7
Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang
erklärte Instruktor Orlow: »Nun, da ihr die theoretischen
Grundlagen für das Überleben in der Wildnis habt, werdet ihr
gemeinsam mit eurem Partner, aber getrennt von den anderen, zu dem
auf der Karte mit einem Kreuz markierten Platz in einem abgelegenen
Teil des Waldes wandern. Jedes Team muss zusammenarbeiten, um zu
überleben. Zieht jetzt eure Kleider aus.«
Die Kadetten glaubten, nicht richtig gehört zu
haben. Immerhin war es erst Ende April und obwohl der Schnee
angefangen hatte zu tauen, war ein großer Teil des Bodens immer
noch weiß und die Luft war eisig kalt.
»Ihr dürft eure Unterhosen anbehalten«, fügte
Alexej hinzu, »aber ihr müsst barfuß laufen, um die Wichtigkeit von
gutem Schuhwerk schätzen zu lernen. Jeder von euch bekommt ein
Messer, jedes Team zusätzlich einen Spaten. Ich erwarte von euch,
dass ihr am Mittag des siebten Tages zurückkehrt und zwar
ausgeruht, satt und gesund. Ich erwarte ferner, dass ihr Schuhe und
Kleider tragt, die ihr selbst hergestellt habt. Noch irgendwelche
Fragen?«
Als sich Sergej bückte, um sein Kleiderbündel
aufzuheben, fing er den besorgten Blick Andrejs auf. Dann musste er
sich beeilen, um Sakoljew nicht aus den Augen zu verlieren, der
sich mit der Karte in den Händen bereits auf den Weg in die Hügel
gemacht hatte.
Nachdem sie einem kleinen Bach bis in die Tiefen
des Waldes gefolgt waren, kamen sie vier Stunden später an den Ort,
der auf der Karte markiert war: eine kleine Lichtung. Jedenfalls
nahm Sergej das an, denn Sakoljew hatte ihn die Karte nicht sehen
lassen. Die Lichtung, die etwa fünfzig Meter vom Bach entfernt lag,
sah nach einem guten Ort aus. Der Bach bedeutete, dass sie Fische
fangen konnten, und - was gleichermaßen wichtig war - dass Tiere
zum Trinken hier entlangkommen würden. Ein überhängender Felsen
bildete eine natürliche Höhlung, die ihnen Schutz gewähren würde.
Den Rest würden sie sich bauen können.
Sergej sah auf seine von der Kälte geröteten Füße,
die nicht nur völlig gefühllos, sondern auch bereits voller Blasen
waren. Gerade wollte er sich daran machen, Material für
verschiedene Fallen zu sammeln, als Sakoljew ihm im Befehlston
zurief: »Mach Feuer!« Also sammelte Sergej trockenes Moos und
kleine Zweige, mit denen er das Feuer in Gang bringen würde. Dann
versuchte er sein Messer gegen verschiedene Steine zu schlagen, um
Funken zu erzeugen, hatte aber keinen Erfolg. Daraufhin spitzte er
ein Stück Holz an und begann dieses in ein anderes Holzstück zu
bohren, um durch die ständige Reibung erst Hitze und schließlich
eine Flamme zu erzeugen. Es dauerte länger, als er gedacht hatte:
fast eine kostbare Stunde. Aber dann gelang es ihm, erst Hitze,
dann Rauch und schließlich Feuer zu erzeugen. Trotz der Blasen an
seinen Händen, die mit denen an seinen Füßen durchaus mithalten
konnten, spürte Sergej eine primitive Befriedigung, als die Zweige
Feuer fingen. Er hatte im Training bereits Feuer gemacht, aber dies
hier war echt. Dieses Mal sicherte das Feuer tatsächlich ihr
Überleben.
In der Zwischenzeit hatte Sakoljew Äste, Steine und
faserige Wurzeln gesammelt, aus denen sie Fallen machen konnten.
Nachdem Sergej ein paar größere Äste auf das Feuer gelegt hatte,
die er mit dem Spaten von einem umgestürzten Baum abgeschlagen
hatte, ging er zu Sakoljew, um ihm bei der Fallenherstellung zu
helfen.
»Hol dir dein eigenes Zeug«, sagte dieser. »Dies
hier ist für meine Fallen!«
So war das also. Sergej war klug genug, die
emporzüngelnden Flammen nicht als »mein Feuer« zu bezeichnen.
