3
Schweigend lauschte Melanie der Diskussion. Sie hatte noch nie zuvor an einem Treffen der Unsterblichen Wächter teilgenommen und war überrascht über das neckische Geplänkel, mit dem sich die mächtigen Männer und Frauen das Zusammensein versüßten.
Das hatte sie nicht erwartet. Sogar Seth und David lächelten.
Während sie sich unterhielten, fragte sich Melanie, ob solche Treffen überhaupt notwendig gewesen waren, bevor Bastien seinen Rachefeldzug gegen die Unsterblichen Wächter gestartet hatte. Auch wenn die Vampire im vergangenen Jahrtausend mehrere Rebellionen gegen die Unsterblichen angezettelt hatten, war keine davon auch nur annähernd so erfolgreich gewesen wie die von Bastien.
Die einzige Ausnahme bildete der Feldzug von Montrose Keegan und dem Vampirkönig, der stattgefunden hatte, kurz nachdem Bastien und seine Armee überwältigt worden waren.
Aber was sich zurzeit ereignete, erlebten die Unsterblichen zum ersten Mal. Auch für die Angehörigen des Netzwerks war das eine neue Erfahrung. Da sie nicht wussten, wie mächtig ihr Feind war – wer Emrys überhaupt war, wie viele Männer seiner Schattenarmee angehörten und was sein eigentliches Ziel war –, wussten sie auch nicht, wie sie auf die Bedrohung reagieren sollten. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wussten, war, dass Emrys um jeden Preis Ami in die Finger bekommen wollte. Aber wie sollten sie herausbekommen, wie der nächste Angriff auf die Unsterblichen aussehen würde? Die Bedrohung schien immer größer zu werden. Selbst die Droge, die ihre Gegner entwickelt hatten, war inzwischen noch gefährlicher geworden. Die einzige Droge, die den Unsterblichen etwas anhaben konnte.
Einer nach dem anderen machten die Unsterblichen und ihre Sekundanten Vorschläge, wie mit der Situation umgegangen werden sollte – die meisten liefen auf eine Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen hinaus.
Ein schnell wirkendes Gegenmittel gegen die Droge wäre unter diesen Umständen eine große Hilfe gewesen oder könnte das Ruder möglicherweise auch ganz herumreißen – allerdings musste Melanie die von ihr entwickelte Substanz erst noch testen. Bis jetzt hatte sie ihnen noch nicht einmal gesagt, dass sie möglicherweise ein Gegenmittel gefunden hatte. Wie hätte sie das tun sollen, wenn sie nicht wusste, wie sie das Mittel ohne hohes Risiko testen sollte?
»Ich bin dafür, dass wir den Vampiren vorschlagen, mit uns zu kooperieren«, verkündete Bastien plötzlich.
Alle Gespräche verstummten.
»Wie bitte?«, fragte Darnell, der offenbar kaum glauben konnte, was er da hörte.
Melanie erging es nicht anders.
»Ich bin der Meinung, dass wir die Vampire einbeziehen sollten. Wir sollten sie um Hilfe bitten«, wiederholte Bastien.
Tödliche Stille erfüllte das Zimmer; sie war so dicht, das man glaubte, darin schwimmen zu können.
»Bist du wahnsinnig?«, fragte Chris ungläubig.
»Chris«, warnte ihn Seth.
Vielleicht war er – genau wie Melanie – allmählich die Feindseligkeiten leid, mit denen der Chef des Netzwerks Bastien ständig überhäufte. Es musste noch mehr Gründe für seine Ablehnung geben als die Tatsache, dass sich Bastien gewaltsam Zutritt zum Hauptquartier verschafft hatte.
Melanie berührte Bastiens Arm. Ein kleiner elektrischer Schlag durchzuckte sie – wie immer, wenn sie ihn berührte. Oder er sie.
Er richtete seine warmen braunen Augen auf sie.
»Meinst du damit Cliff und Joe?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Die wissen ja ohnehin Bescheid.«
Melanie spürte, dass Chris ihr einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, bevor er das Wort ergriff. »Was haben Sie den Vampiren erzählt, Dr. Lipton? Haben Sie Ihnen etwa wichtige Informationen anvertraut?«
Beklommenheit breitete sich in ihr aus. Chris Reordon würde sie garantiert feuern, wenn er glaubte, dass sie die Regeln verletzte. Außerdem hatte sie Angst vor dem, was er mit den Vampiren machen würde, wenn er herausfand, wie viel sie über das wussten, was im Netzwerk vor sich ging.
Eigentlich war es nicht ihr Fehler, das Cliff und Joe Dinge wussten, die sie nicht wissen durften. Aber sie hatte nicht den Eindruck, dass es Chris interessieren würde, woher sie ihre Informationen hatten. Chris war einfach zu sehr damit beschäftigt, jede Bedrohung zu bekämpfen, die jene gefährdeten, die für ihn arbeiteten – oder für die er arbeitete.
»Beantworten Sie meine Frage, Dr. Lipton. Wenn Sie den beiden Dingen erzählt haben, die nicht …«
»Lass sie in Frieden, Reordon«, schnarrte Bastien. »Ich bin derjenige, der regelmäßig mit ihnen gesprochen hat.«
Chris wandte sich an Seth und deutete wütend auf Bastien. »Siehst du? Das ist der Grund, warum ich ihn davon abhalten wollte, die Vampire beim Netzwerk zu besuchen. Und warum ich nicht wollte, dass er einbezogen wird.«
»Ja, und jetzt siehst du, wie weit dich das gebracht hat«, knurrte Bastien.
Chris bedachte ihn mit einem bitterbösen Blick.
Melanie trat Bastien unter dem Tisch gegen das Schienbein und hielt dann unwillkürlich den Atem an. Was war nur in sie gefahren?
Bastien sah sie an, ein paar Schrecksekunden lang spiegelte sein Gesicht ausschließlich Verblüffung wider.
Ängstlich wartete Melanie auf seine Reaktion.
Schließlich fingen seine Mundwinkel an zu zucken, und er wandte den Blick ab.
Sie seufzte erleichtert und versuchte, sich zu beruhigen. Bastien war wirklich unwiderstehlich, wenn er lächelte.
