18
Während sich die Unsterblichen, ihre Sekundanten und der Chef des Netzwerks um Davids beeindruckenden Esszimmertisch sammelten, waren sie in angeregte Gespräche vertieft. Seth und David nahmen ihre üblichen Plätze an den Kopfenden der Tafel ein. Die anderen verteilten sich auf die Stühle an den Längsseiten des Tisches.
Bastien fand sich zwischen Melanie und Richart wieder, während Richarts Geschwister ihm gegenübersaßen.
Es war fast ein Monat vergangen, seit sie Emrys’ Anwesen angegriffen hatten, dennoch kam es ihm vor, als läge es nur wenige Tage zurück. Die Zeit dazwischen war wie eine Achterbahnfahrt gewesen, voller Höhen und Tiefen, sodass Bastien inzwischen das Gefühl hatte, dass er nichts in seinem Leben wirklich unter Kontrolle hatte.
Für Joe hatten sie nichts mehr tun können. Melanie hatte versucht, zu ihm durchzudringen … sie hatte es so sehr versucht, das es Bastien fast das Herz gebrochen hätte. Gleichzeitig liebte er sie dafür nur noch mehr. Aber der junge Vampir war verloren gewesen und seine geistige Gesundheit vollständig von dem Virus zerstört worden.
In Übereinstimmung mit Joes mündlichem Testament, das er bei seinem Einzug in das Hauptquartier gemacht hatte, war der junge Vampir zuerst betäubt worden, danach hatte Melanie ihn ausbluten lassen. Vollständig. Und er war … fort. Einfach so. Es gab nicht einmal etwas, das sie hätten begraben können.
Dr. Whetsman hatte verzweifelt nach Argumenten gesucht, um Chris davon zu überzeugen, dass sie Joes Testament ignorierten und die Organe und das Gehirn des Vampirs entnahmen, um sie zu studieren.
Aber Chris hatte nicht nachgegeben.
Danach hatte Bastien seinen Widerstand gegen den Netzwerkchef aufgegeben.
Endlich hatten die beiden eine gemeinsame Grundlage gefunden. Chris hatte seine Kontakte verloren. Bastien hatte seine Freunde verloren. Und beide gaben sich die Schuld dafür.
Cliff hingegen hatte sich wieder erholt. Bastien hätte das nicht für möglich gehalten, ebenso wenig wie Melanie. Erstaunlicherweise gelang es Cliff immer noch, den Wahnsinn zurückzudrängen, dem seine beiden Freunde zum Opfer gefallen waren. Er verbrachte viel Zeit mit Stuart, der jeden Tag nach neuen Wegen suchte, um wiedergutzumachen, dass die Söldner dank seiner unfreiwilligen Hilfe das Hauptquartier hatten angreifen können.
Unzählige Servierplatten mit leckeren Speisen wurden am Tisch weitergereicht. Die köstlichen Gerüche, die in der Luft hingen, ließen einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie tranken Wasser, Tee und prickelnden Grapefruitsaft. Sie lachten zusammen und neckten sich gegenseitig.
Melanie legte die Hand auf Bastiens Oberschenkel.
Er sah sie an.
»Alles in Ordnung?«, wollte sie wissen.
Er nickte, nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen, um sie zu küssen.
Er und Melanie waren sich näher als je zuvor. Und auch wenn Melanie in ihr gemütliches Haus hätte zurückkehren können, zog sie es vor, mit ihm zusammen bei David zu leben. Nachts widmete sie sich mit Seth’ Erlaubnis weiterhin ihren medizinischen Forschungen. Seth hielt es für wichtiger, dass sie ihre Forschungen weiterführte, als den Unsterblichen bei der Vampirjagd zu helfen.
Richart, der Bastien gegenübersaß, räusperte sich. »Wie geht es Cliff?«
Bastien spürte Melanies Überraschung, als sie antwortete.
»Es geht ihm gut. Seit wir ihn gerettet haben, hatte er keinen psychotischen Anfall mehr.«
Richart schob das Essen auf seinem Teller hin und her. »Ich habe darüber nachgedacht, ihn zu besuchen.«
Melanie sah Bastien an.
Er schien genauso verblüfft zu sein wie sie. »Ich glaube, dass ihm das gefallen würde«, sagte Bastien langsam. »Ich bin mir sicher, dass er es leid ist, Tag für Tag dieselben Gesichter zu sehen.«
Étienne ergriff das Wort. »Vielleicht schaue ich auch mal bei ihm vorbei.«
Die beiden Franzosen hatten Cliff kennengelernt, während sie in Seth’ Auftrag Bastien im Auge behalten hatten. Hatten sie dasselbe gesehen wie er? Etwas, das es zu retten wert war? Etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte?
Melanie lächelte. »Das wäre großartig.«
»Interessiert er sich für Sport?«, fragte Lisette hoffnungsvoll.
»Ja.«
»Vielleicht kann ich mir ein Spiel mit ihm zusammen ansehen.«
Tanner, der neben ihr saß, nickte. »Da wäre ich dabei. Wir könnten uns ein Spiel der Lakers ansehen. Wenn ich mich richtig erinnere, ist Cliff ein großer Lakers-Fan.«
»Exzellent«, sagte Lisette. »Ich bringe Erdnüsse und Popcorn mit.«
Der Rest des Mahls verging wie im Flug. Auch wenn Bastien nicht mehr so viel Ablehnung entgegenschlug wie vorher, zogen es dennoch viele vor, ihn nicht in ihre Gespräche mit einzubeziehen. Nicht, dass er das wirklich mitbekommen hätte. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich zu fragen, ob die Hölle zugefroren war.
Unsterbliche, die sich mit einem Vampir anfreundeten? Was zum Henker kam als Nächstes?
Kurz nach dem Abendessen ergriffen Melanie und er die Flucht. Wobei es sich bei dem Essen genau genommen um ein Frühstück oder Brunch gehandelt hatte – schließlich war es die erste Mahlzeit der Nacht.
Händchen haltend stiegen sie die Kellertreppe hinunter, wichen Marcus’ halb kahlem Kater aus und gingen dann zu dem Ruheraum, den sie miteinander teilten. Dort würden sie sich lieben, bevor Melanie zum Netzwerk aufbrach und Bastien auf die Jagd ging, um möglicherweise weitere Vampire zu rekrutieren.