Er machte sich in das Unterholz auf, um die
Materialien zu sammeln, die er für die Fallenherstellung brauchte.
Nach einigen Anfangsschwierigkeiten hatte er mehrere Fallen gebaut
und sie an günstigen Plätzen entlang der Tierpfade ausgelegt.
Zusätzlich zu den Schlingenfallen und Fallgruben hatte er aus zwei
jungen Trieben noch zwei Sprungfallen gebaut. Er sorgte dafür, dass
keine der Fallen sichtbar war. Dann legte er im Bach noch zwei
Fischreusen aus.
Als er ins Lager zurückkehrte, war mit dem
hereinbrechenden Abend kalte Polarluft von Norden her gekommen.
Zitternd vor Kälte klopfte Sergej kräftig seine Haut und hüpfte ums
Feuer herum, um sich aufzuwärmen. Er sah, dass Sakoljew sich
mittlerweile einen primitiven Unterstand aus Birkenästen und
-blättern gebaut hatte, der direkt unter dem Überhang und in der
Nähe des Feuers war. In ihm war nur Platz für eine Person.
Das Feuer, das mittlerweile fast ganz
heruntergebrannt war, brauchte dringend neue Nahrung. Sergej
sammelte ein paar Äste und legte sie auf das Feuer, das Sakoljew
für sich beanspruchte. Dann sammelte er noch mehr Zweige und Äste
und machte sich ein zweites Feuer.
Im Feuerschein gelang es Sergej, sich unter einem
anderen Felsüberhang einen provisorischen Unterstand aus
Kiefernzweigen zu bauen. Kaum war er fertig, fing es an zu nieseln.
Das Gute daran war, dass die tief hängenden Wolken wie eine Decke
wirkten, die die schlimmste Kälte abhielt. Zitternd und bis auf
seine Unterhosen nackt, deckte sich Sergej mit Kiefernzweigen zu
und rutschte so lange hin und her, bis er eine einigermaßen bequeme
Position gefunden hatte.
Sakoljews zusammengekauerte Gestalt, die im
Feuerschein nur schwach sichtbar war, zeigte an, dass er es ähnlich
gemacht hatte. Eine Zeitlang lag Sergej noch wach und hörte dem
Regen zu. Es war einfach zu kalt, um zu schlafen. Aber trotz der
Kälte und trotz seines knurrenden Magens erfüllte ihn eine tiefe
Befriedigung. Er hatte Fallen aufgestellt, Feuer gemacht und einen
Unterstand gebaut. Für den Augenblick hatte er überlebt - und das
nicht schlecht. Am Morgen würde er nachschauen, ob er etwas
gefangen hatte und dann weitersehen.
Schließlich wurde Sergej doch von der Erschöpfung
übermannt und fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Als er die Augen wieder aufschlug, sah er als
Erstes seinen dampfenden Atem in der kalten Morgenluft. Er kroch
aus seinem Bett aus Kiefernzweigen und hoffte einen Platz zu
finden, auf den bereits die Sonne schien. Aber es war noch zu früh.
Er ließ Sakoljew weiterschlafen und hüpfte vorsichtig auf seinen
geschundenen Füßen zum Bach hinunter, wo er sich das eiskalte
Wasser ins Gesicht, auf Brust und Schultern klatschte. Dann
schüttelte er das Wasser von sich, klopfte seinen ganzen Körper
kräftig ab und machte Kniebeugen, bis er sich etwas erwärmt
hatte.
Dann kehrte er ins Lager zurück, griff sich sein
Messer und ging stromaufwärts. Trotz der Markierungen, der er auf
Augenhöhe in der Nähe der Fallen hinterlassen hatte, konnte er die
erste Schlinge nicht finden. Ihm fiel ein, was Alexej ihnen immer
wieder eingebläut hatte: »Die Wildnis ist ein unbarmherziger
Lehrer, sie erlaubt wenig Platz für Fehler.« Warum hab ich nur
nicht besser aufgepasst?, schalt Sergej sich selbst. Er ging
weiter und fand die zweite Falle. Sie war leer.
Aber in einer Schlinge fand er ein erschöpftes
Wiesel, das in der Luft baumelte. Vorsichtig näherte er sich dem
Geschöpf, das sich nur noch schwach bewegte. Plötzlich wurde ihm
klar, dass er das Tier würde töten müssen. Als er nach dem Wiesel
griff, knurrte dieses plötzlich und schlug mit seinen Krallen nach
Sergejs Hand. Dann versuchte es auch noch, ihn zu beißen.
