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Schon vor dem Vorfall mit Gumlinows Pferd
hatten die Männer immer öfter Vermutungen über Sakoljews geistigem
Gesundheitszustand angestellt. Aber nun hatten sie keine Zweifel
mehr, dass der Ataman verrückt geworden war. Alles schien in die
Brüche zu gehen.
Beim nächsten Überfall waren zwei der Männer
getötet worden: einer von ihnen von einem Juden, der sich mit einer
Mistgabel verteidigt hatte, während seine Frau ängstlich die Kinder
umklammert hielt. Es war dem Juden gelungen, Tschertoski zu
erstechen, bevor er selbst niedergestreckt wurde. Ein anderer wurde
von einem Jungen hinterrücks erstochen, der plötzlich aus seinem
Versteck hervorgeschossen kam. Der Junge hatte Mut, das musste man
ihm lassen, aber dennoch war es das letzte Mal gewesen, dass er
diesen Mut beweisen konnte.
Die Männer waren erschöpft und hatten genug, als
sie ins Lager zurückgeritten kamen. Die, die sich außer Hörweite
des Atamans befanden, sprachen im Flüsterton darüber, sich
davonzumachen. So konnten sie einfach nicht mehr weiterleben. Einer
von ihnen flüsterte seinem Nebenmann zu: »Vielleicht werde ich ja
Mönch.«
Der andere lachte bitter auf und sagte: »Dafür ist
es zu spät, unsere Seelen sind längst verloren.«
Bevor sie aus reiner Gewohnheit am Nachmittag zur
Scheune ging, um zu trainieren, suchte Paulina nach Konstantin. Ihr
Vater würde erst in ein paar Stunden zurückkommen. Sie fand
Konstantin auf einem Felsen in der Nähe des Wasserfalls sitzend.
Stumm starrte er auf das Wasser, das donnernd auf die Felsen
herunterstürzte. Paulina hockte sich neben ihn und erzählte ihm,
dass sie nun bald gehen würde, um die Aufgabe auszuführen, mit der
sie ihr Vater betraut hatte.
»Nur wenige Frauen haben je so etwas getan«, sagte
sie, als ob sie sich selbst vom Wert ihrer Mission überzeugen
müsse. »Deshalb musste ich nie die Pflichten einer Frau übernehmen
und deshalb hat er mir all diese Privilegien gegeben und mich unter
seinen besonderen Schutz gestellt.«
Paulina sah Konstantin forschend an, als ob sie in
seinem Gesicht nach einem Zeichen der Zustimmung suchte, aber seine
Miene verriet ihr nichts.
»Er hat gesagt, ich wurde geboren, um dies zu tun«,
fuhr sie fort. Ihre Augen flehten nach Verständnis und ihre Hand
griff nach seinem Arm. »O Konstantin, ich hoffe nur, dass ich so
weit bin. Mein Vater braucht unbedingt diesen Sieg, um seinen
Seelenfrieden wieder zu finden.«
Dann griff sie in ihre Bluse - woraufhin
Konstantins Herzschlag eine Sekunde lang aussetzte - und holte das
Medaillon hervor. Sie zeigte ihm das verblichene Bild aus einer
Vergangenheit, an die sie selbst keine Erinnerungen hatte.
»Ich tue das auch für sie«, sagte sie erklärend.
»Vater besteht darauf, dass Tomorow mitkommt, aber ich wünschte
mir, du würdest mitkommen.«
In diesem Augenblick hätte er ihr beinahe alles
erzählt, was er wusste. Aber was wusste er denn eigentlich
wirklich? Und wenn er es ihr sagte, würde sie ihm glauben? Es
könnte sein Tod sein und es könnte auch sie in tödliche Gefahr
bringen.
Paulina hatte gehofft, dass Konstantin das Gefühl
des Schicksalhaften mit ihr teilen würde und dass er stolz auf sie
wäre. Aber der Ausdruck immer größer werdender Verzweiflung, der
sich trotz seines offensichtlichen Bemühens, es nicht zu zeigen,
auf seinem Gesicht ausbreitete, erfüllte sie mit einer Trauer, die
sie selbst nicht verstand.