Emrys war tot. Die wenigen Soldaten, die von seiner Schattenarmee übrig geblieben waren, hatten keine Erinnerung mehr daran, was sie in den letzten Monaten getan hatten. Außerdem hatte Seth Donalds und Nelsons Erinnerungen gelöscht.
Nichtsdestotrotz wuchs die Vampirpopulation in der Gegend immer weiter an.
Die Situation erinnerte Bastien an Zeitungen und Skandalblätter, auf deren Titelseiten es von Anschuldigungen in Großbuchstaben wimmelte. Wenn diese sich als unbegründet erwiesen, gab es auf Seite siebenunddreißig, wo die wenigsten sie bemerkten, Entschuldigungen und Gegendarstellungen in winziger Schrift zu lesen.
Wie dem auch sei, die Nachrichten von den Aufständen und Schlachten, die es in North Carolina gegeben hatte, waren um den Globus gegangen. Die Nachricht hingegen, dass die Kämpfe mit dem Sieg der Unsterblichen Wächter geendet hatten, erregte wenig Aufmerksamkeit.
»Bastien. Melanie.«
Beim Klang von Chris’ Stimme drehten sie sich um.
»Seth wollte mit euch sprechen, bevor er aufbricht, aber leider musste er schon los.«
»Braucht er unsere Hilfe?«, wollte Bastien wissen.
»Nein. Er wollte euch den hier geben.« Chris trat näher und hielt ihnen einen Schlüsselbund hin.
Melanie nahm ihn entgegen und drehte ihn in der Hand hin und her. »Wofür ist der?«
»Für euer neues Zuhause. Seth dachte, dass ihr beiden vielleicht gern einen Ort hättet, wo ihr ungestört sein könnt, und Melanies Haus ist nicht sicher.«
Verblüfft starrte Bastien ihn an.
Chris zog einen seiner treuen Notizblöcke heraus, blätterte darin und riss dann eine Seite heraus. »Hier ist die Adresse und eine Wegbeschreibung. Das Haus ist vollständig möbliert, aber es steht euch natürlich frei, alles nach eurem Geschmack zu verändern. Ich wusste, dass ihr beiden nicht viel Zeit zum Einkaufen habt, und habe die Küche deshalb mit allem Notwendigen ausgestattet. Im Kühlschrank sind Blutkonserven, und im Badezimmer findet ihr alle nötigen Hygieneartikel. Der Keller ist mit einem Fluchttunnel versehen. Und auf meinem Weg hierher bin ich an dem Haus vorbeigefahren und habe die Heizung eingeschaltet. Falls ihr es euch jetzt ansehen wollt oder den Tag nach der Arbeit dort verbringen wollt, ist alles vorbereitet.«
Bastien, der Melanies Blick auf sich spürte, sah sie an.
»Wir haben ein eigenes Haus?«, fragte sie. »Für uns allein?«
Unsicherheit machte sich in ihm breit. »Wenn du nicht mit mir zusammenleben möchtest …«
Sie runzelte die Stirn und boxte ihn dann hart gegen die Schulter. »Natürlich will ich mit dir zusammenleben. Ich liebe dich, Bastien. Und ich bin entschlossen, dich zu heiraten, wenn du endlich deinen Hintern hochkriegst und mich um meine Hand bittest.«
Alle Gespräche im Haus verstummten schlagartig.
Bastien fiel die Kinnlade herunter.
Chris erging es ebenso.
»Im Ernst?«, fragten die beiden Männer gleichzeitig.
Melanie verdrehte die Augen. Sie legte den Kopf in den Nacken und sprach zur Zimmerdecke. »Ja. Im Ernst. Ich liebe Sebastien Newcombe. Und ich habe vor, die Ewigkeit mit ihm zu verbringen. Wenn einem von euch da oben das nicht passt, dann findet euch endlich damit ab.«
Bastien grinste. Er hatte gewusst, dass er ihr etwas bedeutete. Das spürte er jedes Mal, wenn er sie berührte. Aber er hatte irgendwie angenommen, dass sich ihre Gefühle für ihn ändern würden, wenn sie mehr Zeit mit ihm verbrachte und …
Nun ja, inzwischen kannte sie alle seine Geheimnisse. Vielleicht würden sich ihre Gefühle für ihn ja wirklich nicht ändern?
Er neigte den Kopf und küsste sie. »Heiratest du mich, Melanie?«
»Himmel, ja. Und jetzt lass uns endlich hier abhauen und uns unser neues Zuhause ansehen. Dort kann ich dir so viele versaute Sachen ins Ohr flüstern, wie ich will, ohne dass uns alle zuhören.«
Lachend nahm er ihre Hand und zog sie die Treppe hinauf. Als sie die Haustür erreichten, rannten sie fast, begierig darauf, ihre gemeinsame Zukunft sofort beginnen zu lassen.
Und verdammt sollte er sein, wenn er nicht hörte, wie ein paar von den Unsterblichen im Haus johlten und Beifall klatschen.
Ami biss die Zähne zusammen. Ihr Magen rebellierte so heftig, dass sie fürchtete, ihr Abendessen wieder von sich zu geben.
Ein hochgewachsener, warmer Körper presste sich gegen ihren Rücken. Marcus küsste sie auf den Hals und schlang die Arme um ihre Taille.
Ihre Anspannung ließ nach, sie ließ sich gegen ihn fallen und schloss die Augen.
In dem Zimmer, das sie sich in Davids Haus teilten, war es tropisch warm, die hohe Luftfeuchtigkeit rührte von ihrer gemeinsamen Dusche her.
»Dein Herz rast«, brummte Marcus zwischen zwei Küssen.
Ami zwang sich zu einem Lächeln. »Du hast eben diese Wirkung auf mich.«
Er drehte sie zu sich um, küsste sie sanft auf den Mund und bahnte sich dann mit den Lippen einen Pfad über ihren Hals, bis er schließlich bei ihrer Stirn angekommen war. »Du bist ganz heiß.«
»Du löst solche Dinge eben bei mir aus«, neckte sie ihn. »Na ja, du und die Dusche. Eine sehr effektive Kombination.«
Er lachte anzüglich. »Ich wünschte, wir könnten die ganze Nacht in der Dusche verbringen.«
Sie knabberte an seinem Kinn und löste sich dann von ihm. »Das würde mir auch gefallen. Unglücklicherweise jagen sich die Vampire nicht selbst.«
Mit einem Aufstöhnen fuhr er fort, sein Shirt zuzuknöpfen.