In diesem Moment überkam Sergej eine Welle
primitiver Energie. Er packte das Wiesel am Genick und schnitt ihm
die Kehle so heftig durch, dass der Kopf fast abgefallen wäre - und
er sich beinahe selbst in die Hand geschnitten hätte. Das Tier
zuckte noch ein paar Mal, als das Blut aus der Wunde spritzte. Dann
war es still. Das Wiesel war tot.
Keuchend, zitternd und mit klopfendem Herzen besaß
Sergej immerhin noch die Geistesgegenwart, die Schlinge zu öffnen,
statt sie zu zerschneiden. Schließlich würde er sie noch brauchen.
Er hoffte nur, dass ihm das Töten in Zukunft leichter fallen würde.
Aber dann dachte er: Sollte Töten jemals leicht fallen?
Besaß er das Recht, ein anderes Wesen zu töten? Nein, aber er hatte
die Macht dazu. Er tat einfach, was angesichts der Umstände getan
werden musste. Er spürte keine Feindschaft gegenüber dem Tier, das
er getötet hatte, um sich selbst am Leben zu erhalten. Instinktiv
dankte er dem Wiesel für dessen Leben, das sein eigenes erhalten
würde. Er würde nichts davon verschwenden.
Indem Sergej das Wiesel tötete, hatte er seine
Kindheit hinter sich gelassen. Ihm wurde klar, dass auch sein Leben
jeden Augenblick enden konnte. Das hatte nichts mit Gerechtigkeit
zu tun, es konnte purer Zufall sein. Aber indem er aufmerksam war,
sein Wissen und seine Fähigkeiten einsetzte, konnte er seine
Überlebenschancen erheblich verbessern. Das war die erste und
wichtigste Lektion, die ihn die Wildnis lehrte. Als er sich auf
leisen Sohlen der nächsten Falle näherte, fragte sich Sergej,
welcher Art wohl die Fallen sein würden, die auf seinem Lebensweg
auf ihn warteten.
Die dritte Falle war ebenso leer wie die vierte und
fünfte. In der nächsten lag ein Eichhörnchen, das er so schnell und
schmerzlos wie möglich mit einem Stein erschlug. In der letzten
Falle hing ein großes Kaninchen. Das bedeutete Nahrung für mehrere
Tage und neue Schuhe.
Die Wunde, die ihm das Wiesel beigebracht hatte,
fing an zu klopfen. Sergej begann, seine Arme wie wild zu
schwingen, um das Blut zum Fließen zu bringen und so die Wunde zu
säubern. Dann wusch er die Stelle und schrubbte sie mit Sand aus
dem Bach. Zum Schluss pinkelte er darauf, weil Alexej ihnen gesagt
hatte, dass der frische Urin sie vor Infektionen bewahren
würde.
Nachdem Sergej die gefangenen Tiere mit ein paar
Ranken zusammengebunden hatte, stellte er die letzte Falle wieder
auf und macht sich auf den Rückweg ins Lager. Er ging nicht davon
aus, dass er vor dem nächsten Morgen noch mehr fangen würde, aber
vorsichtshalber wollte er am Nachmittag noch einmal nach den Fallen
sehen.
Die Jagd hatte seine primitiven Instinkte erweckt
und seine Sinne geschärft. Er hörte, wie die Regentropfen von den
Blättern tropften und wie in der Ferne Vögel zwitscherten. Seine
Augen nahmen die verschiedenen Schattierungen des Waldes begierig
auf. Als er ins Lager zurückkehrte, traf er auf einen mürrischen
Sakoljew, der dabei war, seinen eigenen Fang abzuhäuten: ein
Eichhörnchen. Das bedeutete eine magere Mahlzeit und einen
Schuh.
Sergej wusste, dass es ihm übel ergehen würde, wenn
Sakoljew seinen Fang sah, aber er konnte ihn nicht verstecken. Also
zwang er sich, ruhig auf Sakoljew zuzugehen, das Eichhörnchen, das
Wiesel und das Kaninchen neben dessen Eichhörnchen auf den Boden zu
legen und diplomatisch zu sagen: »Die hier sind aus unseren anderen
Fallen.«
Sakoljew starrte die Tiere an. Dann sagte er nur:
»Der heilige Sergej hat mal wieder zugeschlagen.« Und damit wandte
er seine Aufmerksamkeit wieder dem Häuten seiner eigenen Beute zu.