Seth hob die Hand. »Weder Bastien noch Dr. Lipton haben das Netzwerk hintergangen, Chris.«
»Aber wie …«
»Der Gehörsinn der Vampire ist fast genauso gut wie der unsere. Sie schnappen alles Mögliche auf, wenn sie sich in ihren Apartments, in den Labors und den anderen Räumen aufhalten, zu denen sie Zugang haben. Wie dem auch sei, es spielt keine Rolle. Sie verlassen das Gebäude nie, und keiner von ihnen besitzt telepathische Fähigkeiten – also, wem sollten sie von dem erzählen, was sie gehört haben?«
Ausnahmsweise schien Chris einmal wirklich gründlich nachzudenken, bevor er sich zu Melanie umdrehte. »Sie hätten mir sagen müssen, dass die Vampire uns hören können.«
»Um ehrlich zu sein«, antwortete sie, »wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass Ihnen das nicht klar sein könnte.«
Er nickte. »Da haben Sie natürlich recht. Ich hätte es tatsächlich wissen und die entsprechenden Vorkehrungen treffen müssen.«
Im Stillen hoffte Melanie, dass er nicht vorhatte, alle Räume des Netzwerks schalldicht isolieren zu lassen. Das begrenzte Leben, das die Vampire zu führen gezwungen waren, langweilte sie auch so manchmal schon zu Tode. Und Joe hatte ihr einmal anvertraut, dass dem zu lauschen, was im Hauptquartier so vor sich ging, fast so unterhaltsam war wie eine Seifenoper.
Würde sich Janet am Ende doch noch dazu überreden lassen, mit Charles auszugehen? Würde Calvin die Beförderung bekommen, um die er und Sam konkurrierten? Und wann würde Tara Jack endlich sagen, dass sie von ihm schwanger war?
Hören Sie morgen wieder rein und finden Sie’s heraus.
Unruhig rutschte Bastien auf seinem Stuhl hin und her.
Als Melanie klar wurde, dass sie immer noch seinen Arm festhielt, wurde sie rot und ließ los.
Am anderen Ende des Tischs, wo David saß, beugte sich Ami vor. »Bastien, wenn du gar nicht von Cliff und Joe gesprochen hast, was hast du dann gemeint, als du sagtest, dass du die Vampire mit einbeziehen willst? Welche Vampire?«
»Alle.«
Melanie musste sich eingestehen, dass sie verstand, warum ihn alle so fassungslos anstarrten.
»Das ist ein Scherz, oder?«, ergriff Darnell das Wort.
»Woher sollen die Soldaten denn sonst gewusst haben, ob sie einen Unsterblichen oder einen Vampir jagten?«, gab Bastien zu bedenken.
Tanner nickte. »Er hat recht. Die Soldaten hatten keine Chance, bei dem Tempo mitzuhalten, mit dem Bastien und die Vampire von dem Unigelände der University of North Carolina nach Duke gerannt sind. Sie müssen sich dort versteckt und darauf gewartet haben, dass einer der Unsterblichen aufkreuzt.«
Obwohl es logisch klang, schien Bastien nicht besonders begeistert von Tanners Beitrag zu sein. Melanie fragte sich, was der Grund dafür sein mochte. Cliff und Joe hatten Tanner fast genauso häufig erwähnt wie Bastien. Die Vampire schienen davon auszugehen, dass die beiden Männer gute Freunde waren.
Erneut kritzelte Chris etwas in seinen Notizblock. »Hast du jemanden angerufen, bevor du losgezogen bist, um die Vampire zu verfolgen, Bastien?«
»Wen zum Henker hätte ich anrufen sollen?«
»Das hat er nicht«, antwortete Seth für ihn.
»Was ist mit dir, Richart?«
»Nein. Ich habe mich um die Vampire gekümmert, die in White Chapel geblieben sind. Danach bin ich Bastiens Spur so lange gefolgt, bis mir klar war, dass sie nach Duke führte. Also habe ich mich dorthin auf das Campusgelände teleportiert.«
Chris hörte auf zu schreiben.
Darnell lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Montrose Keegan hat dem Vampirkönig gesagt, dass er seine Blutsauger vor allen Werkstätten mit Abschleppfahrzeugen platzieren und darauf warten soll, dass einer der Unsterblichen anruft, um ein Aufräumkommando zu bestellen. Wenn Keegan Emrys erzählt hat, dass das Unigelände das bevorzugte Jagdrevier der Vampire ist, dann hat er vielleicht dasselbe getan. Er musste seine Soldaten nur zwischen ein paar Unis aufteilen und … warten.«
»Oder zwischen allen Unis«, fügte Lisette hinzu. »Wir wissen nicht, wie viele Männer unter Emrys’ Kommando stehen.«
Bastien beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. »Diese Männer konnten nicht wissen, wer dort auftauchen würde – ob es ein Vampir oder ein Unsterblicher sein würde.«
Seth nickte. »Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Vampir handeln würde, war größer.«
Melanie sah Bastien an. »Wüssten sie denn überhaupt, wie man einen Vampir und einen Unsterblichen auseinanderhält?«
Vampire waren ganz normale Menschen, die mit dem Virus infiziert worden waren. Unsterbliche hingegen waren schon zu Lebzeiten Begabte gewesen – Männer oder Frauen, die mit einer höherentwickelten DNA geboren und ebenfalls mit dem Virus infiziert worden waren. Diese DNA, deren Herkunft ein Mysterium war, verlieh den Unsterblichen nicht nur besondere Talente, sondern führte auch dazu, dass sie ein paar äußerliche Merkmale teilten: schwarzes Haar und dunkelbraune Augen. Nur Sarah besaß braunes Haar und hellbraune Augen, was daran lag, dass sich die DNA der Begabten über die Jahrtausende mit menschlicher DNA vermischt hatte.
»Nein«, erwiderte Bastien und sah sie an. »Keegan wusste nur, dass es genetische Unterschiede gibt und dass die DNA der Unsterblichen besonders ist.« Schon wieder hatte er gesagt, die DNA der Unsterblichen und nicht unsere DNA. »Der Tatsache, dass die Unsterblichen ein paar äußerliche Merkmale teilen, war er sich nicht bewusst. Sogar den Vampiren scheint das entgangen zu sein. Verdammt, es wäre mir selbst nicht aufgefallen, wenn Sarah mich nicht darauf hingewiesen hätte. Hinzu kommt, dass Vampire zu selten einen Zusammenstoß mit einem Unsterblichen überleben, um ihre Beobachtungen vergleichen zu können.«
Melanie dachte darüber nach, was passieren würde, wenn Emrys einen Vampir in die Finger bekam. Sie hatte die Akten über Ami gelesen und kannte die Details über ihre Gefangennahme und die schrecklichen Qualen, die Ami hatte erleiden müssen. Was in Wahrheit Folter gewesen war, hatten die Verantwortlichen als Studie bezeichnet.
