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Anfang Juli, als die Sommerhitze mit Macht
über Sankt Petersburg herfiel, war Sergej zu der Überzeugung
gekommen, dass seine innere Unruhe völlig normal für einen
werdenden Vater war. Aber er sorgte sich immer mehr, weil er nie
zuvor ein solches Glück gekannt hatte und es unter allen Umständen
bewahren wollte.
Er erinnerte sich daran, dass sein Großvater zu ihm
gesagt hatte: »Es wird Zeiten geben, mein kleiner Socrates, da
wirst du wollen, dass sich die Dinge verändern. Aber es wird auch
Zeiten geben, in denen du willst, dass sich nie etwas ändert. Aber
das Leben ist ein Buch, das von Gott geschrieben wird und nicht von
uns.«
An diese Worte musste er denken, als er in der
Zeitung von den Gerüchten über Überfälle auf jüdische Siedlungen im
Süden las. Wieder hatte er dieses ungute Gefühl im Bauch. Aber dann
dachte er daran, dass sie schon in ein paar Monaten in Amerika sein
würden. Und irgendwann würden auch Valeria und Andreas
nachkommen.
Da sie jeder Tag der bevorstehenden Trennung näher
brachte, nahmen die Abende, an denen die Familie zusammensaß, eine
geradezu religiöse Färbung an. Valeria wich nicht von der Seite
ihrer Tochter und wollte ständig um sie sein. Sergej ließ ihr ihren
Willen, denn schließlich hatten er und Anja noch ein ganzes Leben
vor sich, während sich Valerias Zeit mit ihrer Tochter dem Ende
zuneigte.
Als sich Valeria eines Abends zu ihm setzte, legte
er die Zeitung aus der Hand und sah sie fragend an.
»Ich hoffe, das Abendessen hat dir geschmeckt,
Sergej.«
»O ja, vielen Dank.«
»Anja ist schon zu Bett gegangen, um noch etwas zu
lesen. Wir sollten uns einmal unterhalten.«
»Natürlich.«
Nach anfänglichem Zögern sagte Valeria: »Es ist
wunderbar, eine Mutter zu sein, Sergej, aber manchmal bricht es mir
auch das Herz. Denn die, die wir lieben, werden umso mehr vermisst,
wenn sie fortgehen. Wenn ich mich jetzt mit Anja unterhalte, kann
ich ihr nie sagen, was ich wirklich fühle. Ich möchte ihr sagen,
wie sehr ich sie liebe, aber sie kann das nicht verstehen. Sie wird
es erst verstehen, wenn sie selbst ein Kind großgezogen hat. Dann
wird sie es verstehen und sie wird mich vermissen. Sie wird mich
furchtbar vermissen.«
Valeria fing an zu weinen. Da Sergej nicht wusste,
was er tun sollte, saß er einfach still neben ihr. Er versuchte gar
nicht erst, sie zu trösten, denn wie kann man eine Mutter trösten,
wenn die Stunde des Abschieds naht? Nach einer Weile ließ Valeria
seine Hand los, die sie fest umklammert gehalten hatte, dankte ihm
dafür, dass er ihr zugehört hatte und stand auf, um in ihr Zimmer
zu gehen.
Die nächsten Worte waren nicht für ihn bestimmt,
sondern mehr geflüsterte Gedanken. Valeria sprach wie im Schlaf:
»Eine Großmutter sollte bei ihrem Enkelkind sein …« Dann seufzte
sie noch einmal tief auf und ging in ihr Zimmer.
Es war klar, was sie quälte. Sie wollte mit ihnen
gehen, aber sie konnte es nicht über sich bringen, Russland zu
verlassen. Ihre Wurzeln waren hier, aber ihr Herz würde sich immer
nach dem Enkel jenseits des Meeres sehnen.
Obwohl die Geburt erst in ein paar Wochen sein
würde, wurde Valeria von Tag zu Tag nervöser - nicht wegen der
Geburt an sich, sondern weil sie die Abreise ihrer Tochter mit sich
bringen würde.
Valerias Gefühle gegenüber Sergej wurden immer
zwiespältiger. Einerseits mochte sie ihn, andererseits war er der
Mann, der ihre Tochter und ihr Enkelkind in ein fernes Land
entführen würde.
In den letzten Wochen vor der Geburt kündigte
Sergej seine Stellung, besorgte Koffer und die Fahrkarten nach
Hamburg und half Anja zu entscheiden, welche Dinge sie mitnehmen
wollten. Valeria ihrerseits war eifrig damit beschäftigt, sich auf
die Geburt ihres Enkels einzurichten. So bereiteten sich die einen
auf eine Ankunft, die anderen auf einen Abschied vor.
Am dritten Sonntag im Juli bat Anja Sergej,
gemeinsam zu einem Picknick auf ihrer »Glückswiese« zu fahren, wo
sie ihre geschwollenen Füße im kalten Wasser der Newa kühlen
wollte. Sergej war bei diesem Gedanken nicht wohl, weil er fand,
dass sie in der Nähe des Hauses bleiben sollten - für alle
Fälle.
»Ist es nicht schon etwas spät für eine so
holperige Fahrt?«, fragte er.
»Ich habe zwar das Gefühl, ich platze jeden
Augenblick«, erwiderte Anja, »aber ich möchte an die frische Luft
und noch einmal einen Tag allein mit dir verbringen.«
Sergej half Anja auf den Wagen. Eine besorgt
aussehende Valeria gab ihnen den Essenskorb. »Mach dir keine
Sorgen, wir sind vor Sonnenuntergang zurück«, versicherte Sergej
ihr und schnalzte mit der Zunge, worauf sich das Pferd in Bewegung
setzte.
Als sie neben dem Kanal den Newski Prospekt entlang
fuhren und sich dann nach Norden wandten, fragte Sergej: »Anja,
meine Liebste, glaubst du an das Schicksal?«
»Ich glaube an dich.«
»Das weiß ich«, sagte er lachend und küsste ihr
Haar, »aber glaubst du außerdem noch an das Schicksal?«
»Wie sollte ich das nicht, wenn dich so merkwürdige
Umstände zu mir gebracht haben?« Sie legte die Hände auf den Bauch.
»Und nun erwarten wir ein Wunder.« Sie nahm Sergejs Hand vom Zügel
und legte sie auf ihren Bauch. »Kannst du ihn fühlen?«
Zuerst fühlte Sergej nichts, aber dann spürte er
erst eine zarte Bewegung und kurz darauf eine stärkere. »Ich
glaube, er boxt bereits«, sagte er lächelnd und
überglücklich.
Auf ihrem Weg zur Wiese kamen sie an einem
Bauernhof vorbei. Anja, die in diesem Augenblick in die ganze Welt
verliebt war, lächelte und winkte dem Bauern fröhlich zu, der den
Gruß mit einem Nicken erwiderte.
Kurz darauf kamen sie auf der Wiese an. Sergej
hatte vorgehabt, die Decke in die Mitte zu legen - dorthin, wo er
den Schatz seines Großvaters ausgegraben hatte -, aber die
drückende Hitze ließ es ihm klüger erscheinen, sich am Rand im
Schatten der Bäume niederzulassen. Sie breiteten die Decke aus,
holten das Essen hervor und schauten zufrieden auf das im
Sonnenlicht liegende Grün.