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»Sir?«
Emrys, der gerade dabei gewesen war, seine Gäste zu begrüßen, drehte sich um, sah den grimmigen Ausdruck im Gesicht seines Soldaten und knirschte mit den Zähnen. Er machte eine warnende Geste, damit der Soldat nicht unbedacht mit seinen Neuigkeiten herausplatzte, dann drehte er sich wieder zu seinen Gästen um und zauberte ein falsches Lächeln auf seine Lippen. »Entschuldigen Sie mich für eine Minute. Gehen Sie doch schon mal vor in mein Büro, ich bin sofort bei Ihnen.«
Die beiden Besucher nickten und gingen voraus.
Emrys zog die Tür hinter sich zu. »Was ist los?«, fragte er den Soldaten leise.
»Wir haben den Kontakt zu Team Viper verloren.«
»Herrgott noch mal. Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie auf keinen Fall mit einem Team im Einsatz Kontakt aufnehmen sollen. Das leiseste Geräusch über Funk, ja selbst der Vibrationsalarm eines Handys verrät dem Feind die Position unserer Leute.«
»Ja, Sir. Deshalb haben wir auch gar nicht versucht, mit einem unserer Teams Kontakt aufzunehmen. Allerdings haben die Soldaten den Befehl, sich jede volle Stunde bei uns zu melden. Entweder indem sie über das Walkie-Talkie ein paar Klickgeräusche übermitteln oder indem sie uns anrufen und zur Tarnung ein paar im Voraus abgesprochene, unauffällige Fragen stellen. Jeder, der dank eines übernatürlich scharfen Gehörsinns in der Lage ist, uns zu belauschen, würde annehmen, dass es sich um das Telefongespräch eines Studenten handelt, der auf dem Campusgelände wohnt. Aber Team Viper hat seit zwei Stunden nichts mehr von sich hören lassen. Da herrscht Grabesstille.«
»Keiner der Soldaten hat von sich hören lassen?«
»Exakt, Sir. Sollen wir versuchen, sie über ihre Walkie-Talkies zu erreichen? Oder einen der Männer auf seinem Handy anrufen?«
»Nein. Schick Black Mambo zur UNC. In voller Montur.« Er wollte sich gerade wegdrehen, hielt aber dann inne und dachte nach. »Wo ist Team Taipan?«
»An der North Carolina Central University.«
»Sag ihnen, dass sie Black Mambo an der UNC treffen sollen.«
»Ja, Sir.«
Emrys betrat sein Büro und schloss die Tür hinter sich. »Meine Herren – ich danke Ihnen für Ihr Kommen.« Er deutete auf die Stühle, die vor seinem Schreibtisch bereitstanden. »Bitte setzen Sie sich und fühlen sie sich ganz wie zu Hause.«
»Wie ist es Ihnen ergangen?«, erkundigte sich Donald und nahm auf dem rechten Stuhl Platz, während sich Nelson auf den linken setzte. »Ich habe nichts mehr von Ihnen gehört seit … seit dieser Sache.«
Emrys biss unwillkürlich die Zähne zusammen, sorgte aber gleichzeitig dafür, dass das Lächeln nicht aus seinem Gesicht verschwand, während er den Schreibtisch umrundete und dahinter Platz nahm.
Donald und er hatten sich nicht mehr gesehen, seit Emrys unehrenhaft aus dem Militärdienst ausgeschieden war.
»Mir geht es hervorragend. Ich war sehr beschäftigt.«
Donald nickte. »Es hat mich überrascht zu hören, wer mein Konkurrent war.«
Darauf wette ich, dachte Emrys. Ein Jahr, nachdem sie Emrys rausgeschmissen hatten, war Donald in den Ruhestand gegangen. Aber er hatte eine Abschiedsparty bekommen. Ihn hatten sie gebeten zu bleiben. Er hatte sogar eine Beförderung abgelehnt.
Danach hatte Donald dasselbe getan wie Emrys: Er war in das professionelle Militärgeschäft eingestiegen. Mehr Geld. Weniger persönliches Risiko. Und – sieh’s ein, wie Emrys’ Sohn häufig sagte: Söldner hatten die bessere Erfolgsquote.