Amis unmenschliche Behandlung hatten ihre Folterknechte in ihren Aufzeichnungen damit gerechtfertigt, dass sie die Welt angeblich von einer möglichen Invasion von Außerirdischen schützen wollten. Aber kein anständiger Arzt würde das, was sie ihr angetan hatten, als Studie bezeichnen.
Das hingegen, was Melanie mit den Vampiren tat, die im Hauptquartier lebten, verdiente diese Bezeichnung. Sie untersuchte sorgfältig ihr Blut, besah Gewebeproben unter dem Mikroskop und durchsuchte ihre DNA nach Hinweisen auf ein inaktives Merkmal, das dahingehend stimuliert werden konnte, sich so zu verhalten, wie es die DNA der Unsterblichen tat. Denn die DNA der Unsterblichen schützte sie vor den schlimmen Gehirnschäden, die das Virus bei einem infizierten Menschen ohne besondere Begabung hervorrief. Sie führte regelmäßige Tests durch, machte Computer- und Kernspintomografien und vieles mehr, wobei sie immer dasselbe Ziel verfolgte. Aber all diese Untersuchungen wurden nur gemacht, wenn die Vampire dem ausdrücklich zustimmten, und keine der Maßnahmen verursachte bei ihnen gesundheitliche Schäden.
Ami hingegen war bei lebendigem Leib seziert worden. Emrys’ Leute hatten sie aufgeschnitten, ihr Brandwunden zugefügt, ihr Finger und Zehen amputiert, ihr sogar vollständige Organe entnommen … Und das alles, während sie bei Bewusstsein war, ohne jede Betäubung oder die geringste Rücksicht auf die Todesängste, die sie ausstand. Wenn ihr Körper nicht über hochentwickelte regenerative Fähigkeiten verfügen würde, wäre sie jetzt tot.
Und Ami hatte sich ihren Folterknechten in friedlicher Absicht genähert.
Deshalb zweifelte Melanie daran, dass Emrys und seine Untergebenen gefangene Vampire behutsamer behandeln würden als Ami. Insbesondere, wenn man bedachte, dass es im Gegensatz zu Ami jede Menge Vampire gab, die man foltern konnte – ein toter Blutsauger war leicht zu ersetzen.
»Wenn er einen Vampir fangen würde, erhielte Emrys Zugang zu allen Informationen, die er über die Unsterblichen braucht. Er würde alle ihre Stärken und Schwächen kennen«, sagte sie leise. »Ich bin mir sicher, dass die Ärzte, mit denen er zusammenarbeitet, ihre Studien mit absoluter Skrupellosigkeit vorantreiben würden.«
Bastien nickte. »Als ich mit Montrose zu tun hatte, wusste er nicht besonders viel über die Vampire, weil er zu viel Angst hatte, um mit ihnen zusammenzuarbeiten. Bei Emrys ist das anders. Möglicherweise hat er sogar den Mumm, mit seinem neu gewonnenen Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen – ohne sich um die feindseligen oder ungläubigen Reaktionen Gedanken zu machen, die Montrose von diesem Schritt abhielten. Darum müssen wir dafür sorgen, dass er keinen Vampir zu fassen kriegt.«
»Und das erreichen wir, indem wir uns mit ihnen anfreunden?«, fragte Roland trocken. »Sie zu jagen und auszuschalten ist genauso effizient.«
Die übrigen Unsterblichen nickten.
»Dem kann ich nicht zustimmen«, beharrte Bastien. »Es gibt einfach zu viele von ihnen. Und wir können nicht unsere ganzen Kräfte darauf konzentrieren, Vampire zu jagen, wenn wir uns auch noch um Emrys’ Männer kümmern müssen. Die Unsterblichen in dieser Gegend sind schon vollauf damit beschäftigt, die Vampire unter Kontrolle zu halten, weil sich in diesem Teil der Vereinigten Staaten so viele von ihnen sammeln.«
»Und wessen Fehler ist das?«, fragte Marcus grimmig.
»Marcus«, sagte Ami sanft, »Bastien war für uns da, als der Vampirkönig mich gefangen genommen hat. Hör dir doch wenigstens an, was er zu sagen hat.«
Der acht Jahrhunderte alte Unsterbliche musterte seine Frau mit gerunzelter Stirn. Sekunden später fingen seine Augen an, schwach zu leuchten, und es war offensichtlich, dass er sich alle Mühe gab, seinen Ärger im Zaum zu halten. Doch dann schlich sich ein bedächtiges Lächeln in seine Züge. »Das ist nicht fair«, sagte er zu ihr.
Sie grinste. »Ich weiß.«
Kopfschüttelnd bedeutete er Bastien, fortzufahren.
»Wenn wir verhindern wollen, dass sich Emrys einen Vampir schnappt, um ihn zu studieren, haben wir keine andere Wahl, als die Blutsauger mit einzubeziehen und sie zu warnen. Wir müssen ihnen sagen, dass die Menschen, die Jagd auf sie machen, eine Droge besitzen, die auch für sie sehr gefährlich ist. All die Gerüchte, die zurzeit kursieren, sind ja der Grund dafür, warum sie sich überhaupt in der Gegend zusammenrotten. Sie haben von den Aufständen gehört und wollen sich selbst ein Bild machen von dem, was hier vorgeht. Wir könnten neue Gerüchte in Umlauf bringen, die sie vor der neuen Bedrohung warnen und dazu bringt, mit uns zu kooperieren.«
»Hast du noch nie von dem Spruch Der Feind meines Feindes ist mein Freund gehört?«, schnarrte Roland.
Bastien presste die Lippen zusammen. »Das haben wir alle. Und das ist genau das, was ich meine. Wenn wir die Vampire davon überzeugen können, dass es einen neuen Feind gibt – einen gemeinsamen Feind –, der eine noch größere Gefahr für sie darstellt als wir, dann können wir uns vielleicht mit ihnen zusammentun, um Emrys das Handwerk zu legen. Aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen, sind die Vampire heutzutage geneigter, sich in Gruppen zu organisieren.«
»Ich kann mich nur wiederholen – ich glaube, wir wissen alle, wer die Schuld dafür trägt«, erklärte Roland grimmig.
