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Als Sergej Iwanow sich zu Fuß auf seine
lange Reise nach Norden aufmachte, war ein anderer Mann, der auf
einem gestohlenen Pferd ritt und einen Kosakensäbel trug, den er
mit gestohlenem Geld gekauft hatte, unterwegs nach Süden. Mit einer
Selbstsicherheit, die nur weise Menschen oder Fanatiker besitzen,
hatte Gregor Stakkos beschlossen, ein Anführer der Kosaken zu
werden. »Führer machen ihre eigenen Gesetze«, sagte er laut zu sich
selbst und berauschte sich an seinen Worten. Im Geist hielt er
bereits Reden vor großen Menschenmassen, er deklamierte weiter:
»Und die Schwachen leben nach den Gesetzen, die ihnen die Starken
aufzwingen.«
Stakkos ritt durch Südrussland, durch das Land der
Donkosaken. Er war wie ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte;
er war ein Mann, der alles - aber auch alles - tun würde, um seine
Ziele zu erreichen. Sein Plan war ziemlich einfach: Er würde sich
einer Gruppe Kosaken anschließen und nach und nach deren Anführer
werden. Schon als Junge hatte er heroische Geschichten über die
Saporoher, die Kuban, Terek und Donkosaken gehört und ihre
Kriegstaktiken und Kampfmethoden bewundert. Er wusste, dass sie
Fremde aufnahmen, die sich im Kampf hervorgetan hatten. Erst würde
er einen Platz unter diesen Kriegern finden, dann würde er sich
über sie erheben. Und eines Tages würden sie ihn Ataman nennen:
Anführer.
Neben diesem großen Ziel hatte er noch ein anderes:
Er wollte das Land von allen Juden befreien. Er wusste selbst nicht
genau, warum er die Juden so sehr hasste, er wusste nur, dass er es
tat.
Gregor Stakkos war kein Mann, der sich von
Selbstzweifeln plagen ließ. Er hatte vor nichts Angst - außer vor
den Schreien, die ihn nachts in seinen Träumen verfolgten. Deshalb
hasste er es auch, schlafen zu müssen. In der »wirklichen« Welt
konnte es niemand mit ihm aufnehmen, aber gegen die Schatten der
Traumwelt konnte er sich nicht wehren. Er konnte ihnen weder den
Rücken zukehren, noch konnte er seine Ohren vor ihren schrillen
Schreien oder seine Augen vor dem Anblick ihrer blutenden Körper
verschließen. Sein Körper war stark, aber er besaß nicht die Kraft,
die schrecklichen Bilder zu bannen, die aus seinem neunten
Lebensjahr stammten, aus der einen Nacht, in der seine Eltern von
einem Monster ermordet wurden.
Gregors Vater war Offizier in der Armee des Zaren
gewesen und dem Alkohol übermäßig zugetan. Einmal gelang es ihm,
ein ganzes Jahr lang nüchtern zu bleiben, bis er einen Unfall
hatte, der ihn zum Krüppel machte. Der Oberst, wie Gregor ihn
nennen musste, betrieb mit Frau und Kind einen kleinen
Handelsposten nahe der Stadt Kischinew. An einem kalten
Dezemberabend brütete Oberst Stakkos - wie an vielen anderen
Abenden auch - betrunken vor sich hin. Er suchte nach einer
Möglichkeit, seine Wut an jemandem auszulassen, fand aber keine.
Das änderte sich abrupt, als Gregor auf der Flucht vor dem
Schneetreiben in die Hütte gelaufen kam und die Tür hinter sich
zuknallte.
Der kleine Gregor ging direkt zum Herdfeuer
hinüber, um sich dort aufzuwärmen und sich still damit zu
beschäftigen, aus einem Schilfrohr eine Flöte zu schnitzen. Jeden
Abend saß er beim Feuer, schnitzte still vor sich hin und war
bemüht, keinesfalls die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich zu
ziehen.
