, als ob der Krieger
etwas völlig Lächerliches gefragt hätte. Er zeigte mit dem Finger
auf den verwirrten Samurai, lachte noch lauter und schrie: »Du
hohlköpfiger Sohn eines Hohlkopfs, du wagst es, mich, den weisen
Meister Kanzaki, nach Himmel und Hölle zu fragen? Verschwende nicht
meine Zeit, du Idiot! Du bist viel zu dumm, um diese Dinge
verstehen zu können!«
Der Samurai saß mit hochrotem Kopf da. Jeden
anderen hätte er für solche Worte auf der Stelle getötet, aber er
bemühte sich, Haltung zu bewahren.
Meister Kanzaki war noch nicht fertig. Etwas leiser
sagte er: »Es ist doch offensichtlich, dass weder du noch deine
stinkenden Vorfahren jemals über irgendetwas nachgedacht haben.
Deine gesamte Ahnenreihe besteht doch nur aus Taugenichtsen und
Narren, die so etwas niemals verstehen …«
Nun überkam den Samurai eine mörderische Wut. Er
sprang auf die Füße, riss das Schwert aus der Scheide und hob es,
um es auf den Kopf des Zen-Meisters niedersausen zu lassen.
In diesem Augenblick wies Kanzaki mit dem Finger
auf ihn und sagte ganz gelassen: »Jetzt öffnen sich die Tore der
Hölle.«
Der Krieger erstarrte. Augenblicklich wurde er
erleuchtet und verstand das Wesen der Hölle. Die Hölle war kein
Ort, an den man nach dem Tode geschickt wurde, sondern ein innerer
Zustand. Er fiel auf die Knie, legte das Schwert neben sich und
verbeugte sich tief.
»Meister, meine Dankbarkeit für diese Unterweisung
ist grenzenlos. Danke. Danke.«
Der Zen-Meister aber lächelte nur, zeigte wieder
auf ihn und sagte gelassen: »Und nun öffnen sich die Tore des
Himmels.«
Vielleicht bin ich ja dieser Samurai, dachte
Sergej, während er weiter den Garten umgrub.
Am nächsten Tag erzählte Sergej Seraphim sein
ganzes Leben von seiner ersten Erinnerung bis zu seiner Ankunft auf
Walaam. Als er fertig war, sagte Seraphim: »Deine Geschichte hat
gerade erst angefangen, Socrates. Merke dir eines: Deine
Vergangenheit muss nicht deine Zukunft bestimmen. Die meisten
Menschen tragen ihre Geschichte wie einen Sack mit Steinen auf dem
Rücken. Wenn sie alt sind, sind sie nicht nur vom Alter gebeugt,
sondern von der Last ihrer Erinnerungen.«
»Heißt das, dass ich meine Vergangenheit einfach
vergessen soll?«
»Erinnerungen sind wie verblichene Bilder. Einige
lieben wir, andere scheinen wir nicht loswerden zu können. Es gibt
keinen Grund, alle wegzuwerfen. Bewahre die, die dir gefallen, an
einem sicheren Ort auf, damit du sie jederzeit wieder hervorholen
kannst. Aber die Vergangenheit sollte keinen Einfluss auf die
Gegenwart haben. Mich interessiert es nicht, woher du kommst,
sondern wohin du gehst.«
»Und wohin gehe ich?«, fragte Sergej. »Haben Sie es
sehen können?«
Seraphim sah ihn durchdringend an. »Ich habe etwas
gesehen, aber wir wollen jetzt noch nicht darüber sprechen. Ich
will deine Frage etwas umfassender beantworten: Du kannst sowieso
nirgendwo hingehen. Das Hier und Jetzt ist alles, was du hast. Wo
du auch immer hingehen magst, so wirst du doch immer ›hier‹
sein.«
»Aber selbst jetzt ist die Vergangenheit doch ein
Teil von mir.«
»Ja, aber nur als Erinnerung. Für dich ist es nun
an der Zeit, mit dem, was geschehen ist, Frieden zu schließen und
zu akzeptieren, was ist. Was geschehen ist, ist geschehen. Alles
ist ein perfekter Teil deines Lebens.«
»Perfekt!?«, schrie Sergej wütend auf. »Der Tod
meiner Frau und meines Sohnes soll perfekt sein?«
»Beruhige dich, Socrates. Du hast meine Worte
anders aufgenommen als sie gesagt wurden. Mit ›perfekt‹ meine ich
nicht ›gut‹ oder ›gerecht‹. Ich habe es im transzendenten Sinn
gemeint. Es ist perfekt, weil es passiert ist. Und hat es dich