»Und warum nutzen wir das nicht zu unserem Vorteil?«, beharrte Bastien. Im Stillen applaudierte ihm Melanie dafür, dass er sich nicht von Roland provozieren ließ. »Warum unterstützen wir sie nicht dabei, sich zusammenzutun, und überzeugen sie davon, mit uns zusammenzuarbeiten, statt gegen uns? Warum suchen wir nicht nach einem Weg, damit es sich für sie lohnt?«
Roland lachte bellend. »Wenn du glaubst, dass ich mit Vampiren zusammenarbeite, dann bist du noch durchgeknallter, als ich dachte. Und ganz sicher erlaube ich nicht, dass sich Sarah mit Blutsaugern einlässt.«
Sarah zog die Augenbrauen hoch. »Entschuldigung, wie war das? Hast du gerade gesagt, dass du es nicht erlaubst?«
Roland räusperte sich unbehaglich. »Ich meinte natürlich, dass ich auf keinen Fall erlaube, dass die Vampire ihre Spielchen mit dir treiben.«
»Sollte das nicht meine Entscheidung sein?«
Er lächelte. »Natürlich nur, wenn du mir zustimmt, Liebchen.«
Sarah lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist unmöglich.«
»Ich weiß.«
»Roland hat recht«, schaltete sich Marcus ein. »Woher willst du wissen, dass die Vampire nicht mit Emrys an einem Strang ziehen und uns gemeinsam bekämpfen? Das Risiko ist zu hoch.«
»Weil sie genauso viel zu verlieren haben wie wir, wenn Emrys einen von ihnen schnappt«, beharrte Marcus.
»Der Vampirkönig war offenbar anderer Ansicht«, stellte David fest. »Emrys versprach ihm eine Armee, wenn er Ami ergreifen und an ihn ausliefern würde. Ich bin mir sicher, dass es draußen viele Vampire gibt, die eine solche Gelegenheit dankbar beim Schopf ergreifen würden. Und viele andere Vampire, die sich auch für einen geringeren Lohn für seine Ziele einspannen lassen. Ihr labiler Geisteszustand beeinträchtigt ihr Urteilsvermögen.«
»Dann sollten wir sie davon überzeugen, dass sie sein Angebot nicht ernst nehmen dürfen«, sagte Bastien hartnäckig. »Erzählt ihnen, dass Emrys derjenige sei, der den Vampirkönig getötet hat. Und dass wir Unsterblichen die Armee des Vampirkönigs nur deswegen zerstören konnten, weil Emrys vor uns da war und den Großteil der Arbeit erledigt hat. Sorgen wir dafür, dass wir für sie wie das kleinere von zwei Übeln sind. Und das müssen wir so rüberbringen, dass selbst ein kompletter Psychopath versteht, worauf es hinausläuft.«
Uns Unsterbliche? Melanie starrte ihn an. Das musste ein Versprecher gewesen sein.
In der Stille, die darauf folgte, räusperte sich Tanner. »Das hat schon einmal funktioniert.«
Seth wandte seine Aufmerksamkeit dem blonden Mann zu. »Wie meinst du das?«
»Die Vampire, die sich Bastien angeschlossen hatten, hatten Angst vor ihm.«
Das überraschte Melanie. Nicht, weil sie daran gezweifelt hätte, dass Bastien Respekt einflößend sein konnte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er ihr einen Riesenschreck eingejagt, und normalerweise ließ sie sich nicht so schnell einschüchtern. Aber Cliff und Joe hatten immer nur Gutes über ihn gesagt. Genauso wie Vince.
»Jedenfalls die meisten«, relativierte Tanner. »Das war Bastiens einzige Chance, diejenigen zu kontrollieren, die anfingen, den Verstand zu verlieren. Er hatte sehr strenge Regeln. Und die Vampire hatten Angst vor seiner Reaktion, wenn sie diese verletzten.« Als Roland den Mund öffnete, hob er die Hand. »Es ist wahr, ein paar von ihnen haben trotzdem die Regeln gebrochen, aber der Großteil hat sich daran gehalten. Wenn es nicht so wäre, wären die Listen der vermissten Personen sehr viel länger.« Er warf Chris einen Blick zu. »Habe ich nicht recht?«
Melanie fragte sich, wie viel Überwindung es Chris wohl kosten mochte, bestätigend zu nicken.
»Was ich damit sagen will«, fuhr Tanner fort, »ist, dass die Vampire Bastien als das kleinere von zwei Übeln angesehen haben. Sie wussten, dass sie bessere Überlebenschancen haben, wenn sie sich ihm anschließen. Und sie wussten außerdem, dass sie sicherer sein würden, wenn sie die Unsterblichen besiegten. Wenn wir sie glauben machen, dass Emrys und seine Soldaten eine größere Gefahr für sie darstellen als die Unsterblichen, wird sich das dank der brodelnden Gerüchteküche schnell herumsprechen. Ich kann mir vorstellen, dass diejenigen von ihnen, die noch bei Verstand sind, mit euch zusammenarbeiten – um Emrys das Handwerk zu legen und zu verhindern, dass ihm ihre Artgenossen in die Hände fallen.«
Richart studierte Tanner neugierig. »Warum bist du dir so sicher, dass die Vampire uns zuhören würden?«
»Das sind Vampire«, erwiderte Tanner. »Bei denen kann man nie ganz sicher sein. Aber wie ihr wisst, haben sie auf Bastien gehört. Sie haben sich nicht nur seiner Armee angeschlossen, sondern auch dazu beigetragen, dass zum ersten Mal in der Geschichte eine Vampirarmee gebildet werden konnte. Und das hat sich weltweit herumgesprochen.«
»Du musst ein ziemlich charismatischer Schweinehund sein«, brummte Yuri, wobei er Bastien eingehend musterte, als handele es sich bei ihm um eine seltsame neue Insektenspezies.
»Das ist er«, schaltete sich Melanie ein. Ehrlich gesagt wusste sie nicht, warum das die anderen überraschte. »Charismatisch, meine ich.«
Richart musterte Bastien mit zusammengekniffenen Augen. »Davon kann ich nichts sehen.«
Melanie verdrehte die Augen. »Na ja, wenn einer von Ihnen sich die Mühe gemacht hätte, die Vampire im Hauptquartier zu besuchen, dann wüssten Sie, wovon wir sprechen. Wenn man etwas Zeit mit ihnen verbringt und sich mit ihnen unterhält, merkt man sofort, wie sehr sie Bastien respektieren und mögen.«
»Also, Dr. Lipton«, protestierte Bastien verlegen.
»Was denn?«, fragte sie. »Es ist wahr. Selbst Vince mochte und respektierte Sie, und sein Wahnsinn war schon ziemlich weit fortgeschritten, als er sich dem Netzwerk anvertraute.«
»Und das haben Sie gewusst?«, fragte Bastien.