Sergej machte sich daran, die Tiere so gut wie möglich auszunehmen.
Es war eine blutige und schmutzige Arbeit, die durch seine
Unerfahrenheit noch schwieriger wurde. Während des Trainings hatte
er nur einmal geholfen, ein Kaninchen und einen Hirsch
auszunehmen.
Am frühen Nachmittag hatten sie das Fleisch in
Streifen geschnitten und zwischen zwei Bäumen aufgehängt. Auf
Gestellen aus jungen Schösslingen hatten sie die Häute gespannt.
Das Wieselfell war nicht groß genug, um Sergejs Schultern zu
bedecken, aber es war immerhin ein Anfang. Als er Sakoljew das
Eichhörnchen gab, das er gefangen hatte, und dazu sagte: »Für
deinen anderen Schuh«, nahm dieser es ohne jeden Kommentar
an.
Über dem Feuer brieten sie das in Streifen
geschnittene Kaninchen. Es war ihre erste Mahlzeit hier draußen.
Nach dem Essen sammelte Sergej weitere Zweige und biegsame Äste, um
seinen provisorischen Unterstand zu verstärken.
Als sie an diesem Abend schweigend vor ihren beiden
Feuern saßen, sah Sergej die Sterne auftauchen und wie Eiskristalle
vor dem tiefen Blau des Himmels glitzern. Weißer Rauch und Funken
stiegen in die Höhe und verschwanden in der Nacht. Nachdem er
Sakoljew, der tief in Gedanken versunken in die Glut starrte, einen
letzten Blick zugeworfen hatte, kroch Sergej in sein Bett aus
Kiefernzweigen. Kurz bevor er einschlief, ging ihm noch die Frage
durch den Kopf: Warum hat Sakoljew bloß mich
ausgesucht?
Am nächsten Morgen fand Sergej wieder ein
Eichhörnchen in einer Falle und in der, mit der er schon das Wiesel
gefangen hatte, lag ein Waschbär. Statt zu versuchen, das zischende
und knurrende Tier zu packen, machte er sich aus einem dicken Ast
eine Keule und schlug den Waschbären besinnungslos, bevor er ihm
das Leben nahm. Bevor er ins Lager zurückkehrte, überprüfte er noch
die Fischreusen und fand zwei Fische darin.
Sakoljew hatte wieder nur ein Eichhörnchen und ein
krank wirkendes Stinktier gefangen, das zwar wegen des Felles
brauchbar war, aber nicht wegen des Fleisches. Als Sakoljew Sergejs
Beute sah, starrte er ihn nur an, sagte aber nichts.
Behutsam legte Sergej die beiden Fische, das
Eichhörnchen und den Waschbären auf einen flachen Felsen. »Ich
hatte einfach Glück«, sagte er, »heute können wir uns den Bauch
voll schlagen.« Dann hielt er lieber den Mund und fragte sich, was
Sakoljew wohl durch den Kopf ging.
Nach dem Essen machte sich Sergej satt und
zufrieden daran, die Umgebung zu erforschen. Er wollte vor allem
weg von dem mürrischen Sakoljew. Er verbrachte zwei Stunden damit,
die nähere Umgebung des Lagers zu erkunden, den Bach auf
Fischvorkommen zu untersuchen und sich mit dem Wald vertraut zu
machen. Gerade wollte er ins Lager zurückkehren, als er in der
Ferne den Hufschlag eines Hirsches hörte. Er erstarrte mitten in
der Bewegung, wartete und lauschte. Erst Stille, dann ein paar
Hufschläge, dann wieder Stille. Da sich Sergej nicht in
Windrichtung des Hirsches befand, würde das Tier seine Witterung
nicht aufnehmen können. Sergej machte sich so klein wie möglich und
schlich sich vorsichtig an.
Ein paar Minuten später sah er ihn: einen riesigen
Hirsch in knapp zwanzig Metern Entfernung, der sich an dem frischen
Gras gütlich tat. Alle paar Augenblicke drehten sich seine großen
Ohren und er sah sich wachsam um. Sergej verhielt sich absolut
still und bewegte sich nicht. Als dann der Hirsch einige Schritte
auf ihn zukam, wurde Sergej klar, dass er auf einem Hirschpfad
stand und sich zwischen dem Tier und dem Bach befand.
