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Als Sergej an jenem Oktobertag zu seinem Onkel befohlen wurde, schwante ihm nichts Gutes.
Es war ihm verboten, Wladimir Iwanow als seinen Onkel zu betrachten, für ihn war er Kommandant Iwanow. Es war ihm auch verboten, dem Kommandanten persönliche Fragen zu stellen, obwohl er viele hatte - zum Beispiel Fragen in Bezug auf seine Eltern und seine Vergangenheit. Der Kommandant hatte Sergej weder über das eine noch das andere viel erzählt. Er hatte ihm lediglich vor vier Jahren bekannt gegeben, dass sein Vater gestorben war.
Zum Kommandanten befohlen zu werden - was äußerst selten vorkam - bedeutete entweder, dass es schlechte Nachrichten gab oder dass man bestraft werden sollte. Da er verständlicherweise keine Eile hatte, vor dem Kommandanten mit seiner strengen Miene und seiner ständig gerunzelten Stirn zu erscheinen, schlenderte Sergej in einem völlig unmilitärischen Tempo über den Platz.
Jeder Fleck, an dem Sergej vorbeikam, rief Erinnerungen wach: Der Pferch zum Beispiel erinnerte ihn an das erste Mal, als er auf einem wild um sich tretenden Pferd gesessen hatte. Er hatte sich verzweifelt an die Zügel geklammert und versucht, sich seine Todesangst nicht anmerken zu lassen. Ein freier Platz erinnerte ihn an die vielen Kämpfe, in die er aufgrund seines Jähzornes schon verwickelt worden war.
Er ging erst am Lazarett vorbei und dann an der kleinen Wohnung von Galina, der ältlichen Krankenschwester, die sich seiner zuerst angenommen hatte. Sie hatte ihm über die Wange gestrichen, als er krank war, und ihn zum Essen gebracht, bis er sich selbst zurechtgefunden hatte. Da er zu jung war, um in den regulären Stuben der Kadetten zu bleiben, hatte er in den ersten zwei Jahren auf einer Pritsche im Lazarettflügel schlafen müssen. Es war eine einsame Zeit gewesen, da er seinen Platz noch nicht gefunden hatte. Die anderen Kadetten hatten ihn wie ein Maskottchen oder ein Haustier behandelt: An einem Tag hatten sie ihn gestreichelt, am nächsten Tag getreten.
Die meisten anderen Jungen hatten ein Zuhause, einen Vater und eine Mutter, aber Sergej hatte nur seinen Onkel, deshalb strengte er sich nach Kräften an, um seinem Onkel zu gefallen. Seine Bemühungen brachten ihm allerdings nur den Zorn der älteren Kadetten ein, die ihn höhnisch als »Onkel Wladis Junge« betitelten. Sie quälten ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit, sie schubsten und schlugen ihn oder stellten ihm ein Bein. Jeder Moment der Unaufmerksamkeit bedeutete einen neuen blauen Fleck oder etwas Schlimmeres. Es war allgemein üblich, dass die älteren Kadetten auf den jüngeren herumtrampelten, und Prügeleien waren an der Tagesordnung. Die Instruktoren wussten davon, aber sie sahen einfach weg, solange niemand ernsthaft verletzt wurde. Sie tolerierten die Prügeleien, weil die jüngeren Kadetten dadurch wachsamer und härter wurden. Schließlich befanden sie sich in einer Kadettenanstalt.
Als Sergej zum ersten Mal von einem älteren Kadetten angegriffen wurde, hatte er wie wild um sich geschlagen, weil er ahnte, dass die Übergriffe nie aufhören würden, wenn er jetzt klein beigab. Der ältere Junge verprügelte ihn nach Strich und Faden, aber immerhin gelang es Sergej, ein oder zwei Treffer zu landen. Danach belästigte ihn der Junge nie wieder. Einmal war Sergej dazugekommen, als zwei Kadetten einen Neuankömmling verprügelten. Er hatte die beiden wie ein wütender Bulle angegriffen, woraufhin sich diese zurückzogen und so taten, als wäre das Ganze nur ein Witz gewesen. Aber für den Neuen, dessen Name Andrej war, war es kein Witz gewesen. An diesem Tag wurde er der einzige wirkliche Freund, den Sergej jemals gehabt hat.
Als Jüngster der ganzen Anstalt schlief Sergej in einem Gebäude mit den Sieben- bis Zehnjährigen. Die älteren Jungen schliefen im ersten Stock und alle über sechzehn waren in einem anderen Gebäude untergebracht. Die Älteren waren die Herrscher der Stuben. Alle Kadetten hatten Angst davor umzuziehen, da sie dann wieder die Jüngeren und damit die Opfer sein würden. Sergej und Andrej beschlossen, gut aufeinander aufzupassen.
Vom Leben vor seiner Ankunft hatte Sergej nur verschwommene Erinnerungen. Es schien ihm, als wäre er in einer gänzlich anderen Welt gewesen. Manchmal tauchten in seiner Erinnerung Bilder von einer dicken Frau mit weichen Armen und einem Mann mit einem Kranz aus weißem Haar auf. Sergej fragte sich oft, wer sie wohl gewesen waren. Er fragte sich überhaupt viele Dinge.
An der Wand des Klassenzimmers hingen Karten von Mütterchen Russland und anderen Ländern. Mit den Fingern war Sergej auf den Karten und auf dem Globus auf dem Pult des Klassenlehrers herumgewandert und hatte die Umrisse blauer Ozeane und gelber, grüner und roter Länder nachgezeichnet. Es wäre ihm im Traum nicht eingefallen, dass er diese Länder einmal besuchen könnte.