Nelson war Donalds rechte Hand. Emrys traf ihn heute zum ersten Mal, und er fragte sich, ob dieser auf ihn herabsah, weil er von dieser Sache gehört hatte, oder ob er sich nur deshalb wie ein arroganter Arsch verhielt, weil er und Donald erfolgreicher waren als er.
Das hatte er den Unsterblichen Wächtern zu verdanken. Inzwischen war Emrys davon überzeugt, dass sie diejenigen gewesen waren, die ihm Amiriska weggeschnappt hatten, auch wenn es ihm rätselhaft war, was sie mit der Außerirdischen wollten.
Obwohl nur eine Handvoll Männer von den Experimenten gewusst hatte, die sie in seiner Einrichtung in Texas durchführten, waren die Verluste, die seine Firma durch das Eingreifen der Unsterblichen erlitten hatte, immens. Die vielen Lügen, die er hatte erzählen müssen, damit niemand herausfand, was dort vor sich gegangen war, hatten seine Glaubwürdigkeit schwer erschüttert.
Aber von jetzt an würde alles anders werden.
»Ich war ebenfalls überrascht«, sagte Emrys schließlich.
»Ich habe gehört, dass Sie vor zwei, drei Jahren reichlich Probleme hatten. Das ist ein ziemlich unberechenbares Geschäft, stimmt’s?«
Einfach weiterlächeln. Du brauchst das Geld von diesem Arschloch. »Da haben Sie zweifellos recht. Aber momentan sind die Aussichten exzellent.«
Donald und Nelson wechselten einen zweifelnden Blick. »Ach ja?«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Nelson wissen.
»Kein Wort von dem, worüber wir jetzt sprechen, verlässt diesen Raum«, warnte Emrys.
»Einverstanden«, sagte Donald, und beide Männer nickten.
»Ich habe vor Kurzem etwas entdeckt, das mich zu einem sehr reichen Mann machen wird. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es mich zu einem der reichsten Männer der Erde machen wird. Und wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen, dann können Sie mit mir zusammen triumphieren.«
»Haben Sie etwa mit der Lottofee geschlafen?«, witzelte Nelson.
Emrys schüttelte den Kopf, dieses Mal war sein Lächeln echt. »Noch viel besser.«
»Worüber reden wir hier?«, fragte Donald. »Waffen? Biowaffen? Drohnen? Software?«
»Ich habe eine Möglichkeit gefunden, das zu produzieren, was jede Nation und jede Rebellenarmee auf diesem Planeten haben will: den ultimativen Supersoldaten.«
Donald schnaubte verächtlich. »So ein Blödsinn. Wir haben schon Supersoldaten: Nämlich Männer, denen es völlig gleichgültig ist, wen sie umlegen – solange sie dafür bezahlt werden. Was Besseres bekommen wir nicht.«
»Oh doch, es gibt was Besseres.« Emrys beugte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie. »Wenn ich von Supersoldaten spreche, spreche ich nicht von Psychologie. Ich meine die körperlichen Merkmale. Eine Armee von Männern, die schneller und stärker sind als jeder andere auf diesem Planeten. Männer, die sich innerhalb weniger Minuten von jeder Verletzung erholen. Eine Armee, deren bloße Existenz Kriege auslösen wird, weil jeder sie auf seiner Seite wissen will.«
Den beiden Männern war ihr Interesse deutlich anzusehen. Wieder wechselten sie einen Blick, aus dem sowohl Zweifel als auch Neugier sprach.