Sobald er mit dem Shirt fertig war, legte Ami ihm den Patronengurt mit den Wurfmessern um den Oberkörper.
»Stimmt was nicht, Liebes?«, fragte er und musterte sie prüfend.
Seinem Blick ausweichend, streckte sie die Hand nach seinen Kurzschwertern aus und ließ sie in die entsprechenden Scheiden gleiten. »Ich mache mir Sorgen wegen der Söldner. Was ist, wenn wir nicht alle erwischt haben? Was ist, wenn es noch mehr sind?«
»Chris scheint zu glauben, dass wir die Gefahr, die von den Sterblichen für uns ausgeht, vollständig beseitigt haben.«
Sie suchte seinen Blick. »Wir waren auch nicht davon ausgegangen, dass Keegan eine echte Bedrohung darstellt, und du weißt ja, wie das ausgegangen ist.«
»Aber nur, weil dieses kleine Wiesel uns überrascht hat. Emrys hingegen war eine echte Bedrohung. Und jetzt, da er tot ist, kann er uns nichts mehr anhaben.«
Ami nickte. Sie hatte den Unsterblichen dabei geholfen, Emrys auszuschalten, und sie wusste immer noch nicht, was sie von der Rolle halten sollte, die sie in jener Nacht gespielt hatte. Diese ganze Gewalt, die sich dort entladen hatte.
Auf der Bettkante sitzend, schlüpfte Marcus in einen seiner Stiefel und band den Schnürsenkel zu.
Ami verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, ihren Magen zu ignorieren, der erneut rebellierte.
»Du hast beim Abendessen nicht besonders viel gegessen«, kommentierte Marcus und musterte sie eindringlich.
Verdammt, er kannte sie wirklich gut. »Das Parfum von Tracy hat mich in den Wahnsinn getrieben«, gab sie zu. »Ich konnte deswegen nicht mal das Essen riechen.«
Marcus runzelte die Stirn. »Das hast du gerochen?«
»Wie auch nicht? Es war so stark, dass es den ganzen Raum erfüllte.«
Er schüttelte den Kopf. »Tracy benutzt kein Parfum, Liebes. Das war ihr Deodorant.«
Ami starrte ihn an. Ein ungutes Gefühl, das nichts mit dem Abendessen zu tun hatte, breitete sich in ihr aus. »Ach, tatsächlich?«
»Ja. Mir war nicht klar, dass ein Mensch …«, er lächelte, »… oder du es überhaupt riechen kannst.«
»Doch, das konnte ich. Sie muss unbedingt einen geruchlosen Deokristall benutzen. Wenn sie jemals Lisette zu Hilfe kommen muss, werden die Vampire sie aus einem Kilometer Entfernung riechen können.«
»Na schön«, erwiderte er und nahm den anderen Stiefel entgegen, den sie ihm reichte. »Das darfst du ihr dann aber auch gern selber sagen.«
Wohl kaum.
»Ist sonst noch etwas?«, fragte er und sah sie prüfend an, als versuchte er herauszufinden, was sich geändert hatte … ob sie das Haar geschnitten oder es anders frisiert hatte …
»Was meinst du?« Sie wusste, dass er sie durchschaute. Sie war absolut unfähig zu lügen, insbesondere was ihn oder Seth betraf.
Er schob seinen großen Fuß in den Stiefel und hielt dann inne. »In letzter Zeit herrschte hier eine Menge Betrieb … ständig sind Leute gekommen oder gegangen.«
Mehr Unsterbliche und Sekundanten als üblich hatten Davids Einladung wahrgenommen, jederzeit vorbeizuschauen. Manche kamen nur zum Essen vorbei, andere blieben auch den ganzen Tag.
»Brauchst du eine Pause, Süße?«, wollte Marcus wissen, und seine Stimme klang sanft und besorgt. »Soweit ich weiß, gehören dem Netzwerk eine ganze Reihe von sicheren Häusern. Wir könnten mit Chris sprechen und eine Zeit lang in einem davon wohnen.«
Ami blinzelte die Tränen weg. Marcus wusste, wie schwer es ihr fiel, neue Leute kennenzulernen und Zeit mit Männern und Frauen zu verbringen, die sie nicht kannte. Diese Angst war eine Folge ihrer monatelangen Gefangenschaft und der Folter, die sie durch Emrys und seine Gefolgsleute hatte erleiden müssen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das können wir nicht. Du weißt, dass ich der Grund bin, warum wir zurzeit doppelt so viele Besucher haben wie normal. Sie alle wussten, dass Emrys fest entschlossen war, mich wieder in seine Gewalt zu bringen. Sie waren hier, um mich zu beschützen. Wie kann ich das ablehnen?«
Er band seinen Schnürsenkel zu und erhob sich dann. »Du musst nur einen Ton sagen, und ich werde das für dich übernehmen. Wir müssen nicht mal im Land bleiben. Wir können zusammen nach England oder Frankreich gehen. Nach Italien. Australien. Irgendwohin, wo wir wirklich allein sind.«
Sie trat zu ihm, schlang die Arme um ihn und schmiegte sich an seinen muskulösen Oberkörper. »Aber meine Familie ist hier. Unsere Familie ist hier. Also bleiben wir hier.«
Er umarmte sie fest und küsste sie auf den Scheitel. »Was immer dich glücklich macht.«
Ami drückte ihn an sich und räusperte sich. »Du musst jetzt los.«
Marcus gab ihr einen leidenschaftlichen Abschiedskuss und ging dann zur Tür. »Oh, und übrigens … ich habe gehört, dass Sheldon heute Nacht mit Darnell trainiert.«
Sheldon hatte es einmal geschafft, Marcus in Schwierigkeiten zu bringen, als dieser sich gerade an ein paar Vampire heranschlich. Ami war ihm zu Hilfe geeilt, und die Konfrontation hatte damit geendet, dass einer der Vampire ihr ein Messer in den Rücken gerammt hatte.
Während sie noch die Stirn runzelte, bedachte Marcus sie mit einem Lächeln und zwinkerte ihr zu. »Sei nicht so hart zu dem Jungen.«
Ami schaffte es tatsächlich, sein Lächeln zu erwidern … zumindest bis er in den Flur gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund und stürzte ins Badezimmer. Dort beugte sich über die Toilettenschüssel und erbrach auch noch den kleinen Rest von ihrem Abendessen.