»Nicht von Anfang an. Aber jetzt, da ich die kleinen, leicht zu übersehenden Anzeichen kenne – ja. Ich habe gesehen, dass die Gehirnschädigung, die das Virus verursacht, bei ihm schneller voranschritt als bei anderen.« Sie sah sich unter den Anwesenden um. »Selbst wenn ein Vampir den Verstand verliert, können die Erfahrungen, die er in den lichten Momenten macht, sein Verhalten verändern. Ich habe Vincent täglich besucht und mit ihm gesprochen. Ich habe versucht, ihm zu vermitteln, dass er für mich nicht einfach nur ein Vampir oder eine Art Laborratte war, sondern ein ganz normaler Kerl. Er mochte mich. Er vertraute mir. Und wenn er einen seiner psychotischen Anfälle hatte, die ihn ohne jede Vorwarnung überfielen, hat er mir nie etwas angetan. Er hat mich kein einziges Mal verletzt. Andere hingegen, die sich zufällig ebenfalls im Raum aufhielten …« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber mir hat er nichts getan. Weil er mir vertraute.«
Lisette schürzte die Lippen. »Das ist mir auch aufgefallen. Wenn Vampire sich heutzutage in Gruppen zusammenrotten, fallen sie nicht mehr übereinander her, wie sie es in den vergangenen Jahrhunderten getan haben.«
»Für den Vampirkönig galt das nicht«, stellte Ami fest. »Ich habe gesehen, wie er seine Anhänger mit einer Machete massakrierte.«
Stanislav schnitt eine Grimasse. »Yuri, Bastien und ich haben die Schweinerei gesehen, die er hinterlassen hat.«
Sarah rümpfte die Nase. »Ja, aber der Vampirkönig war auch bereits jenseits von Gut und Böse. Er war nicht dabei, wahnsinnig zu werden, sondern war es längst. Ganz im Ernst, ich zweifle daran, dass er sich auch nur das Geringste aus seinen Gefolgsleuten gemacht hat. Und wenn er sie schon bei klarem Verstand als jederzeit ersetzbar betrachtet hat …«
Étienne schüttelte den Kopf. »Warum zerbrechen wir uns überhaupt den Kopf? Selbst wenn wir uns tatsächlich dafür entscheiden, diesen verrückten Plan zu verfolgen – das würde niemals funktionieren. Vampire hassen Unsterbliche. Sie würden uns nicht zuhören, wenn wir versuchen, sie dazu zu bringen … wie soll ich das ausdrücken … sich uns anzuschließen. Und auch wenn sie auf Bastien den Anführer gehört haben – Bastien dem Verräter werden sie garantiert nicht zuhören. Sie verabscheuen ihn genauso wie uns – wenn nicht mehr. Was haben wir also in der Hand?«
»Man muss jemanden nicht mögen, um auf ihn zu hören«, beharrte Tanner. »Die meisten Vampire in Bastiens Armee haben mich gehasst.«
»Kaum zu glauben«, sagt Lisette, die ihn interessiert gemustert hatte und ihm nun anzüglich zuzwinkerte.
Grinsend registrierte Melanie, dass Tanner vorübergehend den Faden verlor, während er die bezaubernde französische Unsterbliche angaffte.
Étienne stieß ihm den Ellbogen in die Seite.
»Wie? Oh.« Tanner lächelte. »Richtig. Wie auch immer … ähm … wie gesagt, die Vampire in Bastiens Armee verabscheuten mich, aber keiner von ihnen hat mich je angegriffen.«
»Sie wussten, dass ich sie töten würde, wenn sie das gewagt hätten«, stellte Bastien fest.
»Das hat eine Rolle gespielt«, stimmte Tanner zu. »Aber ich glaube, dass es auch damit zu tun hatte, dass wir auf derselben Seite waren und gegen einen gemeinsamen Feind gekämpft haben.«
Melanie hörte mit wachsendem Interesse zu. Was er sagte, bestätigte ihre eigene Hypothese. Sie glaubte, dass sich das Unterbewusstsein der Vampire an dem orientierte, was sie in lichten Momenten fühlten – auch wenn der Wahnsinn ihre übrigen Taten steuerte.
Aber Richart schüttelte den Kopf. »Selbst wenn wir es schaffen, einen Teil der Vampire auf unsere Seite zu ziehen und sie dazu zu bringen, die übrigen Blutsauger vor Emrys zu warnen – würde das voraussetzen, dass wir ihre Leben verschonen und zulassen, dass sie Menschen angreifen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von uns das verantworten will.«
Melanies Gedanken rasten. »Die Unsterblichen Wächter könnten auch weiterhin diejenigen unter den Vampiren ausschalten, die unrettbar verloren sind, und nur die ganz jungen Vampire rekrutieren. Man könnte ihnen Blutbeutel anbieten, damit sie keinen Grund haben, Menschen anzugreifen.«
»Leider verfügen wir nicht über die entsprechenden Ressourcen«, wandte Seth ein.
Das stimmte. Die Blutbeutel, die die Unsterblichen benutzten, wurden ihnen von den Netzwerkangehörigen und ihren Familien gespendet. Das war einer der Gründe, warum sich die Unsterblichen ausschließlich von Bio-Essen ernährten. (Der andere Grund war natürlich purer Starrsinn. Nachdem sie sich seit Jahrhunderten – wenn nicht Jahrtausenden – nur von naturbelassenen Nahrungsmitteln ernährt hatten, weigerten sie sich schlichtweg, ihre Essgewohnheiten zu ändern.) Das Virus reparierte selbst die kleinsten Verletzungen, aber dafür brauchte ihr Körper Blut, und die Unsterblichen achteten darauf, ihren Bedarf so gering wie möglich zu halten, damit sie nicht nach alternativen Quellen suchen mussten.
»Ihr könntet es so machen wie Bastien damals«, schlug Tanner vor. »Ihr könntet ihnen Pädophile geben, von denen sie trinken können.«
Melanie hatte davon gehört. Aus ihrer Sicht eine ziemlich brillante Idee. Da Bastien über keine konstante Versorgung mit Blutbeuteln verfügt hatte, hatten Tanner und er mit Hilfe von Detektiven im Internet einen Pädophilenring aufgespürt und ihren Gefolgsleuten befohlen, sich von ihm zu ernähren.
»Wir haben nicht genug Leute, um sicherzustellen, dass sie sich nicht anderweitig schadlos halten«, erwiderte Seth.
David nickte. »Auch wenn er von seinen Anhängern gefürchtet und respektiert wurde, hat Bastien es nicht geschafft, die schwarzen Schafe unter seinen Gefolgsleuten davon abzuhalten, die Familien der Pädophilen zu töten.«
»Dann betäuben Sie die Vampire doch einfach mit der Droge«, platzte Melanie heraus.
Alle drehten sich zu ihr um.
»Wie war das?«, fragte Bastien.