nicht zu mir gebracht? Und Gott wird dich auf weitere Reisen
schicken, damit du genau das erlebst, was du erleben sollst.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Niemand kann irgendetwas wissen«, antwortete
Seraphim. »Ich weiß nicht, ob morgen früh die Sonne aufgeht oder ob
ich morgen überhaupt aufwache. Ich weiß nicht einmal, ob Gott mir
noch einen weiteren Atemzug gewährt. Deshalb lebe ich im Vertrauen
auf Gott und akzeptiere, was immer auch kommen mag. Ob es uns nun
willkommen ist oder nicht, ob es nun bitter oder süß ist, alles ist
ein Geschenk Gottes.«
»Worte, nichts als Worte. Vielleicht stimmen sie ja
sogar. Aber was soll ich mit ihnen anfangen?«
Seraphim begann wieder, auf und ab zu laufen. »Du
hast natürlich Recht. Es sind nur Worte. Gehe also über die Worte
hinaus an den Ort in dir, der weiß.«
»Was weiß?«
»Dass jeder Tag ein neues Leben ist. Dass du in
jedem Augenblick wiedergeboren wirst. Das ist eine Bedeutung des
Wortes ›Gnade‹. Es geht nur darum, aufmerksam zu sein und sein
Bestes zu geben.«
»Bei Ihnen hört sich alles so einfach an.«
»Es ist einfach, alles andere sind
Verkomplizierungen, die wir uns selbst ausgedacht haben. Das heißt
aber nicht, dass das Leben leicht ist. Eines Tages wirst du das
alles in seiner ganzen Tiefe verstehen und es wird dir so klar
sein, dass du vor Freude lauthals loslachen wirst. Ich kann nur ein
paar Samen säen, der Rest liegt bei Gott.«
Als Sergej über Seraphims Worte nachdachte,
tauchte eine neue Frage auf. Bei der nächsten Gelegenheit, die sich
ergab, fragte er ihn: »Seraphim, wie konnten Sie von Anfang an so
viele Dinge über mich wissen?«
Der alte Mönch dachte einen Moment lang nach, bevor
er antwortete: »Bevor ich vor vielen Jahren Mönch wurde, war ich
Soldat, Socrates. Ich sah und tat Dinge, die man nicht mehr
vergisst. Ich habe in furchtbaren Schlachten gekämpft und
Schreckensbilder gesehen, die kein Mensch sehen sollte.«
Er lächelte, als er fortfuhr. »Auf der Suche nach
Frieden und nach einem tieferen Sinn reiste ich nach Osten. Ich
besuchte viele Länder und lernte, dass es verschiedene Wege zu Gott
gibt. Ich lernte auch, dass all diese Wege gut sind, wenn sie dich
dazu bringen, ein besseres Leben zu führen. Ich habe mich für den
christlichen Glauben entschieden, aber ich habe die Gaben, die mir
die anderen Religionen gegeben haben, nicht vergessen. Alle
Religionen sind Teil eines großen Weges, Socrates.«
»Ich entdeckte, dass ich schon immer bestimmte
Gaben hatte, dass mir aber bestimmte Praktiken geholfen haben, sie
zu entwickeln. Die eine Gabe ist die Fähigkeit zu heilen. Schon als
Junge spürte ich die Energie, die durch meine Hände floss. Ich
glaube, sie stammt aus einer höheren Quelle. Meine andere Gabe ist
die der Vorausschau. Ich vergleiche sie gern mit einer Blüte, die
sich öffnet, wenn das Licht darauf scheint. Ich sehe Dinge,
manchmal in Träumen, manchmal in tiefer Versenkung. Daher weiß ich
manche Dinge, aber ganz sicher kann ich mir nie sein.«
»Ich habe mich schon immer gefragt, was diese
Fähigkeit wohl ausmacht.«
»Um die Gabe zu verstehen, musst du sie erfahren.
Wenn du dich Gott öffnest, weißt du alles, weil du alles
bist. Du entdeckst, dass Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft alle jetzt stattfinden. Deshalb sehe und weiß ich manchmal
Dinge.«
»Haben Sie auch gesehen, was mir die Zukunft
bringen wird?«
»Ich sehe, was sein könnte, nicht was sein
muss. Was du jetzt in diesem Augenblick tust, wird deine
ganze Zukunft verändern. So machtvoll ist der freie Wille.«
»Können Sie mir denn gar nichts sagen?«
Seraphim überlegte sich seine nächsten Worte gut.
