12
Als Sergej Iwanow sich zu Fuß auf seine lange Reise nach Norden aufmachte, war ein anderer Mann, der auf einem gestohlenen Pferd ritt und einen Kosakensäbel trug, den er mit gestohlenem Geld gekauft hatte, unterwegs nach Süden. Mit einer Selbstsicherheit, die nur weise Menschen oder Fanatiker besitzen, hatte Gregor Stakkos beschlossen, ein Anführer der Kosaken zu werden. »Führer machen ihre eigenen Gesetze«, sagte er laut zu sich selbst und berauschte sich an seinen Worten. Im Geist hielt er bereits Reden vor großen Menschenmassen, er deklamierte weiter: »Und die Schwachen leben nach den Gesetzen, die ihnen die Starken aufzwingen.«
Stakkos ritt durch Südrussland, durch das Land der Donkosaken. Er war wie ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte; er war ein Mann, der alles - aber auch alles - tun würde, um seine Ziele zu erreichen. Sein Plan war ziemlich einfach: Er würde sich einer Gruppe Kosaken anschließen und nach und nach deren Anführer werden. Schon als Junge hatte er heroische Geschichten über die Saporoher, die Kuban, Terek und Donkosaken gehört und ihre Kriegstaktiken und Kampfmethoden bewundert. Er wusste, dass sie Fremde aufnahmen, die sich im Kampf hervorgetan hatten. Erst würde er einen Platz unter diesen Kriegern finden, dann würde er sich über sie erheben. Und eines Tages würden sie ihn Ataman nennen: Anführer.
Neben diesem großen Ziel hatte er noch ein anderes: Er wollte das Land von allen Juden befreien. Er wusste selbst nicht genau, warum er die Juden so sehr hasste, er wusste nur, dass er es tat.
Gregor Stakkos war kein Mann, der sich von Selbstzweifeln plagen ließ. Er hatte vor nichts Angst - außer vor den Schreien, die ihn nachts in seinen Träumen verfolgten. Deshalb hasste er es auch, schlafen zu müssen. In der »wirklichen« Welt konnte es niemand mit ihm aufnehmen, aber gegen die Schatten der Traumwelt konnte er sich nicht wehren. Er konnte ihnen weder den Rücken zukehren, noch konnte er seine Ohren vor ihren schrillen Schreien oder seine Augen vor dem Anblick ihrer blutenden Körper verschließen. Sein Körper war stark, aber er besaß nicht die Kraft, die schrecklichen Bilder zu bannen, die aus seinem neunten Lebensjahr stammten, aus der einen Nacht, in der seine Eltern von einem Monster ermordet wurden.
Gregors Vater war Offizier in der Armee des Zaren gewesen und dem Alkohol übermäßig zugetan. Einmal gelang es ihm, ein ganzes Jahr lang nüchtern zu bleiben, bis er einen Unfall hatte, der ihn zum Krüppel machte. Der Oberst, wie Gregor ihn nennen musste, betrieb mit Frau und Kind einen kleinen Handelsposten nahe der Stadt Kischinew. An einem kalten Dezemberabend brütete Oberst Stakkos - wie an vielen anderen Abenden auch - betrunken vor sich hin. Er suchte nach einer Möglichkeit, seine Wut an jemandem auszulassen, fand aber keine. Das änderte sich abrupt, als Gregor auf der Flucht vor dem Schneetreiben in die Hütte gelaufen kam und die Tür hinter sich zuknallte.
Der kleine Gregor ging direkt zum Herdfeuer hinüber, um sich dort aufzuwärmen und sich still damit zu beschäftigen, aus einem Schilfrohr eine Flöte zu schnitzen. Jeden Abend saß er beim Feuer, schnitzte still vor sich hin und war bemüht, keinesfalls die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich zu ziehen.