Seine Welt war bis zu jenem Oktobertag im Jahr 1880 auf die hohen Mauern, die Blockhäuser, die Schlafgebäude, Klassenzimmer und Exerzierplätze der Newski-Kadettenanstalt beschränkt gewesen. Sergej hatte sich diesen Ort nicht ausgesucht, aber er akzeptierte ihn so, wie Kinder es nun einmal tun müssen. Seine frühen Jahre waren durch den geregelten Tagesablauf aus Unterricht, Körperertüchtigung und Disziplin geprägt, durch das Studium von Militärgeschichte, Strategie und Geographie, durch Reiten, Laufen, Schwimmen und Gymnastik.
Wenn die Kadetten nicht im Unterricht waren oder arbeiteten, dann übten sie sich in den militärischen Künsten. Im Sommer lernte Sergej im kalten Kruglojesee unter Wasser zu schwimmen und durch ein Schilfrohr zu atmen. Er übte den Kampf mit dem Säbel und schoss Pfeile mit einem Bogen ab, den er kaum zu spannen vermochte. Später würde er auch mit der Pistole und dem Karabiner schießen lernen.
Es war weder ein gutes noch ein schlechtes Leben: Er kannte einfach kein anderes.
 
Als Sergej sich dem Hauptgebäude näherte, steckte er seine dunkelblaue Bluse ordentlich in seine dunkelblauen Hosen und überprüfte, ob seine Stiefel blank genug waren. Einen Augenblick lang überlegte er, ob es nicht angebracht gewesen wäre, die Ausgehuniform mit Handschuhen anzuziehen, aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Die meisten älteren Jungen sahen fesch darin aus, aber er versackte immer noch fast in der viel zu großen Uniform. Wenn er zu groß für eine alte Uniform geworden war, gab man ihm stets eine gebrauchte neue, die wiederum viel zu groß für ihn war.
Immer noch in Gedanken versunken, schlurfte Sergej über die Steinfliesen des langen Korridors zur Amtsstube seines Onkels. Er dachte daran, wie er vor vier Jahren zum letzten Mal dorthin befohlen worden war. Er konnte sich noch gut an das hagere, strenge Gesicht des Kommandanten erinnern, der ihm befohlen hatte, sich zu setzen. Sergej war auf einen Stuhl geklettert, seine Füße hatten in der Luft gebaumelt und er hatte kaum über den Rand des Pultes schauen können, als sein Onkel die Worte sagte, die sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. »Dein Vater ist gestorben. Sein Name war Sergej Borisowitsch Iwanow. Er gehörte der Leibgarde unseres Zaren Alexander an. Er war ein guter Mann und ein Kosak. Du musst dich nach Kräften anstrengen, um so zu werden wie er.«
Sergej hatte nicht gewusst, was er fühlen oder wie er reagieren sollte, deshalb hatte er einfach nur genickt.
»Hast du irgendwelche Fragen?«, hatte der Kommandant ihn gefragt.
»Wie … Wie ist er gestorben?«
Erst Stille, dann ein Seufzer. »Dein Vater hat sich zu Tode gesoffen. Was für eine Verschwendung!«
Damit war Sergej entlassen worden. Er erinnerte sich noch, wie leichenblass das Gesicht seines Onkels an jenem Tag gewesen war.
Er hatte die Amtsstube mit so vielen widerstreitenden Gefühlen verlassen, dass es schwer für ihn war, herauszufinden, was er eigentlich fühlte. Es machte ihn traurig, dass sein Vater gestorben war. Andererseits hieß das, dass sein Vater einmal gelebt, ihn aber nie besucht hatte. Er war stolz, dass auch in seinen Adern Kosakenblut floss und dass er eines Tages so stark wie der Vater sein würde, den er nie gekannt hatte.
Sergej kam zurück in die Gegenwart, als er vor der Tür seines Onkels ankam. Er wollte gerade klopfen, als er von drinnen gedämpfte Stimmen hörte.
»Dieser Besuch, um den Sie mich bitten«, hörte er die Stimme seines Onkels sagen, »ich werde ihn gestatten, obwohl andere nicht der Meinung sind, das ich es tun sollte. Viele Leute schätzen die Juden, die Mörder unseres Herrn, nicht besonders.«
»Und ich schätze Soldaten, die Mörder der Juden, nicht besonders«, erwiderte eine ältere Stimme, die Sergej nicht kannte.
»Nicht alle Soldaten hassen die Juden«, antwortete sein Onkel.
»Und Sie?«, fragte die andere Stimme.
»Ich hasse nur Schwäche.«
»So wie ich Dummheit hasse.«
»Ich bin nicht so dumm, dass ich mich von Ihrem jüdischen Intellekt austricksen lassen würde«, sagte der Kommandant.
»Und ich bin nicht so schwach, dass ich mich von Ihrem Kosakengehabe einschüchtern lassen würde«, erwiderte der andere Mann und fügte dann etwas freundlicher hinzu: »Wissen Sie, mit Ihrem Mut und meinem Verstand hätten wir viel erreichen können.«
In der eintretenden Stille fand Sergej den Mut, dreimal an die Tür zu klopfen.
Als sie sich öffnete, erblickte er seinen Onkel und einen alten Mann. Sein Onkel sagte knapp: »Kadett Iwanow, das hier ist dein Großvater.«
Der alte Mann erhob sich von seinem Stuhl und sah ihn an. Er hatte einen Kranz weißen Haares und schien sich zu freuen, Sergej zu sehen. Dann flüsterte er etwas, das sich wie ein Name anhörte: »Socrates.«
Socrates - Der friedvolle Krieger
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