Ihm kam eine wahnwitzige Idee: Er würde den Hirsch
jagen und erlegen. Die Zeit reichte nicht, um ins Lager
zurückzugehen und Sakoljew zu holen. Es musste jetzt sein, denn
eine solche Gelegenheit würde sich ihm wahrscheinlich nie wieder
bieten. Dieses eine Tier würde ihnen genug Nahrung und Fell geben,
um alle ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Voller Aufregung erstieg
Sergej einen Baum, der direkt neben dem Pfad wuchs.
Er kletterte auf einen überhängenden Ast, machte es
sich so bequem wie möglich und wartete. Er konnte den Hirsch zwar
nicht mehr sehen, aber er würde einfach warten, bis er unter ihm
vorbeikam. Und fünfzehn Minuten später war es dann tatsächlich so
weit. Der Hirsch kam und graste direkt unter dem Ast. Jetzt oder
nie, dachte Sergej und sprang mit dem Messer in der Hand vom
Ast direkt auf den Rücken des Hirsches. Er drückte einen Arm um den
mächtigen Nacken des Tieres und während dieses wie verrückt bockte
und mit den Hufen in die Luft schlug, schnitt er ihm mit der
anderen Hand die Kehle durch. Erst einmal, dann noch ein zweites
Mal. Der Hirsch bockte weiterhin wie wild, obwohl das Blut in einer
riesigen Fontäne aus seiner Wunde schoss. Sergej wurde klar, dass
ihn der Hirsch aufspießen oder zu Tode trampeln würde, sollte er
jetzt abgeworfen werfen. Er zielte mit dem Messer auf eine Stelle
knapp oberhalb des linken Vorderbeines und stieß es tief hinein,
durch die Rippen mitten ins Herz.
Sein Training hatte sich gelohnt. Das Tier fiel wie
vom Blitz getroffen zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Sergej war trotz seines wie wild klopfenden Herzens
und seines stoßweise gehenden Atems außer sich vor Freude. Aber er
empfand angesichts der brutalen Tat, die er gerade begangen hatte,
auch tiefe Traurigkeit. Als er sich auf den Rückweg ins Lager
machte, erinnerte er sich an einen Satz, den Alexej einmal gesagt
hatte: »Wenn ihr in der Wildnis seid, müsst ihr wild sein.«
Sergej kam blutverschmiert und immer noch keuchend
zum Lager zurück und erzählte Sakoljew von seinem Hirsch. Erst
dachte er, der Ältere würde ihm nicht glauben, aber Sakoljew kam
mit und sah mit eigenen Augen das stolze Geschöpf tot
daliegen.
Sergej beobachtete seinen Mitkadetten genau, als
dieser den erlegten Hirsch erblickte. Er sah, wie Sakoljews Gesicht
erst einen Ausdruck der Überraschung annahm, die dann aber schnell
zu mühsam in Schach gehaltener Wut wechselte. Allerdings sagte er
kein Wort. Stattdessen zog er sein Messer, schnitt ein paar Ranken
ab und begann den Hirsch auszunehmen. »Los jetzt!«, bellte er
Sergej an, »steh nicht so blöd herum. Mach dich nützlich!«
Sie ließen die Gedärme für die Aasfresser zurück
und bauten sich ein Traggestell, auf dem sie den Kadaver zurück zum
Lager zogen. Sie brauchten den ganzen Tag, um das Tier zu
schlachten, die Haut aufzuspannen und das Fleisch in Streifen zu
schneiden. Der Hirsch war so groß, dass sie genug Nahrung für den
Rest der Woche hatten. Aber fast noch wichtiger war, dass sie nun
mit dem Hirsch und den anderen von Sergej gefangenen Tieren
genügend Felle hatten, um Schuhe, Hemden und Hosen daraus zu
machen. Und Sergej hatte zudem noch eine Waschbärenmütze.
An jenem Abend wusch sich Sergej kurz vor Einbruch
der Dämmerung das Blut von der Brust und den Beinen. Dann schlich
er durch den Wald und zerstörte die Fallen. Es war nun nicht mehr
nötig, noch weitere Tiere zu töten.