Der Oberst, der durch das Zuschlagen der Tür aus seinem dumpfen Brüten hochgeschreckt war, hatte nun ein Objekt gefunden, auf das er die in ihm brodelnde Wut richten konnte. Das bedeutete für Gregor, dass er entweder hinaus in die Kälte fliehen musste, bis der Oberst endlich eingeschlafen war, oder dass er wieder einmal verprügelt werden würde. Prügel kam weder selten vor, noch war sie von kurzer Dauer. Wenn der schwere Gürtel des Obersts wieder und wieder auf Gregors schmalen Rücken niederging, sah seine Mutter einfach weg und tat so, als hätte sie dringend irgendetwas sauberzumachen. Noch nie hatte sie die Hand erhoben oder ein Wort gesagt, um Gregor zu verteidigen.
Der Oberst wankte auf unsicheren Beinen auf Gregor zu und versperrte ihm den Weg nach draußen. »Du kleiner Bastard«, lallte er, »komm und hol dir deine Medizin, du Hundesohn …«
»Aber ich bin doch dein Sohn, Vater«, antwortete der verschreckte Junge.
»Das könnte dir so passen«, lallte der Oberst weiter, »Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Wir haben dich aufgenommen, weil dich dein Vater nicht mehr wollte - der Jude, der. Deine Mutter ist weg oder tot, weiß nicht genau …«
Der Oberst schlang sich den Gürtel um die Hand. »Komm, hol dir deine Tracht Prügel ab. Du fauler Nichtsnutz! Du dreckiger Judenjunge! Ich hätte es wissen müssen, dass du zu nichts taugst. Du bist und bleibst ein jüdischer Taugenichts! Du schuldest uns …«
Der Oberst kam nicht dazu den Satz zu beenden, denn als Gregor die Worte hörte und auf diese Weise erfuhr, dass er nicht der Sohn des Obersts war, sondern ein verstoßenes Judenkind, fuhr er herum und riss dem Mann mit überraschender Kraft den Gürtel aus der Hand.
»Lass mich in Ruhe!«, schrie er und stieß seine Faust mit aller Macht immer und immer wieder vor, bis er etwas Nasses auf den Knöcheln fühlte. Er riss die Augen auf und sah, dass er das Schnitzmesser in der Hand hielt und dass sein Pflegevater blutüberströmt und mit hervorquellenden Augen zurückstolperte. Dann verlor der Oberst das Gleichgewicht, versuchte sich noch am Tisch festzuhalten, riss einen Stuhl um und schlug mit dem Kopf gegen den gusseisernen Herd. Es gab ein hässliches Knirschen, dann rührte sich der Mann nicht mehr und starrte aus toten Augen gegen die Decke.
Gregor wandte sich der Frau zu, die er bisher für seine Mutter gehalten hatte. Sie starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an und seufzte einmal beinahe erleichtert auf, bevor sie wie von Sinnen schrie: »O mein Gott, o mein Gott!« Gregor hatte es endlich geschafft, ihre Aufmerksamkeit zu erregen; sie hatte endlich aufgehört zu putzen. Aber während sie sich dem kleinen Jungen zuwandte, der mit Blut an den Händen dastand, fing sie an hysterisch zu schreien: »Du Monster, du hast ihn umgebracht, du Monster!«
In diesem Augenblick erwachte in Gregor tatsächlich ein Monster. Er sah zu, wie sich die Klinge tief in den Bauch der Frau senkte, wie sie weiterschrie und wie der Schrei messerartig in ihn eindrang. Er sah, wie sich das Messer hob und senkte und das Monster wieder und wieder auf die Frau einstach, bis sie nicht mehr schrie, sondern nur noch wimmerte und dann ganz still war.
Gregor träumte von einem Feuer, dessen Flammen hoch in den Nachthimmel schlugen und dessen Rauch sich mit dem niederfallenden Schnee vermischte. Nachbarn kamen herbeigeeilt und fanden nichts als rauchende Trümmer. Und sie fanden den kleinen Jungen, der dies alles geträumt hatte, und sie nahmen ihn auf.
Socrates - Der friedvolle Krieger
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