Der Oberst, der durch das Zuschlagen der Tür aus
seinem dumpfen Brüten hochgeschreckt war, hatte nun ein Objekt
gefunden, auf das er die in ihm brodelnde Wut richten konnte. Das
bedeutete für Gregor, dass er entweder hinaus in die Kälte fliehen
musste, bis der Oberst endlich eingeschlafen war, oder dass er
wieder einmal verprügelt werden würde. Prügel kam weder selten vor,
noch war sie von kurzer Dauer. Wenn der schwere Gürtel des Obersts
wieder und wieder auf Gregors schmalen Rücken niederging, sah seine
Mutter einfach weg und tat so, als hätte sie dringend irgendetwas
sauberzumachen. Noch nie hatte sie die Hand erhoben oder ein Wort
gesagt, um Gregor zu verteidigen.
Der Oberst wankte auf unsicheren Beinen auf Gregor
zu und versperrte ihm den Weg nach draußen. »Du kleiner Bastard«,
lallte er, »komm und hol dir deine Medizin, du Hundesohn …«
»Aber ich bin doch dein Sohn, Vater«, antwortete
der verschreckte Junge.
»Das könnte dir so passen«, lallte der Oberst
weiter, »Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Wir haben dich
aufgenommen, weil dich dein Vater nicht mehr wollte - der Jude,
der. Deine Mutter ist weg oder tot, weiß nicht genau …«
Der Oberst schlang sich den Gürtel um die Hand.
»Komm, hol dir deine Tracht Prügel ab. Du fauler Nichtsnutz! Du
dreckiger Judenjunge! Ich hätte es wissen müssen, dass du zu nichts
taugst. Du bist und bleibst ein jüdischer Taugenichts! Du schuldest
uns …«
Der Oberst kam nicht dazu den Satz zu beenden, denn
als Gregor die Worte hörte und auf diese Weise erfuhr, dass er
nicht der Sohn des Obersts war, sondern ein verstoßenes Judenkind,
fuhr er herum und riss dem Mann mit überraschender Kraft den Gürtel
aus der Hand.
»Lass mich in Ruhe!«, schrie er und stieß seine
Faust mit aller Macht immer und immer wieder vor, bis er etwas
Nasses auf den Knöcheln fühlte. Er riss die Augen auf und sah, dass
er das Schnitzmesser in der Hand hielt und dass sein Pflegevater
blutüberströmt und mit hervorquellenden Augen zurückstolperte. Dann
verlor der Oberst das Gleichgewicht, versuchte sich noch am Tisch
festzuhalten, riss einen Stuhl um und schlug mit dem Kopf gegen den
gusseisernen Herd. Es gab ein hässliches Knirschen, dann rührte
sich der Mann nicht mehr und starrte aus toten Augen gegen die
Decke.
Gregor wandte sich der Frau zu, die er bisher für
seine Mutter gehalten hatte. Sie starrte ihn aus schreckgeweiteten
Augen an und seufzte einmal beinahe erleichtert auf, bevor sie wie
von Sinnen schrie: »O mein Gott, o mein Gott!« Gregor hatte es
endlich geschafft, ihre Aufmerksamkeit zu erregen; sie hatte
endlich aufgehört zu putzen. Aber während sie sich dem kleinen
Jungen zuwandte, der mit Blut an den Händen dastand, fing sie an
hysterisch zu schreien: »Du Monster, du hast ihn umgebracht, du
Monster!«
In diesem Augenblick erwachte in Gregor tatsächlich
ein Monster. Er sah zu, wie sich die Klinge tief in den Bauch der
Frau senkte, wie sie weiterschrie und wie der Schrei messerartig in
ihn eindrang. Er sah, wie sich das Messer hob und senkte und das
Monster wieder und wieder auf die Frau einstach, bis sie nicht mehr
schrie, sondern nur noch wimmerte und dann ganz still war.
Gregor träumte von einem Feuer, dessen Flammen hoch
in den Nachthimmel schlugen und dessen Rauch sich mit dem
niederfallenden Schnee vermischte. Nachbarn kamen herbeigeeilt und
fanden nichts als rauchende Trümmer. Und sie fanden den kleinen
Jungen, der dies alles geträumt hatte, und sie nahmen ihn
auf.