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Als Sergej Seraphim das nächste Mal sah,
überraschte ihn der alte Mönch wieder einmal, aber diesmal nicht
mit einem Tritt oder einem Schlag. Sergej hatte erwartet, dass
Seraphim ihm vom friedlichen Leben der Mönche auf Walaam
vorschwärmen würde, aber stattdessen sagte der Vater ernst: »Du
musst die Insel verlassen, Sergej, und zwar sofort!«
Sergej stand wie vor den Kopf geschlagen da und
fragte ungläubig: »Verlassen? Und wohin soll ich gehen?«
»Lass uns einen Spaziergang machen, dann erzähle
ich dir alles. Und wenn ich fertig bin, hoffe ich, dass du deine
Sachen packst und dich verabschiedest, bevor du auf dein neues
Pferd steigst.«
Völlig verwirrt beschloss Sergej, dennoch den Mund
zu halten und zu warten, bis Seraphim ihm alles erklärt hatte. Sie
gingen weiter und der alte Mönch fuhr fort: »Erinnerst du dich,
dass du mich vor ein paar Tagen gefragt hast, wohin du wohl gehen
würdest, und ich dir geantwortet habe, dass wir später darüber
sprechen würden?«
»Natürlich.«
»Nun, es ist an der Zeit. Ich habe gerade einen
Brief bekommen, demzufolge sie sich auf dem Dach der Welt
versammeln.«
»Seraphim, ich kann Ihnen einfach nicht folgen. Ich
weiß noch nicht einmal, was Sie mit dem neuen Pferd gemeint haben -
ganz abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe, wer ›sie‹
sind.«
Seraphim lachte, als er sagte: »Na ja, ganz so neu
ist das Pferd nun auch wieder nicht, es hat sogar schon einige
Jahre auf dem Buckel. Etwas Geduld, ich werde dir gleich alles
erklären.« Gegen Nachmittag hatte Sergej seine wenigen
Habseligkeiten gepackt und sich von den Brüdern der Einsiedelei
verabschiedet. Sie nahmen es mit einem Nicken und einem Lächeln zur
Kenntnis, bevor sie sich wieder ihren Pflichten zuwandten.
Bevor er sich von Seraphim verabschiedete, saß
Sergej noch einige Minuten still da und dachte über das nach, was
dieser ihm erzählt hatte. »Meine Aufgabe ist beendet«, hatte
Seraphim gesagt, »aber es gibt andere, die dir weiterhelfen können.
Ich habe von einem Treffen der Meister gehört, die alle gute und
vertrauenswürdige Freunde von mir sind. Jeder stammt aus einer
anderen religiösen Tradition und jeder von ihnen ist stolz auf
seinen Weg, so wie ich stolz auf meinen Weg bin. Aber sie sind über
alle äußeren Dogmen hinausgegangen und haben sich den spirituellen
Wahrheiten und inneren Wegen zugewandt, die den Kern aller
Religionen bilden.
Ich kann nicht sagen, wer alles da sein wird, aber
wahrscheinlich wirst du einen Meister der Sufis kennen lernen,
einen Zen-Roshi, einen daoistischen Weisen, einen Yogi der Hindus,
einen jüdischen Rabbiner, eine Kahuna aus Hawaii, eine christliche
Mystikerin aus Italien und einen Meister der Sikhs.«
Seraphim unterbrach sich und lächelte, als er
sagte: »Und höchstwahrscheinlich wirst du einem Mann namens Georg
begegnen, der in keine dieser Traditionen passt und doch in alle.
Er hat die Versammlung einberufen. Es gibt ein Sprichwort in dieser
Gemeinschaft, das heißt: ›Ein Licht, aber viele Lampen.‹ Jeder der
Meister ist eine solche Lampe, jeder von ihnen bringt seine eigenen
Praktiken, Prinzipien und Sichtweisen ein, um den Menschen zu
helfen, das Tor zur geistigen Welt zu öffnen - zu erwachen.«
»Erwachen?«
»Um in die Wirklichkeit des Transzendenten hinein
zu erwachen«, antwortete Seraphim. »Und um dieses Ziel zu
erreichen, treffen sie sich und tauschen Erfahrungen aus. Ich
glaube, es ist ihr Ziel, die absolut essentiellen Übungen für
Körper, Geist und Seele zu finden. Sie wollen einen universellen
Weg schaffen, der frei von allen Dogmen und kulturellen Eigenheiten
ist.
Ich will dich nicht mit ihren Namen belasten, denn
die wirst du noch früh genug erfahren. Du musst nur wissen, dass
sie sich bald treffen, nämlich in etwa drei Monaten, und dass du
deine Abreise nicht hinauszögern darfst.«
Er fügte hinzu: »Die Reise wird anstrengend sein,
aber du hast ja schon einige anstrengende Reisen hinter dir.«
»Sie haben mir noch nicht gesagt, wohin ich reisen
werde«, warf Sergej ein.
»Ach ja, natürlich. Schau her.« Mit diesen Worten
griff Seraphim in seine Kutte und holte eine Landkarte
hervor.
»Ich habe eine mögliche Route eingezeichnet. Du
musst ins Ferganatal in eine Stadt namens Margelan reiten. Sie
liegt in Usbekistan, im Pamirgebirge. Manche Menschen bezeichnen
diese Gegend als das Dach der Welt.«
Seraphim gab ihm einen Brief. »Dies ist ein
Empfehlungsschreiben von mir. Geh zu ihnen, hilf ihnen, höre zu und
lerne. Du magst dies als mein Abschiedsgeschenk betrachten. Das
Timing ist einfach zu perfekt, als das man dies als reinen Zufall
abtun könnte. Die Möglichkeit ergab sich, als du aus freien Stücken
beschlossen hast, nicht mehr auf Rache zu sinnen. Diese
Entscheidung, dieser große Schritt, hat diese Reise
ermöglicht.
Deine Entscheidung, den höheren Weg zu beschreiten,
rechtfertigt all das, was ich dich in den letzten Jahren gelehrt
habe. Socrates, dadurch, dass du nicht meine Fehler wiederholst und
von dem Weg, der ins Dunkel führt, abgelassen hast, hast du mir ein
Geschenk gemacht, dessen Wert sich gar nicht bemessen lässt.«
Die kräftige Stute - eines der wenigen Pferde auf
Walaam - war ein Geschenk von Seraphim. Mit Zustimmung der anderen
Klostervorsteher hatte er Sergej zudem Vorräte und einhundert Rubel
mit auf den Weg gegeben. »Behalte das Pferd, so lange es dich
trägt.« Sergej nannte die Stute »Paestka« - Reise.
Vater Seraphim schaute zu, wie Sergej sich in den
Sattel schwang, den einer der Brüder irgendwo gefunden hatte. Die
Augen des alten Mönches leuchteten und seine Haut schien
durchsichtig zu sein, als ob er nicht aus Fleisch gemacht wäre,
sondern aus Licht.
Sergej wollte sich noch einmal bedanken und
verabschieden, aber Vater Seraphim hob die Hand, um ihn zum
Schweigen zu bringen. »Für uns gibt es keine Abschiede,
Socrates.«