Als der Würgereiz endlich nachließ, spülte sie sich den Mund aus und putzte sich die Zähne. Zur Sicherheit spritzte sie sich noch ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht. Als sie sich mit einem Handtuch über Augen und Wangen fuhr, zitterten ihre Hände.
Im Badezimmerspiegel studierte sie ihr bleiches Spiegelbild. Tränen traten ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen.
Sie konnte nicht länger ignorieren, was mit ihr geschah. Schon seit Tagen hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, aber bisher hatte sie gehofft, dass es nur die Nerven waren. Von so vielen Fremden umgeben zu sein und Emrys zu jagen war sehr stressig gewesen, andererseits … Stress führte nicht dazu, dass man Gerüche intensiver wahrnahm. Ebenso wenig bekam man davon Fieber. Keinen Appetit zu haben, mochte ja noch angehen, aber sich gleich zu übergeben …
Sie ging ins Schlafzimmer zurück, schnappte sich das Handy und wählte Darnells Nummer.
»Hey, Ami«, erklang seine fröhliche Stimme. »Du solltest dem Trainingsraum einen Besuch abstatten. Ich bin gerade dabei, Sheldon einen ordentlichen Arschtritt zu verpassen.«
»Nur in deinen Träumen«, hörte sie Sheldon im Hintergrund sagen. »Warte, hast du gesagt, dass Ami dran ist?«
Darnell lachte. »Er hat wirklich Angst vor dir. Was hast du mit ihm gemacht?«
Abgesehen davon, dass sie ihm in allen Details ausgemalt hatte, was sie ihm antun würde, wenn er Marcus’ Leben noch einmal in Gefahr brachte … nichts.
»Ich muss unbedingt mit dir reden«, sagte sie statt einer Antwort.
»Sicher«, sagte Darnell, dessen Stimme ernst wurde. »Wo bist du?«
»In unserem Schlafzimmer.« Es war in einem der beiden Ruheräume untergebracht, die ihren Bewohnern Privatsphäre verschafften.
»Bin schon unterwegs.«
Nur wenige Sekunden vergingen, ehe sich die Tür öffnete. Darnell glitt in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er war einen Meter fünfundachtzig groß und trug die Standarduniform der Sekundanten. Das schwarze Shirt spannte über seinen breiten Schultern, und sein kahlgeschorener, brauner Kopf glänzte im Lampenlicht.
Ami warf ihr Handy auf das Bett.
Darnell brauchte nur einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen und sagte sofort: »Oh verdammt. Was ist passiert? Ist etwas nicht in Ordnung?«
Ihr nächster Atemzug verwandelte sich in ein Schluchzen. »Ich bin infiziert«, erklärte sie und brach in Tränen aus.
Wenn Darnells Gesichtsfarbe es erlaubt hätte, wäre er bleich geworden. »Was?«
»Ich bin mit dem Virus infiziert. Ich bin dabei, mich zu verwandeln«, schluchzte Ami.
Fluchend durchquerte er das Zimmer und nahm sie fest in die Arme. »Bist du sicher?«
Sie nickte.
Da sie weder eine Sterbliche noch eine Begabte war, wusste niemand, ob sie sich in einen Vampir oder eine Unsterbliche verwandeln würde, wenn sie einmal mit dem Virus infiziert war. Oder ob sie die Verwandlung überhaupt überleben würde.
»Weiß Marcus davon?«
Sie schüttelte den Kopf. Jetzt schluchzte sie so heftig, dass sie kaum sprechen konnte. Sie war nicht imstande, es Marcus zu sagen. Er würde sich die Schuld geben und … wenn sie starb oder sich in einen Vampir verwandelte …
Sie konnte es ihm einfach nicht sagen. Noch nicht.
Darnell lockerte seine Umarmung und tastete nach seinem Handy. »Hallo, ich bin’s. Wir haben ein Problem. Ami braucht dich im Ruheraum, sofort. Bring David mit.«
Noch nie zuvor hatte sie ihn mit einem so harten Unterton sprechen hören. Darnell besaß ein sonniges Gemüt. Es war nicht leicht, ihn wütend zu machen. Selbst Bastien schaffte das nicht: Immer wenn er es versuchte, endete es damit, dass er hinterher derjenige war, der sich ärgerte – weil er keinen Erfolg gehabt hatte.
Prickelnde Energie erfüllte das Zimmer. Seth und David materialisierten sich direkt vor der Schlafzimmertür. Ami musste einen Schritt nach hinten machen und den Kopf in den Nacken legen, damit sie den beiden Unsterblichen in die besorgten Augen sehen konnte.
»Was ist passiert?«, fragte Seth ohne Vorgeplänkel.
»Marcus hat Ami gebissen, und jetzt ist sie infiziert«, knurrte Darnell mit so viel Gift in der Stimme, dass es Ami die Sprache verschlug.
Seth’ Augen fingen an, in einem hellen Goldton zu leuchten, während die von David bernsteinfarben aufblitzten. Ein grollendes Geräusch wurde laut, als der Boden unter ihren Füßen, die Wände und die Zimmerdecke zu beben begannen.
»Ich bring ihn um«, schnarrte Seth.
»Nein!«, schrie Ami laut, um das Rumpeln zu übertönen. »Es ist nicht so, wie du denkst!«
»Du lügst auch noch für ihn? Um ihn zu schützen?«, rief der Unsterbliche wütend.
»Weil er mich nicht gebissen hat! Darnell hat mich missverstanden. Er hat mich nicht gebissen.« Sie sah David an. »Marcus hat mich nicht gebissen!«
David, dessen Augen immer noch vor Wut blitzten, legte beschwichtigend die Hand auf Seth’ Schulter und wechselte einen Blick mit Darnell.
Der betrachtete Ami stirnrunzelnd. »Aber du hast gesagt, dass du infiziert bist, dass du dabei bist, dich zu verwandeln.«
»Das bin ich auch«, erwiderte sie. »Aber …«
Seth schüttelte Davids Hand mit einem wütenden Brüllen ab und verschwand. Das Gebäude hörte auf zu zittern, und auch das Donnergrollen verstummte.
Panik durchzuckte Ami. »Wohin geht er?«
»Marcus finden, schätze ich«, antwortete David mit angespannter Stimme.