»Mit jeder spirituellen Gabe wächst auch die Verantwortung. Meine
Visionen sind dazu da, Rat zu erteilen, und nicht um Vorhersagen zu
machen. Wenn ich dir sagen würde, was ich gesehen habe, dann könnte
es dir helfen oder dir schaden. Und ich bin nicht weise genug, um
zu wissen, was von den beiden es sein wird.«
Nach einem Augenblick fuhr er fort: »Auf jeden Fall
könnte es sich auf deine Bestimmung auswirken. Was, wenn ich
gesehen hätte, dass du deine Gegner besiegst? Hättest du dann all
die Jahre trainiert? Was, wenn ich dich tot gesehen hätte? Hättest
du dann deine Pläne geändert?«
Wieder sah Seraphim Sergej auf diese durchdringende
Weise an. »Ich verstehe nicht immer, was ich sehe, Socrates. Ich
kann dir nicht sagen, ob du diese Männer töten oder ihnen vergeben
wirst.«
»Ihnen vergeben? Erst schicke ich sie zur
Hölle!«
»Sie befinden sich bereits in der Hölle.«
»Das ist doch keine Entschuldigung!«
»Natürlich nicht«, antwortete Seraphim. »Es gibt
für nichts eine Entschuldigung. Und meistens kann ich nicht einmal
eine Erklärung finden. Aber eines Tages wirst du erkennen, dass
diese Männer alle ein Teil deines größeren Selbst sind. Dann wird
sich dir alles offenbaren. Du wirst vielleicht gegen sie kämpfen
müssen, aber du wirst wissen, dass du im Grunde mit dir selbst
kämpfst.«
Wieder ging der alte Mönch vor Sergej auf und ab.
»Was ich dir jetzt erzählen werde, habe ich noch keinem Menschen
erzählt, Socrates. Aber es dient einem guten Zweck und wird dir
helfen zu verstehen. Auch ich war einmal verheiratet und hatte drei
Kinder. Sie liegen nun in derselben Erde begraben wie deine Frau
und dein Sohn. Als ich fort war und Schlachten schlug, wurden sie
zu Hause von Banditen ermordet.«
Ein oder zwei Minuten lang herrschte Stille, die
nur vom Gesang eines Vogels unterbrochen wurde. Dann fuhr der alte
Mönch fort: »Wie du so schwor auch ich, dass ich die Männer finden
würde, die dieses Verbrechen begangen hatten, Socrates. Und wie du
so habe auch ich mich auf diesen Moment vorbereitet.«
»Haben Sie …?«, fragte Sergej.
Stille. Dann antwortete Seraphim: »Ja, ich habe sie
einen nach dem anderen getötet.«
Ergriffen von der tragischen Gemeinsamkeit, holte
Sergej tief Luft und sagte mitfühlend: »Als Sie entdeckten, was mit
Ihrer Familie geschehen war, war das Ihre dunkelste Stunde?«
Seraphim schüttelte den Kopf. »Zuerst dachte ich,
sie wäre es, aber es war nicht so. Meine dunkelste Stunde begann im
Moment meines Sieges, nachdem ich die Männer abgeschlachtet hatte.
Denn als ich das tat, war ich einer von ihnen geworden.«
»Aber Sie sind doch keiner von denen! Sie waren
doch im Recht!«
»Wenn man mit Monstern kämpft, wird man selbst zum
Monster«, wiederholte der Alte. »Es liegt mir noch immer auf der
Seele und ich kann das, was ich getan habe, niemals ungeschehen
machen. Niemals. Verstehst du nun, warum ich dich unterwiesen habe?
Weil ich hoffe, dass du nicht denselben Fehler begehst wie
ich.«
Sergej war so weit, dass er sich eine andere
Zukunft vorzustellen vermochte, aber ein Schwur, an dessen
Erfüllung er ein Drittel seines Lebens gearbeitet hatte, konnte
nicht so leicht beiseite geschoben werden.
»Selbst wenn ich nicht mehr auf Rache aus bin, so
muss doch jemand diese Männer aufhalten. Warum also nicht
ich?«
Seraphim sah ihm forschend in die Augen.
»Vielleicht hast du ja Recht. Vielleicht solltest du wirklich gehen
und Jagd auf sie machen, sie alle töten. Sie leiden lassen, so wie
du gelitten hast. Aber glaubst du wirklich, dass es damit zu Ende
ist? Du solltest auch ihre Kinder töten, denn sie werden dich
verfolgen. Töte sie, dann wirst du eine Hölle kennen lernen, die
weit höllischer ist als jene, die du bisher gekannt hast. Es kann
aber auch passieren, dass du gar nichts fühlst. Vielleicht macht es
dir sogar Freude, sie leiden zu sehen. Wenn das geschieht, dann
weißt du, dass du das Böse geworden bist, das du zerstören
wolltest.«
Nach einiger Zeit fügte Seraphim noch etwas hinzu.