Nelson ergriff das Wort. »Wenn es hier um Steroide geht oder um …«
»Steroide bewirken keine beschleunigte Selbstheilung, wenn man angeschossen wurde. Sie befähigen einen auch nicht dazu, ohne Nachtsichtgeräte in der Dunkelheit sehen zu können.«
»Und wie zur Hölle soll das möglich sein?«
»Bevor ich Ihnen das zeige, möchte ich eines wissen: Falls es mir gelingt, das zu liefern, was ich soeben beschrieben habe, möchte ich, dass wir zu einer geschäftlichen Vereinbarung kommen. Ich habe das Produkt, Sie verfügen über das Kapital und die nötigen Verbindungen.«
Nelson öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Aber Donald legte eine Hand auf seinen Arm. »Wenn Sie uns tatsächlich das liefern, was Sie uns soeben in Aussicht gestellt haben … dann bekommen Sie das Geld, das Sie dazu brauchen. Das wird ein Gemeinschaftsunternehmen.«
»Dann haben wir eine mündliche Vereinbarung?«
»Die haben wir.«
Emrys erhob sich. »Dann schlage ich vor, dass Sie mit mir kommen.«
Bastien sah Melanie dabei zu, wie sie eine ordentliche Portion von der Pastete herunterschlang, und fühlte sich schuldig, weil er nicht schon früher etwas zu essen angeboten hatte. »Es tut mir leid.« Er aß noch einen Happen von dem delikaten Gericht.
Sheldon hatte nicht übertrieben. Das Essen war wirklich gut. Richart war ein ausgezeichneter Koch.
Wie schafften diese Unsterblichen Wächter das nur? Gab es irgendwas, das sie nicht konnten?
»Was tut dir leid?«, erkundigte sich Melanie zwischen zwei Bissen.
Sie hatten es sich in Richarts Esszimmer gemütlich gemacht. Melanie saß am Kopf des Tischs, der etwa halb so groß war wie der von David, und Bastien hatte zu ihrer Linken Platz genommen.
»Ich habe nicht daran gedacht, dich zu fragen, ob du schon etwas gegessen hast, bevor du mit uns auf die Jagd gegangen bist.«
Ungeduldig wedelte sie mit der Gabel vor seiner Nase herum. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Um ehrlich zu sein, ich habe selbst nicht daran gedacht. Das passiert mir manchmal.« Sie nippte an ihrem Tee. »Manchmal bin ich so beschäftigt und abgelenkt, dass ich stundenlang nicht auf die Uhr schaue und schlichtweg vergesse, etwas zu essen.«
»Und die letzte Nacht war noch hektischer und ablenkender als die meisten anderen, kann ich mir vorstellen.«
Sie lachte. »Ja, das war sie.« Mit der Gabel spießte sie einen kleinen braunen Würfel auf. »Wenn diese Pastete kein Fleisch enthält, was sind das dann für Dinger?«
Er lächelte. Offenbar war sie nicht so eine Gesundheitsfanatikerin wie die Unsterblichen. »Tofu.«
Sie wirkte überrascht. »Das ist Tofu?«
Er nickte.
»Ich habe immer geglaubt, dass Tofu ungefähr so fade schmeckt wie Schuhsohle. Aber das hier ist einfach köstlich.«
Er lachte. »Ich kann mir vorstellen, dass es tatsächlich fade schmeckt, wenn man es nicht richtig mariniert.« Er trank noch einen Schluck von seinem Tee und aß einen weiteren Happen Pastete, während er sie weiter beim Essen beobachtete.
Wann hatte er zum letzten Mal mit einer Frau zusammen gegessen?
Soweit er sich erinnerte, hatte er das nicht mehr getan, seitdem er verwandelt worden war. Danach war es ihm immer nur ums Überleben gegangen und darum, den Tod seiner Schwester Cat zu rächen.
Und seinen Vampirbrüdern zu helfen.
Innerlich fluchte er. Obwohl es inzwischen fast zwei Jahre her war, dass er sich den Unsterblichen angeschlossen hatte, betrachtete er sich immer noch die meiste Zeit über als Vampir.
