19
Anfang Juli, als die Sommerhitze mit Macht über Sankt Petersburg herfiel, war Sergej zu der Überzeugung gekommen, dass seine innere Unruhe völlig normal für einen werdenden Vater war. Aber er sorgte sich immer mehr, weil er nie zuvor ein solches Glück gekannt hatte und es unter allen Umständen bewahren wollte.
Er erinnerte sich daran, dass sein Großvater zu ihm gesagt hatte: »Es wird Zeiten geben, mein kleiner Socrates, da wirst du wollen, dass sich die Dinge verändern. Aber es wird auch Zeiten geben, in denen du willst, dass sich nie etwas ändert. Aber das Leben ist ein Buch, das von Gott geschrieben wird und nicht von uns.«
An diese Worte musste er denken, als er in der Zeitung von den Gerüchten über Überfälle auf jüdische Siedlungen im Süden las. Wieder hatte er dieses ungute Gefühl im Bauch. Aber dann dachte er daran, dass sie schon in ein paar Monaten in Amerika sein würden. Und irgendwann würden auch Valeria und Andreas nachkommen.
Da sie jeder Tag der bevorstehenden Trennung näher brachte, nahmen die Abende, an denen die Familie zusammensaß, eine geradezu religiöse Färbung an. Valeria wich nicht von der Seite ihrer Tochter und wollte ständig um sie sein. Sergej ließ ihr ihren Willen, denn schließlich hatten er und Anja noch ein ganzes Leben vor sich, während sich Valerias Zeit mit ihrer Tochter dem Ende zuneigte.
Als sich Valeria eines Abends zu ihm setzte, legte er die Zeitung aus der Hand und sah sie fragend an.
»Ich hoffe, das Abendessen hat dir geschmeckt, Sergej.«
»O ja, vielen Dank.«
»Anja ist schon zu Bett gegangen, um noch etwas zu lesen. Wir sollten uns einmal unterhalten.«
»Natürlich.«
Nach anfänglichem Zögern sagte Valeria: »Es ist wunderbar, eine Mutter zu sein, Sergej, aber manchmal bricht es mir auch das Herz. Denn die, die wir lieben, werden umso mehr vermisst, wenn sie fortgehen. Wenn ich mich jetzt mit Anja unterhalte, kann ich ihr nie sagen, was ich wirklich fühle. Ich möchte ihr sagen, wie sehr ich sie liebe, aber sie kann das nicht verstehen. Sie wird es erst verstehen, wenn sie selbst ein Kind großgezogen hat. Dann wird sie es verstehen und sie wird mich vermissen. Sie wird mich furchtbar vermissen.«
Valeria fing an zu weinen. Da Sergej nicht wusste, was er tun sollte, saß er einfach still neben ihr. Er versuchte gar nicht erst, sie zu trösten, denn wie kann man eine Mutter trösten, wenn die Stunde des Abschieds naht? Nach einer Weile ließ Valeria seine Hand los, die sie fest umklammert gehalten hatte, dankte ihm dafür, dass er ihr zugehört hatte und stand auf, um in ihr Zimmer zu gehen.
Die nächsten Worte waren nicht für ihn bestimmt, sondern mehr geflüsterte Gedanken. Valeria sprach wie im Schlaf: »Eine Großmutter sollte bei ihrem Enkelkind sein …« Dann seufzte sie noch einmal tief auf und ging in ihr Zimmer.
Es war klar, was sie quälte. Sie wollte mit ihnen gehen, aber sie konnte es nicht über sich bringen, Russland zu verlassen. Ihre Wurzeln waren hier, aber ihr Herz würde sich immer nach dem Enkel jenseits des Meeres sehnen.
Obwohl die Geburt erst in ein paar Wochen sein würde, wurde Valeria von Tag zu Tag nervöser - nicht wegen der Geburt an sich, sondern weil sie die Abreise ihrer Tochter mit sich bringen würde.
Valerias Gefühle gegenüber Sergej wurden immer zwiespältiger. Einerseits mochte sie ihn, andererseits war er der Mann, der ihre Tochter und ihr Enkelkind in ein fernes Land entführen würde.
In den letzten Wochen vor der Geburt kündigte Sergej seine Stellung, besorgte Koffer und die Fahrkarten nach Hamburg und half Anja zu entscheiden, welche Dinge sie mitnehmen wollten. Valeria ihrerseits war eifrig damit beschäftigt, sich auf die Geburt ihres Enkels einzurichten. So bereiteten sich die einen auf eine Ankunft, die anderen auf einen Abschied vor.
Am dritten Sonntag im Juli bat Anja Sergej, gemeinsam zu einem Picknick auf ihrer »Glückswiese« zu fahren, wo sie ihre geschwollenen Füße im kalten Wasser der Newa kühlen wollte. Sergej war bei diesem Gedanken nicht wohl, weil er fand, dass sie in der Nähe des Hauses bleiben sollten - für alle Fälle.
»Ist es nicht schon etwas spät für eine so holperige Fahrt?«, fragte er.
»Ich habe zwar das Gefühl, ich platze jeden Augenblick«, erwiderte Anja, »aber ich möchte an die frische Luft und noch einmal einen Tag allein mit dir verbringen.«
Sergej half Anja auf den Wagen. Eine besorgt aussehende Valeria gab ihnen den Essenskorb. »Mach dir keine Sorgen, wir sind vor Sonnenuntergang zurück«, versicherte Sergej ihr und schnalzte mit der Zunge, worauf sich das Pferd in Bewegung setzte.
Als sie neben dem Kanal den Newski Prospekt entlang fuhren und sich dann nach Norden wandten, fragte Sergej: »Anja, meine Liebste, glaubst du an das Schicksal?«
»Ich glaube an dich.«
»Das weiß ich«, sagte er lachend und küsste ihr Haar, »aber glaubst du außerdem noch an das Schicksal?«
»Wie sollte ich das nicht, wenn dich so merkwürdige Umstände zu mir gebracht haben?« Sie legte die Hände auf den Bauch. »Und nun erwarten wir ein Wunder.« Sie nahm Sergejs Hand vom Zügel und legte sie auf ihren Bauch. »Kannst du ihn fühlen?«
Zuerst fühlte Sergej nichts, aber dann spürte er erst eine zarte Bewegung und kurz darauf eine stärkere. »Ich glaube, er boxt bereits«, sagte er lächelnd und überglücklich.
Auf ihrem Weg zur Wiese kamen sie an einem Bauernhof vorbei. Anja, die in diesem Augenblick in die ganze Welt verliebt war, lächelte und winkte dem Bauern fröhlich zu, der den Gruß mit einem Nicken erwiderte.
Kurz darauf kamen sie auf der Wiese an. Sergej hatte vorgehabt, die Decke in die Mitte zu legen - dorthin, wo er den Schatz seines Großvaters ausgegraben hatte -, aber die drückende Hitze ließ es ihm klüger erscheinen, sich am Rand im Schatten der Bäume niederzulassen. Sie breiteten die Decke aus, holten das Essen hervor und schauten zufrieden auf das im Sonnenlicht liegende Grün.
Socrates - Der friedvolle Krieger
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