»Betäubt sie mithilfe der Droge«, wiederholte sie. »Ich habe an Cliff und Joe Experimente durchgeführt, die …« Sie unterbrach sich, als ihr klar wurde, was sie gerade gesagt hatte, und warf Ami einen Blick zu. »Nicht so, wie Sie jetzt wahrscheinlich glauben, Amiriska. Ich verspreche Ihnen: Alles, was ich tue, geschieht grundsätzlich mit ihrem Einverständnis.«
Marcus zog Ami fester an sich, seine Augenbrauen waren zweifelnd zu einem dunklen Strich zusammengezogen.
Melanie, die sich schwor, in Zukunft ihre Worte sorgfältiger zu wählen, fuhr fort: »Was ich sagen wollte: Ich habe mit Cliff und Joe zusammen die Wirkung verschiedener Dosierungen des Betäubungsmittels untersucht, indem ich genau beobachtete, wie sich die Substanz auf sie auswirkt. Und bei diesen – nicht Experimenten!– Untersuchungen hat sich herausgestellt, dass es eventuell möglich ist, die gewalttätigen Impulse der Vampire zu unterdrücken. Und zwar mithilfe von regelmäßigen Injektionen einer kleinen Dosis der Droge. Zu den Nebenwirkungen gehört, dass ihnen ein wenig schwindlig ist … diesen Teil mögen sie nicht besonders … Aber insgesamt haben sie weniger psychotische Ausbrüche und haben sich besser im Griff. Mir ist klar, dass das nur eine vorübergehende Lösung ist. Trotzdem könnten Sie diese Tatsache zu Ihrem Vorteil nutzen, falls Sie sich für diese Strategie entscheiden sollten.«
Als sich Bastien in seinem Stuhl zurücklehnte, berührte er unter dem Tisch sanft ihren Arm. »Und die Droge hilft ihnen wirklich?«
Ihr Puls schlug schneller, und sie nickte. »Ja.«
»Emrys hat das Betäubungsmittel benutzt, um sich die Kooperation des Vampirkönigs zu sichern«, bemerkte Seth.
»Tatsächlich?«, fragte Melanie. »Wie genau?«
»Jedes Mal, wenn der Vampirkönig einen seiner jähzornigen Ausbrüche hatte, hat Emrys ihn betäubt. Wenn es ihm gelang, ihn zu treffen, bevor sich der Vampir seiner Wut hingab, erstickte sie der Wirkstoff im Keim … oder wenigstens war er zu erschöpft, um seinem Zorn Ausdruck zu verleihen. Und wenn er bereits dabei war, alles um sich herum in Schutt und Asche zu legen, bremste ihn die Droge und bewirkte, dass er zu müde wurde, um weiterzumachen.«
Ein Hoffnungsschimmer. Wenn die Droge bei dem Vampirkönig gewirkt hatte, dem das Virus das Gehirn bereits zu großen Teilen zerfressen hatte, dann hatte Melanie möglicherweise mehr Zeit als gedacht, um ein Heilmittel für Cliff und Joe zu finden.
»Das ist die Lösung«, sagte Tanner, dessen attraktives Gesicht triumphierend aufleuchtete. »Wenn die Vampire ihre Impulse mithilfe der Droge unterdrücken können, dann kann man auch kontrollieren, von wem sie trinken.«
»Meine Armee bestand aus Männern, die bei klarem Verstand waren, als ich sie angeworben habe. Sie wollten helfen«, sagte Bastien. »Sie wollten keine Monster werden. Und sie wollten keine Unschuldigen verletzen.«
»Dennoch haben sie es getan«, widersprach Roland.
»Ja. Ein paar von ihnen. Aber ich hatte auch keine Möglichkeit, ihren Wahnsinn zu behandeln. Dr. Lipton hat diese Möglichkeit. Und wenn die Droge tatsächlich die beschriebene Wirkung auf die Vampire hat, dann können wir diejenigen unter ihnen aufspüren, für die noch nicht jede Hilfe zu spät kommt. Wir könnten sie rekrutieren und bitten, unser Angebot an ihre Kameraden weiterzugeben.«
»Das Ganze gefällt mir immer noch nicht«, sagte Roland.
Ein Großteil der Anwesenden nickte.
Melanie räusperte sich. »Bei allem Respekt – die Einzigen an diesem Tisch, die das Recht haben, diese Entscheidung zu treffen, sind Seth, David und Bastien.«
Bastiens Kopf fuhr zu ihr herum. Sein Griff um ihren Arm wurde fester.
Die Übrigen starrten sie fassungslos an, als hätte sie gerufen: »Übrigens – in meinem früheren Leben war ich Bugs Bunny!«
»Wie war das bitte?«, fragte Richart schließlich.
Étienne nickte. »Seth und David verstehe ich. Aber was ist so besonders an Bastien?«
Mehr, als sie ahnten – aber das sagte sie nicht laut. »Seth, David und Bastien sind die Einzigen, die die Vampire im Hauptquartier regelmäßig besuchen und mit ihnen reden.«
Bastien warf Seth und David überraschte Blicke zu. »Ihr habt Cliff und Joe besucht?«
Seth nickte langsam. »Ja.«
»Und Vincent auch, als er noch gelebt hat«, sagte David.
»Warum?«, wollte Bastien wissen.
Die übrigen Unsterblichen schien die Antwort auf diese Frage ebenfalls brennend zu interessieren.
»Weil sie uns um Hilfe gebeten haben«, sagte Seth einfach. »Und als sie das getan haben, haben sie sich unserer Sache angeschlossen.«
»Wir kümmern uns um die Unsrigen«, sagte David, »ohne Rücksicht auf ihre Herkunft.«
Seth nickte. »Wir hatten gehofft, dass es möglich wäre, die Phasen zu verlängern, in denen die Vampire bei klarem Verstand sind. Deshalb haben wir versucht, den Gehirnschaden, der durch das Virus verursacht wird, zu heilen.« Die beiden Älteren waren extrem mächtige Heiler und sogar imstande, abgetrennte Gliedmaßen wieder anwachsen zu lassen.
Bastien richtete seine Aufmerksamkeit auf Melanie. »Hat es funktioniert?«
»Nicht so gut, wie wir gehofft hatten«, gab sie widerwillig zu. Sie nahm an, dass Seth und David das auch schon festgestellt hatten. Da sie schon so lange lebten, mussten sie es auch vorher schon versucht haben. »Immerhin sind die Phasen, in denen sie bei klarem Verstand sind, seit Seth’ und Davids Besuchen länger geworden. Aber ihre Anstrengungen bewirken nur, dass sich das Fortschreiten der Krankheit verlangsamt. Die Vampire können weder geheilt werden noch ist es möglich, die bereits vorhandenen Schäden zu reparieren.«
»David«, sagte Seth und warf dem Unsterblichen am anderen Ende der Tafel einen langen Blick zu. »Was hältst du von Bastiens Plan?«
Gespanntes Schweigen herrschte im Zimmer, während die Anwesenden auf die Antwort des mächtigen Unsterblichen warteten.