Nachdem ihn Paulina verlassen hatte, um zu
trainieren, beschloss Konstantin, dass er die Siedlung der Lügen
und Täuschungen sofort verlassen müsse. Hier würde er nie mehr als
ein Diener sein und auf einer Stufe mit den Hunden stehen.
Kaum hatte er dies beschlossen, wusste er auch,
dass er alles riskieren musste, um Paulina davon zu überzeugen, mit
ihm zu fliehen. Im Geiste hatte er seine Optionen immer wieder
durchgespielt, aber stets war er zu demselben Ergebnis gekommen:
Sie mussten gemeinsam gehen, es war ihre einzige Chance, jemals
glücklich zu werden. Sie würden um ihr Leben laufen und in eine
glückliche Zukunft hinein. Noch in dieser Nacht mussten sie
aufbrechen.
Konstantin war kein Narr; er wusste, dass es für
Paulina schwer sein würde, sich zwischen den vertrauten Lügen und
der schmerzhaften Wahrheit zu entscheiden, aber er hoffte, dass sie
ihn genug liebte, um alles hinter sich zu lassen.
Aber falls sie es doch nicht fertig bringen sollte,
mit ihm zu gehen, dann würde er alleine fliehen. Er würde sein
Glück machen, reich werden und eines Tages zurückkommen, um sie zu
holen.
Konstantin rannte zur Scheune, in der Paulina
übte, sah sich schnell um, um sicherzugehen, dass sie allein waren
und stieß atemlos hervor: »Paulina, komm heute Abend zum
Wasserfall. Und sag niemandem etwas davon.« Dabei dachte er:
Wenn wir heute Abend noch abhauen, wird uns vor dem Morgen
niemand vermissen.
Vielleicht wäre alles gut gegangen, wenn Elena
nicht gerade zufällig an der Scheune vorbeigekommen wäre. Sie blieb
stehen und hörte mit an, was Konstantin zu Paulina sagte. Sie
versteckte sich, bis der Junge gegangen war, dann ging sie zurück
zu ihrer Hütte.
Konstantin setzte sich wieder in sein Versteck in
der Nähe des Wasserfalls und dachte nach. Es gab so vieles, über
das er nachdenken musste. Er fragte sich, warum Vater Dimitri sein
Versteck eigentlich nie entdeckt hatte. Dann kam ihm der Gedanke,
dass er es ja vielleicht doch entdeckt hatte, dass er es bisher nur
nicht für nötig befunden hatte, sich darum zu kümmern. Der Gedanke
machte ihm Angst.
Konstantin dachte auch übers Beten nach. Einige der
Männer hatten über Gott, Himmel und Hölle geredet, aber das war
alles, was er an religiöser Erziehung genossen hatte. Er hatte noch
nie gebetet, obwohl er gesehen hatte, dass andere es taten. Aber
jetzt betete er, obwohl er nicht wusste, zu wem. Aber wenn es ein
allmächtiges Wesen gab, das seine Bitten erhörte, dann würde es
sicherlich dafür sorgen, dass Paulina nichts geschah. Um ihre Liebe
konnte er allerdings nicht beten, denn die konnte nur sie selbst
ihm schenken.
Mittlerweile waren dunkle Wolken aufgezogen und
hatten den sonnigen Nachmittag plötzlich in einen dunklen Abend
verwandelt. Er würde noch mindestens eine Stunde warten müssen,
vielleicht auch länger.
»Bitte«, flehte er, »wenn du mir zuhörst, Gott, ich
bitte dich, lass sie mit mir gehen!«
Dann fing es heftig an zu regnen. Gut,
dachte er, der Regen wird unsere Spuren verwischen. Er würde
ein Hase sein, der dem Fuchs Sakoljew durch die Fänge
schlüpfte.
Zwei Hasen, erinnerte er sich selbst. Wir
sind zwei Hasen.