»Dann ruf ihn zurück!«, flehte sie. »Er wird ihn töten!« Als David sie nur wortlos anstarrte, richtete sie den Blick auf Darnell. »Marcus hat mich nicht gebissen, Darnell. Bitte! Lass nicht zu, dass Seth ihn tötet!«
In Darnells dunkelbraunen Augen spiegelte sich Unsicherheit wider. »Wie zum Henker soll ich ihn aufhalten?«
»Ich weiß es nicht! Klemm dich an dein verdammtes Handy und …«
In dieser Sekunde tauchte Seth wieder auf, eine Hand hatte er um Marcus’ Kehle gelegt. Er ließ ihn dreißig Zentimeter über dem Boden baumeln. Wieder begann das Haus, unter Seth’ Zorn zu beben.
Marcus bemühte sich erfolglos, Seth’ Finger von seinem Hals zu lösen. Er wurde immer röter im Gesicht und richtete die weit aufgerissenen Augen auf Ami. Was geht hier vor?, fragte er sie auf telepathischem Wege.
Er glaubt, dass du mich gebissen hast, erklärte sie.
Was? Er sah Seth an. Ich habe sie nicht gebissen! Ich schwöre es! Ich liebe sie. Ich würde mein Leben opfern, um sie zu beschützen! Warum zum Teufel sollte ich sie mit dem Virus infizieren, wenn ich weiß, dass ich ihr damit schaden könnte? Dass das Virus sie mir wegnehmen könnte?
Eine steile Falte bildete sich zwischen Seths’ Augenbrauen. Er lockerte seinen Griff und ließ Marcus fallen.
Seth konnte nicht nur die Gedanken einer Person lesen, er konnte auch spüren, was sie empfand, und ihre Vergangenheit sehen.
Marcus stolperte, schaffte es aber, sich aufrecht zu halten. Allerdings gelang es ihm nicht, seine Lungen mit Luft zu füllen. Dafür hatte Seth zu viel Schaden an seiner Kehle angerichtet.
»David«, bettelte Ami. »Bitte.«
Ohne Seth anzusehen, legte er seine mitternachtschwarzen Finger um Marcus’ Kehle, um ihn zu heilen.
Luft strömte in Marcus’ Mund und füllte seine Lungen.
Als David die Hand wegzog, beugte sich Marcus nach vorn und atmete tief durch. Ein und aus. Ein und aus.
Es klingelte an der Tür.
Darnell ging hinüber und öffnete sie einen Spalt.
Étienne, Lisette, Tracy, Sheldon, Yuri, Stanislav, Ethan und Edward standen im Flur. Sie wirkten verunsichert.
Étienne räusperte sich. »Ist bei euch alles in Ordnung?«
»Ja«, erwiderte Darnell mit ausdrucksloser Miene. »Warum fragst du?«
Étienne deutete auf die Zimmerdecke. »Weil das Haus dabei ist, um uns herum zusammenzubrechen.«
Alle im Ruheraum richteten den Blick auf Seth.
Der schloss die Augen und atmete ein paarmal tief ein und aus.
Das Grollen ließ nach. Das Haus hörte auf zu zittern.
Darnell drehte sich wieder zu den anderen um. »Uns geht es gut. Vielen Dank.«
Étienne wollte gerade etwas sagen, als Darnell den Unsterblichen die Tür vor der Nase zuschlug und sich dann dagegen lehnte.
»Würde mir bitte jemand sagen, was hier los ist?«, wollte Marcus wissen und drehte sich zu Seth um. »Wer hat gesagt, dass ich Ami gebissen hätte?«
»Das war ich«, sagte Darnell.
»Es war ein Missverständnis«, warf Ami ein, die am ganzen Leib zitterte. Marcus würde verzweifelt sein, wenn er es erfuhr.
Marcus sah sich im Zimmer um, er wirkte völlig verwirrt. »Ein Missverständnis? Was für ein Missverständnis?« Er holte noch einmal tief Luft. »Und was riecht hier so merkwürdig? Hat sich hier drin jemand übergeben?«
»Das war ich«, gestand Ami.
Mit gerunzelter Stirn ging Marcus zu ihr und nahm ihr Gesicht in seine großen Hände. »Ich wusste doch, dass etwas nicht stimmt. Was ist los mit dir, Süße? Bist du krank?«
»Ami kann nicht krank werden«, bemerkte David.
Marcus warf ihm einen gereizten Blick zu. »Ganz offensichtlich doch.«
»Nein«, schaltete sich Seth ein. »Das ist nicht möglich.«
Marcus warf Ami einen fragenden Blick zu, er begriff immer noch nicht.
»Sag’s ihm«, sagte Darnell leise.
»Ich bin infiziert«, flüsterte sie und fing wieder an zu weinen.
Marcus erstarrte, alle Farbe wich aus seinen Zügen. »Was?«
»Ich bin dabei, mich zu verwandeln.«
»Das ist unmöglich. Das kann nicht sein. Ich habe dich nie gebissen.«
»War es ein Vampir?«, wollte Darnell wissen.
Marcus’ Augen fingen an, in einem hellen Gelbbraun zu leuchten. »Ein Vampir hat dich gebissen? Wann?«
»Nein, ich bin nicht von einem Vampir gebissen worden.«
»Wer war es dann?«
Ami starrte ihn wortlos an.
Plötzlich fluchte zuerst David, dann Seth.
»Was denn?«, fragte Darnell und musterte die beiden ältesten Unsterblichen stirnrunzelnd.