»Die meisten Unsterblichen an diesem Tisch sind zu jung, um sich an die Zeiten zu erinnern, als sich die Menschen zusammenrotteten, um uns zu jagen«, begann David. »Roland, du hast vielleicht eine Ahnung davon, wie das ist. Schließlich bist du vor ein paar Jahrhunderten von deiner sterblichen Verlobten auf diese Art verraten worden.«
Roland blickte finster drein. »Allerdings.«
»Miststück«, brummte Sarah.
Roland lachte bellend, legte einen Arm um seine Frau und küsste sie auf den Scheitel.
Alle starrten ihn an. Selbst nach zwei Jahren war es für die Anwesenden immer noch mehr als seltsam, Roland lächeln und Liebesbeweise austeilen zu sehen.
»Auch wenn die Vampire in der Vergangenheit auf das Internet verzichten mussten, das die Blutsauger von heute so bewundern«, fuhr David fort, »wusste auch damals jeder, dass die Menschen sowohl auf die Vampire als auch auf die Unsterblichen Jagd machten. Und wie Dr. Lipton bereits sagte: Die Erfahrungen, die die Vampire in ihren klaren Momenten machen, behalten sie im Hinterkopf. Das hatte zur Folge, dass sie sich vorsichtig verhielten, um nicht die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen, selbst dann, wenn der Wahnsinn sie bereits fest im Griff hatte.«
Melanie nickte. »Die Tatsache, dass selbst der durchgeknallteste Vampir Klingen statt Feuerwaffen benutzt, wenn er Unsterbliche bekämpft oder ein Opfer jagt, ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Vampire trotz allem um ihre Sicherheit besorgt sind, auch wenn ihr Gehirn ansonsten wie leergefegt ist. Sie wissen, dass sie keine Aufmerksamkeit erregen dürfen, und unternehmen die notwendigen Schritte – ob es ihnen nun bewusst ist oder nicht.«
David nickte. »Deshalb glaube ich auch, dass Bastien recht haben könnte. Ich bin der Meinung, dass wir einen Weg finden sollten, die Situation zu unserem Vorteil zu nutzen. Das hier sind neue Zeiten mit neuen Problemen – aber auch mit neuen Möglichkeiten. Die Regeln haben sich geändert. Wir müssen uns anpassen.« Er warf Bastien ein Blick zu. »Erzähl den Vampiren eine Lügengeschichte. Lass sie glauben, dass Emrys der wahre Grund ist, warum der Vampirkönig und seine Anhänger tot sind. Sie sollen glauben, dass er eine größere Gefahr für die Vampire ist als wir.«
Seth suchte Bastiens Blick. »Finde jene, die unsere Hilfe wollen, und biete sie ihnen an.«
»Und was ist mit denen, die sie nicht wollen?«, fragte Bastien.
»Die müssen getötet werden, daran hat sich nichts geändert. Sie würden weiter Unschuldigen nachstellen, und außerdem würden sie wahrscheinlich auf irgendwelchen Blödsinn hereinfallen, den Emrys und seine Männer ihnen auftischen.«
Roland beugte sich vor. »Und diese Aufgabe willst du ernsthaft Bastien anvertrauen? Sich mit den Vampiren zu treffen und mit ihnen zusammen einen Plan auszuhecken? Noch einmal?«
Seth sah Roland an. »Nein, diese Aufgabe vertraue ich euch allen an.«
Roland presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Auf keinen Fall riskiere ich Sarahs Sicherheit, um in einer Kampfpause mit meinen Widersachern das Gespräch zu suchen, um mich mit Vampiren anzufreunden, die höchstwahrscheinlich nur daran interessiert sind, uns die Köpfe vom Leib zu trennen.«
Sarah befreite sich aus seiner Umarmung, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. »Du solltest dir lieber Gedanken um deine eigene Sicherheit machen, statt dich um meine zu sorgen, Liebster. Denk dran, ich bin genauso stark wie du, und auch genauso wachsam.«
»Wir sprechen später noch einmal darüber.«
»Nein, das werden wir nicht. Wenn Seth und David der Meinung sind, dass es den Versuch wert ist, dann sollten wir es auch versuchen. Sie sind viel älter als wir beide und haben in diesen Dingen mehr Erfahrung. Ich vertraue ihrem Urteil, und das solltest du auch.«
Mit finsterem Blick zog er sie wieder fest an sich.
»Eine Sache bereitet mir Sorgen«, meldete sich Lisette zu Wort, wobei ihr Blick zwischen Seth und David hin- und herwanderte. »Trotz seiner Gabe waren Bastiens Anhänger in der Lage, ihn zu täuschen. Sie haben ihn davon überzeugt, dass sie seine Befehle befolgten, obwohl sie es nicht taten. Dasselbe könnte jedem Unsterblichen passieren, der keine telepathischen Fähigkeiten besitzt.«
»Für David und mich ist es leicht herauszufinden, wer von ihnen wirklich unsere Hilfe will«, sagte Seth mit sanfter Stimme. »Dasselbe gilt für dich und Étienne. Richart und ich werden den Übrigen von euch jederzeit zur Verfügung stehen. Wenn einer von euch auf einen Vampir trifft, der sich dazu eignet, sich unserer Sache anzuschließen, dann ruft mich an. Ich werde mich umgehend zu eurem Standort teleportieren und seine Gedanken lesen. Oder ruft Richart an, damit er Lisette oder Étienne zu euch bringt, um dasselbe zu tun.«
Tanner schien der Einzige zu sein, dem dieser Plan wirklich gefiel.
»Und für den Fall, dass einer von euch auf Emrys’ Schattenarmee trifft und sich einen Betäubungspfeil einfängt«, warnte Seth, »verschwindet auf der Stelle, und verständigt euren Sekundanten, bevor ihr das Bewusstsein verliert. Versucht nicht, die Soldaten auf eigene Faust festzunageln.«
»Das alles wäre viel einfacher, wenn wir ein Gegenmittel hätten«, betonte Roland und sah Melanie an. »Ist es Ihnen gelungen, eins zu entwickeln?«
Vor Nervosität machte Melanies Herz einen kleinen Sprung. Tatsächlich war es so, aber … »Wir arbeiten noch daran.« Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Bastien sie aufmerksam musterte, aber sie wich seinem Blick aus. Aus irgendeinem Grund fiel es ihr schwer, ihn anzulügen.