Sie brauchten den größten Teil der beiden
verbleibenden Tage, um sich je ein paar leidlich steife Lederhosen
und -hemden zu schneidern. Sie ließen das Fell stundenlang im Bach
weichen, bevor sie das Haar und Fleisch abschaben konnten. Dann
mussten sie es mehrmals waschen, um auch die letzten Fettreste zu
entfernen. Sie konnten das Fell natürlich nicht richtig gerben, da
sie weder Salz noch Kalk hatten, aber sie rieben es erst mit dem
Gehirn des Hirsches ein, dann mit Asche vom Feuer, wie man es ihnen
beigebracht hatte. Nachdem sie zum Schluss noch lederne Schnüre
zurechtgeschnitten hatten, die die Lederhosen und -hemden
zusammenhalten würden, sahen sie aus wie echte Waldläufer.
Der letzte Tag verging wie im Flug. Sakoljew sprach
Sergej nur an, wenn es unumgänglich war, aber auch dann war er kurz
angebunden und sprach in einem beleidigenden Ton.
Eine Stunde vor Anbruch der Dämmerung war Sergej
allein im Lager. Er dachte gerade an den Rückweg am morgigen Tag,
als er einen schwachen Schrei hörte. Zuerst dachte er, es habe sich
um ein Tier gehandelt, und legte neues Holz aufs Feuer. Aber dann
hörte er den Schrei wieder. Es war eindeutig Sakoljews Stimme.
Schnell rannte er los, um herauszufinden, was geschehen war. Da
hörte er es wieder: »Iwanow!«
Sergej fand Sakoljew am Grund eines ziemlich
steilen Abhangs. Er war so dicht mit schlüpfrigem Moos bewachsen,
dass auch Sergej fast den Halt verloren hätte und abgestürzt wäre.
Im Dämmerlicht konnte er sehen, dass Sakoljew sich abmühte, seinen
Knöchel herauszuziehen, der zwischen zwei Steinen eingeklemmt war.
Außer sich vor Wut - so als ob Sergej dafür verantwortlich wäre -
schnaubte Sakoljew: »Steh nicht so blöd herum, du Idiot! Hol einen
Ast, aber dalli!«
Sergej hatte zwar das Messer bei sich, aber er
hatte den Spaten, der auch als Beil dienen konnte, nicht
mitgebracht. »Ich bin gleich wieder da!«, rief er und rannte so
schnell er nur konnte durch den dunkler werdenden Wald, um den
Spaten zu holen. Auf dem Rückweg sah er einen dicken, geraden Ast,
der als Hebel benutzt werden konnte. Er hackte solange darauf los,
bis der Ast endlich abbrach.
Als er zu Sakoljew zurückkam, war der dermaßen
außer sich vor Wut, dass er kaum noch sprechen konnte. Sergej war
sich nur zu bewusst, dass diese Situation für Sakoljew die
ultimative Schande sein musste. Sergej hatte sich nicht nur als
besserer Fallensteller erwiesen, sondern auch noch einen großen
Hirsch erlegt. Und nun rettete ausgerechnet Sergej der Heilige
Sakoljew das Leben.
Sergej wusste, dass alles geschehen könnte, wenn er
den Älteren aus seiner misslichen Lage befreite. Aber er war sich
sicher, dass er weder Dank noch Anerkennung ernten würde. Es kam
ihm der Gedanke, Sakoljew einfach sich selbst zu überlassen. Aber
er verwarf ihn gleich wieder.
Nachdem es ihm gelungen war, den Ast unter einen
der Steine zu schieben, dauerte es nicht mehr lange, bis Sakoljew
seinen Fuß herausziehen konnte. Sein Knöchel war zwar geprellt,
aber nicht gebrochen. Sergej sah in weiser Voraussicht davon ab,
Sakoljew noch weitere Hilfe anzubieten. Er gab ihm den Ast als
Krücke und ließ ihn allein. Als er zum Lager zurückging, überkam
Sergej eine böse Vorahnung. Er wusste, dass er sich mit dieser
Rettungsaktion einen Feind fürs Leben gemacht hatte.
Als Sakoljew schließlich ins Lager zurückgehumpelt
kam, tat Sergej so, als wäre er damit beschäftigt, seinen
Unterstand weiter zu verbessern. Er wusste, dass ein einziges Wort
oder ein einziger Blick Sakoljew explodieren lassen würde. Zudem
musste er tatsächlich das Dach verstärken, denn die tief hängenden
Wolken kündigten starken Regen an. Er hoffte, er würde in dieser
letzten Nacht im Wald gut und trocken schlafen können.