Seth fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Bitte sag mir, dass du Kondome benutzt, Marcus.«
»Natürlich nicht«, erwiderte dieser verdutzt. »Warum sollte ich? Das Sperma eines Unsterblichen stirbt nach der Ejakulation sofort ab, und das Virus stirbt mit ihm.«
»Bei einer menschlichen Frau ist das so, ja«, bestätigte David. »Aber Ami ist kein Mensch, und ihr Körper besitzt bemerkenswerte regenerative Fähigkeiten. Wenn die das Sperma davon abgehalten haben, abzusterben, dann …«
»Dann habe ich sie infiziert?«, folgerte Marcus, dessen entsetzter Blick zu Ami wanderte. »Ich habe dich infiziert?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Es war ein Unfall.«
»Glaubst du wirklich, dass das für mich einen Unterschied macht?« Er brüllte fast. Er zog sie an sich, umarmte sie heftig und voller Angst. »Warum hast du mir das nicht erzählt?«
»Ich bin auch heute erst darauf gekommen und …«
»Aber du hast es gewusst, als ich gegangen bin.«
»Ich war mir nicht absolut sicher, bis ich mich übergeben musste. Das ist mir noch nie passiert. Außerdem habe ich Fieber und … mir war bis vorhin nicht klar, dass mein Geruchssinn gesteigert ist. Das wurde mir erst klar, als du so überrascht warst, dass ich Tracys Deodorant riechen konnte«, erklärte sie und drückte ihn fest an sich. »Ich wollte es einfach nicht glauben.«
»Du Idiot!«, brüllte Darnell. »Wie kann man nur so unglaublich blöd sein?«
»Darnell!«, zischte Ami. »Ich sagte es doch schon – es war ein Unfall!«
»Wenn er dir auf die Zehen trampelt – das ist ein Unfall, Ami«, widersprach Darnell. »Wenn er deinen Tee verschüttet. Aber das hier ist einfach nur dumm!«, rief er aufgebracht. Es war offensichtlich, dass er große Angst um sie hatte.
Da sie nicht wollte, dass Marcus noch größere Schuldgefühle bekam, verteidigte sie ihn und stritt sich mit Darnell, während Marcus sie wortlos in den Armen hielt. Das Gesicht hatte er an ihrem Hals vergraben, und aus Verzweiflung umarmte er sie immer fester, bis er ihr fast die Luft abschnürte.
»Wartet«, sagte Seth plötzlich.
Ami und Darnell hörten auf, sich zu streiten.
»Ami, was waren noch mal die Symptome?«
Sie sah, wie er einen Blick mit David wechselte.
»Fieber. Übelkeit. Ich muss mich übergeben. Müdigkeit. Gesteigerter Geruchssinn.«
Wieder wechselten er und David einen Blick.
»Seid mal alle eine Sekunde lang ganz still«, befahl Seth.
Keiner sagt ein Wort.
Eine Minute verging, in der Seth reglos dastand.
Plötzlich schnappte David nach Luft. Seine Augen wurden groß.
»Hörst du’s auch?«, fragte Seth.
»Ja.«
Marcus richtete sich auf. Den einen Arm um Ami gelegt, sah er die beiden älteren Unsterblichen an. »Was hört ihr denn?«
»Ami«, sagte Seth, »du bist nicht mit dem Virus infiziert.«
»Bin ich nicht?« Sie atmete befreit auf … bis sie bemerkte, dass die beiden älteren Unsterblichen kein bisschen erleichtert wirkten. »Was ist es dann?«
David suchte ihren Blick. »Du bist schwanger.«
Zum ersten Mal seit einem Monat war Melanie einfach nur glücklich. Sie liebte Bastien über alles und wurde ebenfalls geliebt. Sie würden heiraten.
Und jetzt hatten sie auch noch ein gemeinsames Zuhause. Sie musste nicht mehr auf jedes Wort achten, das sie außerhalb des Schlafzimmers sagte, da theoretisch jeder ihnen zuhören könnte. Und es auch tun würde.
Als Bastien mit ihrem Chevy das letzte Stückchen einer sehr langen Einfahrt hochfuhr, erhellten die Scheinwerfer ein hübsches einstöckiges Haus. Melanie musste sich immer noch daran gewöhnen, dass nachts alles ganz anders aussah als im hellen Tageslicht. Dank ihrer gesteigerten Sehkraft konnte sie zwar alles sehen, aber die Farben wirkten ausgeblichen. Das Haus schien in einem warmen Braunton gestrichen zu sein – oder zumindest einem vergleichbaren erdigen Ton –, mit weiß abgesetzten Kanten und dunklen Fensterläden. Solarzellen auf dem Dach reflektierten das Mondlicht. Und die reizende Vorderveranda war … besetzt.
Auf den Verandastufen vor ihrem Haus saß Seth.
Bastien parkte den Wagen vor der Garage.
Als sie aus dem Wagen ausgestiegen waren und den knirschenden Kiesweg hochgingen, erhob sich der Anführer der Unsterblichen Wächter.
Er wirkte … niedergeschlagen. Oder aufgebracht. Seine Augen leuchteten in einem faszinierend matten Goldton.
»Was ist los?«, fragte Bastien und legte Melanie eine Hand auf den Rücken.
Sie schmiegte sich an ihn.
»Wir haben ein Problem.«
Oh nein. Nicht Cliff, dachte sie. Bitte, lass es nicht Cliff sein. Er hat sich in den letzten Wochen so gut geschlagen.
»Es ist nicht Cliff«, beruhigte Seth sie.
»Was ist es dann?«, wollte Bastien wissen.
Der andere zögerte. Sein langes Haar, das normalerweise ordentlich frisiert und mit einem Lederband zusammengebunden war, hing lose herunter und war zerzaust, als wäre er ständig mit den Händen hindurchgefahren. »Ich darf euch das eigentlich nicht sagen, ohne einen Vertrauensbruch zu begehen … aber ich brauche eure Hilfe.«
Melanie sah Bastien an. Seiner gerunzelten Stirn nach zu urteilen spürte auch er, wie nervös ihr Anführer war. »Wir tun, was wir können«, sagte sie.
Bastien schloss sich ihrem Versprechen an. »Was ist los? Was ist passiert?«
Seth holte tief Luft. »Ami ist schwanger.«
Die Ankündigung versetzte Melanie einen Schock. Und sie spürte, wie es Bastien an ihrer Seite die Sprache verschlug.
»Ich dachte, dass Unsterbliche nicht in der Lage sind, eine Sterbliche zu schwängern«, sagte sie langsam.
Seth’ Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Aber Ami ist keine normale Sterbliche.«
»Dieser Trottel!«, platzte Bastien heraus, und sein Gesicht verfinsterte sich vor Wut. »Dass er ihr ausgerechnet das antun muss! Bescheuerter kann man sich wirklich nicht anstellen. Hat er denn keine Kondome benutzt?«
»Nein. Er hielt es für unnötig, da sie technisch gesehen eine Sterbliche ist.«
»Aber sie ist kein Mensch!«, rief Bastien aufgebracht. »Sie hat gesteigerte Regenerationsfähigkeiten. Ist ihm nie der Gedanke gekommen, dass …«
Seth hob die Hand. »Nein, offenbar nicht.«
Melanie musterte den Unsterblichen prüfend.