»Wie ich bereits sagte«, sprach Seth weiter, »auch wenn das nicht eurem Naturell entspricht – verlasst das Schlachtfeld sofort, wenn ihr betäubt werdet. Ruft umgehend euren Sekundanten an und bringt euch in Sicherheit.«
Dieser Befehl würde nicht leicht zu befolgen sein. Sie alle waren darauf trainiert worden, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, selbst wenn es den eigenen Tod bedeutete. Flucht war normalerweise keine Option.
Schuldgefühle überwältigten Melanie. Wenn sie nur den Mut hätte, diese verdammte Substanz zu testen, die sie hergestellt hatte! Dann hätte sie den Unsterblichen Wächtern das, was sie zweifellos als große Schande betrachteten, ersparen können.
Seth warf David einen Blick zu. »Wäre damit alles geklärt?«
David nickte.
»Okay, dann wäre das alles.«
Stühle wurden zurückgeschoben, die Unsterblichen und ihre Sekundanten erhoben sich. Beim Hinausgehen machten sie einen großen Bogen um Bastien und Tanner.
Melanie kam nicht mehr dazu, ihre Schlüsse zu ziehen, weil urplötzlich der Raum um sie verschwamm und sie unvermittelt mit Bastien, Seth und Tanner auf einer Wiese stand.
Seth ließ die Schultern der beiden Männer los und warf Melanie einen überraschten Blick zu. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Dr. Lipton. Mir war nicht bewusst, dass Bastien sie berührt hat, sonst hätte ich damit gewartet, ihn hierher zu teleportieren.«
»Oh.« So war das also, wenn man teleportiert wurde? Cool.
Eine eisige Brise ließ sie frösteln. Das Licht des Vollmonds, das die Lichtung beschien, war hell genug, um den unkrautüberwucherten Feldweg und die großen Krater im Boden zu erkennen. Sie sahen aus, als hätte ein Vulkan Erde statt Feuer und Lava ausgespuckt.
»Wo sind wir?«
»Das ist mein früheres Versteck«, beantwortete Bastien ihre Frage und ließ ihren Arm los. (Hatten seine Finger eine Sekunde länger auf ihm verweilt als nötig?) »Oder vielmehr das, was davon übrig geblieben ist.«
Dies war also die Festung, in der Bastiens Vampirarmee gehaust hatte?
Melanie sah sich noch einmal gründlicher um, aber abgesehen von den dunklen Bäumen, die einen kleinen Halbkreis um sie herum bildeten, fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf. Wenn Seth gar nicht die Absicht gehabt hatte, sie an diesen Ort zu teleportieren … »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich gehe?« Sie wusste zwar nicht, wohin, aber …
»Nein«, erwiderte Seth. »Ich wollte damit nicht sagen, dass Sie nicht willkommen sind. Ich wollte mich nur dafür entschuldigen, dass ich Sie ohne jede Vorwarnung hierher teleportiert habe.«
»Entschuldigung angenommen.«
Tanner streckte ihr seine Hand hin. »Ich bin übrigens Tanner Long.« Er war ein gut aussehender Mann, etwa Mitte dreißig, und er trug lange Hosen und ein Hemd. Durch sein kurzes blondes Haar hob er sich stark von den Unsterblichen mit ihrem schwarzen Haar und den braunen Augen ab. Außerdem trug er eine Brille mit Drahtgestell, was ihn ebenfalls von den anderen unterschied. Dem Aussehen nach hätte man ihn für einen Bankangestellten oder Buchhalter halten können. Oder für einen Hochschulprofessor.
Einen attraktiver Hochschulprofessor, würde Linda wahrscheinlich sagen, um im Anschluss »Teach me Tonight« zu trällern.
Melanie schüttelte seine Hand. »Melanie Lipton. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Jetzt habe ich zum ersten Mal Gelegenheit, Ihnen für alles zu danken, was sie für Vince, Cliff und Joe getan haben. Ich glaube, dass ein paar von den Unsterblichen und den Mitarbeitern des Netzwerks so lange gegen die Vampire gekämpft haben, dass sie vergessen haben, in welcher Notlage die sich befinden. Aber bei Ihnen ist das anders.«
Dass er das sagte, bedeutete ihr viel. »Ich wünschte, ich hätte mehr für Vince tun können.«
»Abgesehen von Bastien waren Sie die Einzige, die wirklich versucht hat, ihm zu helfen. Das wusste er zu schätzen, glauben Sie mir.«
»Ich danke Ihnen.«
Bastiens Blick, der zwischen Melanie und Tanner hin- und hergewandert war, glitt zu Seth. »Was machen wir überhaupt hier?«
»Ich wollte dir nicht vor den anderen sagen, dass ich beschlossen habe, Tanner zu deinem Sekundanten zu ernennen. Ich dachte, du würdest vielleicht etwas Dummes sagen, wie zum Beispiel …«
»Ich brauche keinen Sekundanten«, widersprach Bastien sofort.
»… genau das«, beendete Seth seinen Satz.
Tanner musterte Bastien nachdenklich. »Als du mit den Vampiren zusammengearbeitet hast, hast du auch einen Sekundanten gebraucht.«
»Das war was anderes.«
»Eigentlich nicht.«
Seth hob die Hand, um Bastien davon abzuhalten, mit etwas herauszuplatzen, das ihm offenbar auf der Zunge lag. »Wenn du deinen Pflichten als Unsterblicher Wächter nachkommen möchtest, ohne einen – wie du es ausdrückst – Babysitter an deiner Seite, dann brauchst du einen Sekundanten.«
Stirnrunzelnd stemmte Tanner beide Hände in die Hüfte. »Und ich habe immer geglaubt, dass du mit meiner Arbeit zufrieden warst.«
»Das war ich auch.«
»Falls du dir Sorgen machst, dass ich nicht an deiner Seite kämpfen könnte, dann kann ich dich beruhigen. Die Leute vom Netzwerk trainieren mich jetzt schon seit fast zwei Jahren.«
»Das ist es nicht.«
»Was ist es dann?«
Das hätte Melanie auch gern gewusst. Sie hätte gedacht, dass sich Bastien über dieses Arrangement freuen würde.
»Wenn du mein Sekundant werden würdest, dann würden die anderen dich meiden, wenn nicht Schlimmeres …«
Tanner lachte. »Teufel noch mal. Darüber machst du dir Sorgen? Dass die anderen Sekundanten mich nicht akzeptieren könnten? Wir sind nicht mehr auf der Highschool, Bastien. Mir ist es scheißegal, wer mich mag und wer nicht.«