Melanie grinste. »Das ist der Grund, warum ich dich nie zum Abendessen eingeladen habe. Ich kann überhaupt nicht kochen.«
Er nippte wieder an seinem Getränk und studierte sie über den Rand seines Glases hinweg. »Du hast darüber nachgedacht, mich zum Essen einzuladen?« Er stellte das Glas auf den Tisch. »Bevor … das alles passiert ist?«
Sie nickte und stocherte in ihrem Gemüse herum, den Blick fest auf ihren Teller gerichtet. »Ich habe mich immer gern mit dir unterhalten, wenn du beim Netzwerk vorbeigekommen bist, um Cliff und Joe zu besuchen.«
Das war ihm genauso gegangen. Und auch wenn er sich dafür schämte, es zuzugeben, hatte er sich sogar noch mehr drauf gefreut, Melanie zu sehen, als auf seine Freunde. Und das lag nicht nur daran, dass sie hübscher war als die Vampire. »Ich habe das auch immer sehr genossen.«
Als sie aufsah, lächelte sie. »Wahrscheinlich hätte ich mich irgendwann getraut, dich zum Essen einzuladen. Ich nehme an, dass euch niemand verbietet, euch mit Frauen zu treffen?«
Ihm war nichts Gegenteiliges bekannt. »Richart tut es.«
Sie nickte. »Und heute Nacht hat er mich davor bewahrt, das Internet nach einem Rezept zu durchforsten, das nicht nur leicht genug ist, um es nachzukochen, sondern auch noch lecker.«
Er lächelte. »Solange du diejenige bist, der ich beim Essen gegenübersitze, ist es mir egal, was es ist. Da würde ich auch mit Käse und Cracker vorliebnehmen.«
Melanie streckte die Hand aus und legte sie auf seinen Unterarm. »Das ist so süß von dir.«
Bastien nahm ihre Hand in die seine und streichelte sie zärtlich. »Wenn du so etwas vor den anderen Unsterblichen sagen würdest, dann würden sie dich für durchgeknallt halten.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Aber nur, weil sie dich nicht wirklich kennen.«
Wenn sie tatsächlich glaubte, dass er ein netter Kerl war, dann konnte das nur daran liegen, dass sie ihn weniger gut kannte als die anderen. Und ein Teil von ihm hoffte, dass das auch immer so blieb. Er wollte nicht, dass sie diese Seite von ihm kennenlernte.
»Dann betrachten wir diesen Abend als offizielles Date?«, fragte er neckend.
Sie lächelte. »Das erste von vielen, hoffe ich.«
So etwas wie Hoffnung kam in Bastiens Wortschatz schon lange nicht mehr vor. »Ich muss das einfach fragen … wie mache ich mich?«
Sie drückte seine Hand. »Sehr gut. Ich gebe zu, ich bin schlicht hingerissen. Ist das nicht ein Wort, dass man in deinem Jahrhundert benutzt hätte?«
»Das ist es.« Und er war mehr als das.
Sie wandten sich wieder ihrem Mahl zu, ohne die Hand des anderen loszulassen.
»Aber eine Sache macht mich ja doch neugierig«, sagte er nach einer Weile, und es machte fast den Eindruck, als hätte er Angst, die behagliche Stille zu durchbrechen.
Fragend hob sie die Augenbrauen.
»Wie kommt es, dass du für das Netzwerk arbeitest? Ich habe nie erfahren, auf welche Art sie neue Mitarbeiter rekrutieren.«
»Sie haben mich nicht direkt rekrutiert, sondern eher gefunden«, erklärte sie. »In meinem ersten Jahr auf dem College wurde meine Mitbewohnerin in unserem gemeinsamen Zimmer im Studentenwohnheim getötet.«
Nun, sie lebten in einer gewaltbereiten Gesellschaft – er war über sich selbst erstaunt, weil es ihn dennoch überraschte. »Das tut mir leid. Bist du auch verletzt worden?«
»Nein. Als es passiert ist, war ich gerade mit meiner Lerngruppe zusammen. Und als ich zurückkam in unser Zimmer, habe ich ihren Leichnam gefunden.«
»Standet ihr euch nah?«
»Nicht sehr. Sie hat mich ziemlich genervt, da sie ständig laute Musik gehört und neue Lover angeschleppt hat, während ich wie ein Verrückte gelernt habe, um mein Stipendium behalten zu können. Ich war der Streber und sie die Partymaus, so könnte man das wohl ausdrücken. Aber es gab auch Momente, in denen sie nicht die schlechteste Mitbewohnerin der Welt war. Nicht so viele, wie ich mir gewünscht hätte, aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Auch wenn ich sie nicht besonders gemocht habe, so etwas hatte sie nicht verdient.«