»Machst du dir Sorgen, dass Ami mit dem Virus infiziert ist? Oder das Virus dem Fötus schaden könnte?«
»Beides«, gestand Seth. »Ich kann es nicht an ihr riechen, aber … ihre Physiologie ist einfach anders … vielleicht kann ich das Virus bei ihr einfach nicht wahrnehmen.«
Melanie konnte seine Besorgnis verstehen. Es gab keine Möglichkeit vorherzusehen, was das Virus bei Ami auslösen würde, ob es sie verwandeln oder töten würde. Ob sie ein Vampir oder eine Unsterbliche werden würde. Und ein Baby …
Würde das Virus seine Entwicklung behindern? Es daran hindern zu altern?
Und was war mit Amis Erbgut? Würde ein Fötus, der aus der DNA eines Begabten und der DNA einer Außerirdischen bestand … würde er … gesund sein?
»Wie nehmen sie es auf?«, fragte sie.
Seth schüttelte den Kopf. »Marcus ist völlig verzweifelt, gibt aber sein Bestes, es nicht zu zeigen, da Ami sich wahnsinnig freut. Das war ja der Hauptgrund, warum sie zur Erde gekommen ist: Dass auf ihrem Planeten kaum noch Kinder zur Welt kommen, weil ein Volk aus einem anderen Sonnensystem ein Virus als Biowaffe gegen die Lasarer eingesetzt hat.
Die Frauen auf ihrem Planeten sind entweder unfruchtbar oder können die Babys nicht austragen. Geburten sind in ihrer Heimat extrem selten geworden, deshalb … ja, man kann es nicht anders sagen. Sie ist aufgeregt und freut sich.«
Bastien fluchte. »Sie begreift nicht, was es bedeutet.«
»Nein«, stimmte Seth ihm zu, »das tut sie wirklich nicht.«
»Du musst es ihr sagen«, sagte Melanie. »Sie verdient es, die Wahrheit zu erfahren.«
Seth sah sie an. »Würdest du mit ihr reden? Die nötigen Untersuchungen vornehmen?«
»Ich glaube nicht, dass sie …«
»Sie wünscht es sich. Ich habe ihr gesagt, dass sie engmaschige medizinische Überwachung braucht, sowohl durch unsterbliche Heiler als auch durch Ärzte, da Schwangerschaften bei ihrem Volk grundsätzlich immer schwierig sind. David und ich haben beide bereits dabei geholfen, Babys auf die Welt zu bringen …«
Bastien hob die Augenbrauen. »Im Ernst?«
»Aber unser Wissen über Schwangerschaften und die verschiedenen Probleme, die damit einhergehen können, ist begrenzt. Solange ihre Gesundheit nicht bedroht ist, bin ich mir nicht sicher, ob wir einschätzen können, was normal ist und was nicht. Das habe ich ihr gesagt und … sie hat darum gebeten, dass du sie untersuchst, Melanie, und ihre Schwangerschaft begleitest.«
Melanie tat nichts lieber als das. Ami musste ihre Angst vor Melanie verloren haben, als sie sich während ihrer Verwandlung um sie gekümmert hatte. Und da Melanie so viel Zeit damit verbracht hatte, die faszinierenden Unterschiede in der Physiologie der Vampire und Unsterblichen zu studieren, war sie bestens dafür qualifiziert, den Fötus zu überwachen und nach Anzeichen für eine Infektion Ausschau zu halten.
»Geburtshilfe ist zwar nicht mein Spezialgebiet, aber ich lese jetzt viel schneller und kann mir das notwendige Wissen innerhalb kürzester Zeit aneignen. Wenn du möchtest, fange ich noch in dieser Nacht damit an.«
»Morgen Nacht reicht. Sag Chris, welche Bücher und Materialien du brauchst, und er bringt die Sachen hier vorbei, noch ehe die Sonne aufgeht.«
»Prima. Ich gebe ihm Bescheid.«
»Ich habe daran gedacht, einen Unsterblichen aus Deutschland herzuholen, der auch über das Virus geforscht hat. Möglicherweise weiß er, welche Wirkung das Virus auf ein Baby haben könnte.«
»Sein Wissen wäre mir hochwillkommen.«
»David und ich haben über das Thema gesprochen und … einer von uns beiden wird immer in Davids Haus zur Verfügung stehen, für den Fall, dass etwas schiefgeht oder dass sie unsere Heilkräfte benötigt, um das Baby auszutragen.«
Bastien sagte: »Ich verstehe zwar nichts davon, aber ich werde auch alles tun, was in meiner Macht steht, um zu helfen. Ein Anruf genügt.«
Melanie wusste, dass Ami wie eine Schwester für ihn war und dass er sich Sorgen um sie machte.
Ihr selbst ging es nicht anders. Ami war die Erste aus der Familie der Unsterblichen gewesen, die Bastien ihre Freundschaft angeboten hatte, ohne etwas dafür zu erwarten. Und Melanie war eine der wenigen, die wussten, was Ami wirklich war. Die meisten hielten sie für eine Begabte.
»Also«, wandte sich Bastien zögernd an Seth, »wie willst du das geheim halten?«
»Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Wir haben den Herzschlag des Fötus nur deswegen nicht gehört, weil die Schwangerschaft noch nicht lange besteht und Babys bisher einfach nicht Teil unserer Welt waren. Aber im Nachhinein wird mir klar, dass ich den Herzschlag schon beim Abendessen gehört habe. Ich habe gedacht, dass es der von Slim wäre. Aber der Herzschlag des Babys wird kräftiger werden.«
»Und Ami wird zunehmen«, fügte Bastien hinzu.
»Was willst du den anderen sagen?«, fragte Melanie.