»Deine Lieben werden erst dann Frieden finden, wenn du Frieden
gefunden hast, Socrates. Stelle dir also die Frage, auf welchem Weg
du Frieden erlangen kannst. Musst du wirklich in den Krieg ziehen,
um Frieden zu finden? Wird er sich erst einstellen, wenn dein
Schwur erfüllt ist? Oder kannst du hier und jetzt Frieden
erschaffen? Wer sich mit sich selbst im Krieg befindet, wird immer
verlieren. Nur wenn du Frieden mit dir selbst schließt, wirst du
ein wahrer Krieger werden.«
Er lächelte. »Ich verstehe die Tiefe deiner Gefühle
und Überzeugungen, deiner Erinnerungen und Schwüre, aber nicht
jedes Gefühl muss ausgelebt werden. Gleich ob du nun hier bleibst
oder fortreitest, du solltest dich dem höheren Willen Gottes
hingeben. Meistere deine Gefühle, so wie du auch einen Sturm
meistern würdest. Baue dir eine Hütte aus Glauben und Geduld und
harre darin aus, bis der Sturm weitergezogen ist. Befreie dich von
der Tyrannei deiner Triebe, deines Verlangens und deiner Zwänge.
Werde zum Krieger Gottes, zum Diener Gottes. Gott spricht durch
dein Herz. Es wird dir den Weg weisen, ein wahrhafter Mensch und
ein friedvoller Krieger zu werden.«
Seraphims Worte trafen Sergej mitten ins Herz. Aber
eine letzte Frage konnte er dennoch nicht unterdrücken. »Und was
ist mit diesen Männern?«
»Genug von diesen Männern!«, rief Seraphim aus. »Du
bist ja von ihnen besessen. Haben sie nicht lange genug in deinem
Kopf herumgespukt? Du solltest lieber fragen: ›Was ist mit dem
Glauben? Was ist mit Gott? Was ist mit Mitgefühl?‹ Frage lieber, ob
du den Mut hast, das Mitgefühl mit ihnen zu empfinden, das sie
deiner Familie nicht gezeigt haben. Das ist der Kern der Lehre
unseres Erlösers, den aber nur wenige hören wollen. Hörst du zu,
Socrates?«
Seraphim fing wieder an, auf und ab zu laufen, als
ob die Worte besser fließen würden, wenn er sich bewegte. »Wir
wissen beide, dass du ein großer Krieger bist. Du hast gelernt,
Krieg zu führen, aber kannst du auch Frieden führen? Du weißt, wie
man stirbt, aber weißt du auch, wie man lebt? Willst du zerstören
oder aufbauen? Willst du hassen oder lieben? Diese Fragen solltest
du dir stellen. Das ist die Wahl, vor der du stehst.«
»Und das ganze Training?«
»Nichts ist je verschwendet. Du hast den Weg des
Kriegers beschritten, also kämpfe! Kämpfe gegen Hass, kämpfe gegen
Dummheit, kämpfe für Gerechtigkeit. Aber ich sage dir eines: Du
kannst Dunkelheit nicht mit Dunkelheit besiegen, du kannst die
Schatten nur bannen, indem du sie dem Licht aussetzt.«
Sergej hörte, wie Seraphim tief ein- und ausatmete,
während er seinen Blick nach innen wandte. Dann sagte der alte
Mönch: »So oder so, diese Männer werde auch ohne dein Zutun
sterben.«
»Haben Sie eine Vision gehabt? Haben Sie das
gesehen?«
»Keine Vision, ich weiß einfach, dass solche
Menschen sich letzten Endes immer selbst zerstören. Sie werden auf
jeden Fall sterben - so wie alle Menschen sterben müssen.«
Er sah Sergej direkt in die Augen. »Die Frage ist
also: Wofür wirst du dich entscheiden, junger Socrates? Überlege
gut und denke daran, dass deine Entscheidung nicht nur dich allein
betrifft. Du bist nicht der, der ermordet wurde. Es geht auch um
Anja. Welche Art von Leben würde sie sich für dich wünschen?«
Als er wieder allein war, wanderte Sergej über die
ganze Insel. Seraphims Worte hatten das verstärkt, was bereits in
ihm herangewachsen war. In all den Jahren des Trainings hatte er
seinen eigenen Schatten kennen gelernt. Sergej verstand nun, warum
Männer und Nationen einander bekämpfen und wie jeder Akt der
Vergeltung, Verzweiflung und Ignoranz nur zu immer neuen Tragödien
führt.
Sein Hass war erloschen wie ein Feuer, das nicht
mehr mit Holz gefüttert wurde. Als er seinen Schwur losließ, fand
er eine Art vorläufigen Frieden, der aber noch sehr zerbrechlich
war. Wenn er wirklich seine Vergangenheit aufgäbe, würde er dadurch
nicht auch seine Zukunft verlieren? Bisher hatte er immer gewusst,
was er tat, warum er es tat und was sein Ziel war. Seine Aufgabe,
die Mörder seiner Familie zu töten, war beendet. Nun gab es weder
ein Ziel, noch hatte sein Leben einen Sinn.
Sergej schwebte orientierungslos zwischen Himmel
und Erde und wusste nicht mehr, wo seine Bestimmung lag.