Aber er sollte überhaupt nicht gut schlafen. Er
lauschte auf alle Geräusche, die sich von den niederfallenden
Regentropfen abhoben. Irgendwann musste er dann doch eingeschlafen
sein, denn er wachte mitten in der Nacht auf, weil es heftig
donnerte und blitzte. Er riss die Augen auf, konnte aber außer den
Kiefernzweigen seines Unterstandes nichts sehen. Aber er konnte
nicht wieder einschlafen. Irgendetwas stimmte nicht. Als es wieder
blitzte, sah er - oder glaubte zu sehen - direkt vor dem Unterstand
zwei Beine und einen Rumpf. Er bewegte - vor Angst fast gelähmt -
unmerklich seinen Kopf. Als es erneut blitzte, gewährte ihm das
gleißende Licht einen kurzen Blick auf Sakoljew, der vor dem
Unterstand hockte und ihn anstarrte. In der Hand hielt er ein
Messer. Sergej war sich sicher, dass sein letztes Stündlein
geschlagen hatte.
Es war nur eine Sekunde lang hell. Sergej starrte
in die Dunkelheit und hielt den Atem an. Dann offenbarte ihm der
nächste Blitz, dass die Gestalt verschwunden war. Hatte er alles
nur geträumt? Oder fantasiert? Er war sich nicht sicher. Erschöpft
sank er zurück auf sein Lager und atmete stoßweise, während draußen
der Regen in Sturzbächen hernieder fiel und sich das Donnergrollen
allmählich in der Ferne verlor. Das Nächste, was er wusste, war,
dass es bereits heller Tag war. Er sprang auf und sah, dass
Sakoljew noch fest schlief.
Als Sergej seinen Unterstand abbaute und die Asche
des Feuers verstreute, stand Sakoljew auf, nahm sein Messer und den
Spaten und verließ ohne ein Wort das Lager. Wieder einmal fragte
sich Sergej, warum Sakoljew sich ausgerechnet ihn als Partner
ausgesucht hatte. Aber das spielte jetzt eigentlich keine Rolle
mehr.
Als er sich später seinen Weg durch das felsige,
dicht bewaldete Gelände bahnte, dachte Sergej daran, dass er nicht
nur die Gefahren der Wildnis überlebt hatte, sondern auch die, die
von seinem merkwürdigen Genossen ausging. Er wusste, dass er von
nun an ebenso wie Alexej überall in der Wildnis überleben
würde.
Sergej kam wie befohlen mittags zurück. Die meisten
der zweiunddreißig Kadetten waren bereits eingetroffen. Noch von
weitem sah Sergej Sakoljew inmitten einer Gruppe halbnackter
jüngerer Knaben stehen, die ihn anhimmelten. Als Sakoljew ihn sah,
zeigte er mit dem Finger auf ihn und sagte etwas zu den Jungen,
woraufhin diese lauthals zu lachen begannen.
Sergej ignorierte sie und sah sich nach Andrej um.
Wie es ihm wohl ergangen war? Aber er sah ihn nirgends. Als er sich
wieder umdrehte, war Sakoljew mit seiner Gruppe näher gekommen.
Einige der Jüngeren kicherten. Einer, der meinte, besonders mutig
sein zu müssen, um sein Idol zu beeindrucken, sagte in
sarkastischem Tonfall: »Du hast ja tatsächlich den Weg
zurückgefunden. Kaum zu glauben!«
Sergej starrte ihn nur stumm an. Er konnte sich
lebhaft vorstellen, was Sakoljew den Jungen erzählt hatte. Als sich
die Gruppe entfernte, drehte sich einer von ihnen noch einmal um
und rief: »Du hast Glück gehabt, dass Dimitri das Hirschfell mit
dir geteilt hat, sonst wärst du jetzt nackt.« Dann rannte er
schnell weiter.
In diesem Augenblick sah Sergej einen müden, aber
strahlenden Andrej mit seinem Partner ins Lager kommen. Die beiden
hatten grobe lange Hemden an, aber keine Hosen, und an den Füßen
trugen sie Lederstücke, die sie sich mit dicken Schnüren um die
Füße gewickelt hatten. Er sah, wie sie einander angrinsten - zwei
halbnackte Jungen, die eine kunterbunte Mischung aus Kaninchen-,
Waschbär-, Mäuse-, Stinktier-, Fuchs- und Eichhörnchenfellen
trugen.
Dies war das intensivste Erlebnis gewesen, das
Sergej in seinem kurzen Leben bisher gehabt hatte. Er hoffte nur,
dass er nie wieder mit Dimitri Sakoljew allein sein müsste.