»Ich weiß es nicht. Das haben wir uns noch nicht überlegt. Teufel noch mal, wir haben es erst vor zwanzig Minuten herausgefunden.« Seth seufzte und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich euch beide damit belaste. Und das ausgerechnet heute Nacht. Ich gratuliere euch zu eurer Verlobung.«
Melanie lächelte überrascht. »Vielen Dank. Allerdings habe ich das Gefühl, ihn zu diesem Schritt gedrängt zu haben.«
Seth lächelte. »Nein, das hast du nicht. Schon bevor das Netzwerk angegriffen wurde, wünschte er sich nichts mehr, als den Rest seines Lebens mit dir zu verbringen.«
Melanie sah Bastien an. »Ist das wahr?«
Bastien musterte Seth stirnrunzelnd. »Wenn du tatsächlich so beschäftigt bist, wie du immer behauptest – wie schaffst du es dann, so viel Zeit in meinem Kopf zuzubringen?«
»Gerade weil ich so beschäftigt bin, verbringe ich Zeit in deinem Kopf. Wenn ich weiß, was du denkst, muss ich mir keine Sorgen darüber machen, was du als Nächstes anstellen wirst – weil ich es schon vorher weiß.«
Melanie nahm Bastiens Hand und ergriff schnell das Wort, damit er die Sache auf sich beruhen ließ. »Vielen Dank für das Haus, Seth. Wir wissen das wirklich zu schätzen.«
»Gern geschehen. Ich hoffe, es gefällt euch.«
»Was ist mit Tanner?«, fragte Bastien. »Soll er immer noch mein Sekundant werden?«
»Ja. Ihr beiden arbeitet gut zusammen, und er ist absolut loyal. Im hinteren Teil des Grundstücks ist ein kleines Gästehaus für ihn. Auf diese Weise ist er da, wenn ihr ihn braucht, und weit genug weg, um eure Privatsphäre nicht zu stören.«
»Perfekt.« Melanie freute sich darauf, Bastiens Freund besser kennenzulernen.
Aber Seth wirkte immer noch besorgt. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das nur sehr selten vorkam.
»Gibt es etwas, das wir für dich tun können?«
Zu ihrer Überraschung nickte Bastien. »Möchtest du hereinkommen? Etwas essen? Chris sagte, dass in der Küche alles Notwendige vorhanden wäre.«
Endlich rang sich auch Seth zu einem matten Lächeln durch. »Ich rate dir zur Vorsicht. Am Ende komme ich noch auf die Idee, dass du anfängst, mich zu mögen.«
Bastien zeigte ihm den Stinkefinger.
Seth schüttelte den Kopf. »Wenn ich dir sagen würde, wie ähnlich Roland und du euch seid, dann würdest du dir vor Schreck in die Hosen machen.«
»Bitte tu’s nicht«, scherzte Melanie lächelnd.
Die beiden Männer lachten.
»Vielen Dank für das Angebot, aber es gibt ein Problem in Dänemark, um das ich mich kümmern muss. Ich wollte nur … ich musste nur …«
»… reden?«, schlug sie mit sanfter Stimme vor.
Er nickte. »Ja. Warum nehmt ihr beide euch nicht eine Nacht frei? Weiht euer neues Zuhause ein. Denkt darüber nach, was ihr gern an der Einrichtung verändern möchtet.«
»Liebt euch in jedem verdammten Zimmer?«, fügte Bastien mit einem anzüglichen Seitenblick auf Melanie hinzu.
Sie lachte.
Genauso wie Seth. »So würde ich es jedenfalls machen, wenn ich derjenige wäre, der hier einzieht. Von mir aus könnt ihr euch morgen Nacht auch noch freinehmen.« Der Anführer der Unsterblichen Wächter zog eine Taschenuhr heraus, öffnete sie und überprüfte die Zeit. »Es tut mir leid. Ich muss los. Ich danke euch beiden.«
»Pass auf dich auf«, sagte Melanie zu ihm.
Er nickte lächelnd.
»Seth«, sagte Bastien plötzlich.
Fragend sah er ihn an.
Melanie wartete gespannt darauf, was Bastien wohl sagen würde. Als er schwieg, fragte sie sich, ob er es vielleicht auf telepathischem Weg tat.
Seth lächelte und klopfte Bastien auf die Schulter, dann löste er sich in Luft auf.
»Was hast du zu ihm gesagt?«, fragte sie neugierig.
»Nichts«, erwiderte er mit einem schwachen Stirnrunzeln. »Ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte.«
»Na schön, was wolltest du denn sagen?«
»Ich wollte ihm danken.« Er drehte sich zu ihr um, streckte die Hand aus und spielte mit ihren lose herunterhängenden Haarsträhnen. »Wenn er nicht die Forderung nach meiner Hinrichtung ignoriert hätte und mich unter seine Fittiche genommen hätte, dann hätte ich dich niemals kennengelernt.«
Mit einem Lächeln schmiegte sich Melanie an ihn und küsste ihn auf das Kinn. »Ich bin mir sicher, dass er deine Gedanken gelesen hat.«
Er umarmte sie fest.
»Also …«, fing sie an.
Bastien hob eine Augenbraue. »Also?«
»Jedes verdammte Zimmer?«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Jedes verdammte Zimmer.« Er hob sie hoch und trug sie die Stufen hinauf.
Sie schlang die Arme um seinen Nacken. »Wusstest du wirklich schon vor dem Angriff auf das Netzwerk, dass du den Rest deines Lebens mit mir verbringen willst?«
»Vielleicht habe ich es mir ein- oder zweimal ausgemalt. Oder zwanzigmal. Allerdings konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es dir genauso gehen könnte. Insbesondere sobald du verwandelt worden bist. Die Ewigkeit ist eine verdammt lange Zeit.«
Zärtlich presste sie ihre Lippen auf die seinen. »Dann habe ich jede Menge Zeit, dich davon zu überzeugen, dass ich dich liebe.«
Er küsste sie voller Leidenschaft. »Ich weiß zwar wirklich nicht, was du in mir siehst, Melanie, aber ich bin unendlich glücklich darüber, dass du es tust. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich eines Tages wieder glücklich sein könnte.«
»Also bist du glücklich?«
»Ja. Mit dir.«
Sie küsste ihn noch einmal, liebkoste seine Lippen mit der Zungenspitze und hörte, wie sein Herz schneller schlug.
Er stöhnte kehlig auf. »Ich wäre noch glücklicher, wenn ich die Haustür aufbekommen würde, ohne sie kaputt zu machen. Wo ist dieser verdammte Schlüssel?«
Grinsend ließ sie ihn vor seinem Gesicht hin- und herbaumeln und schloss dann die Tür auf. »Welches Zimmer nehmen wir uns als Erstes vor?
Er öffnete die Tür und trat ein.
Melanie betätigte den Lichtschalter, der sich direkt neben dem Eingang befand, sodass ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer sichtbar wurde.
Bastien grinste. »Wie wäre es mit dem Wohnzimmer?«
Auflachend versetzte Melanie der Tür einen Tritt und ging hinüber zu dem schönen, großen und verlockend weich aussehenden Sofa.