»Natürlich nicht.«
»Normalerweise interessieren sich die Cops als Erstes für den festen Partner des Mordopfers, aber sie hatte sehr viele Männerbekanntschaften. Ich selbst stand schnell nicht mehr unter Verdacht, weil ich durch meine Lerngruppe ein wasserdichtes Alibi hatte. Dennoch bat mich die Polizei um eine DNA-Probe, damit sie die DNA-Spuren am Tatort besser zuordnen konnten. Als ich sie ihnen gab, brach die Hölle los. Sie sagten, dass meine DNA ungewöhnlich wäre und dass sie etwas gefunden hätten, das keinen Sinn ergeben oder nicht dorthin gehören würde.«
Bastien umgriff Melanies Hand fester. »Bist du eine Begabte, Melanie?«
Sie nickte. »Sie wollten, dass ich ins Krankenhaus gehe, damit sie ein paar Tests machen konnten. Ich habe mich total aufgeregt, weil ich fürchtete, eine unheilbare genetische Krankheit oder so etwas zu haben.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Dann tauchten zwei Männer auf und stellten sich mir als Chris Reordon und Seth vor. Das medizinische Personal um mich herum bekam auf einmal seltsam ausdruckslose Gesichter, sie drehten sich auf dem Absatz um und verließen das Zimmer.«
»Seth hat ihre Erinnerungen an dich ausgelöscht?«
»Ja. Und Mr Reordon hat sich darum gekümmert, alle Beweise zu vernichten, sowohl die, die die Polizei gesammelt hat, als auch die, die im Computer gespeichert waren. Ich weiß immer noch nicht, wie er das hinbekommen hat.«
»Er mag vielleicht ein Arschloch sein, aber ich habe gehört, dass er Wunder bewirken kann.«
»Das kann er in der Tat. Sie haben mir erklärt, was ich bin und warum ich mich von anderen unterscheide. Als ich erwähnt habe, dass ich gern Medizin studieren wollte, hat Mr Reordon mich gefragt, ob ich einen Job haben möchte. Und ich sagte ja. Das Netzwerk hat meine Studiengebühren übernommen und na ja … den Rest kennst du ja.«
Bastien fragte sich, ob es für ihn eher günstig oder ungünstig war, dass Chris Melanie schon so lange kannte … was würde er dazu sagen, wenn sie sich ihrer Leidenschaft für ihn hingab? Würde er sich verraten fühlen und noch wütender werden? Oder würde er versuchen, mit Bastien klarzukommen, damit er ihr weiter sein Vertrauen schenken konnte, um nicht ihre gemeinsame Zusammenarbeit zu gefährden?
»Worin besteht deine Begabung?«, fragte er neugierig. In der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, hatte er nichts Besonderes bemerkt.
Sie zog die Nase kraus. »Man könnte sagen, dass ich Vorahnungen habe, aber eigentlich sind sie nicht der Rede wert. Manchmal weiß ich, dass das Telefon klingeln wird, bevor es passiert. Oder dass ein Paket abgeliefert wird. Oder ich weiß, wann und wo ich einen Barhocker schwingen muss, um einen Kampf zwischen einem starrköpfigen Unsterblichen und seinem Vampirfreund zu beenden.«
Er lächelte. Kein Wunder, dass sie so gut darin war, den nächsten Schritt eines Vampirs im Kampf vorherzusehen.
»Manchmal habe ich ein … ungutes Gefühl … wenn etwas Schlimmes passieren wird. Zum Beispiel in der Nacht, als meine Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen. Ich hatte dieses Gefühl auch an dem Tag, als Vincent seinen letzten Anfall hatte. Und in der Nacht, als Dana getötet wurde.«
Während er die letzten Bissen von seiner Pastete aß, dachte er darüber nach. Je jünger ein Unsterblicher war, desto schwächer war seine oder ihre Begabung ausgebildet. Seth behauptete, dass das daran lag, dass die Blutlinie der Begabten im Laufe der Jahrhunderte verwässert worden war, wenn diese mit Sterblichen Kinder gezeugt hatten. Sarah war sich nicht einmal darüber klar gewesen, dass sie eine Gabe besaß, eine Gabe, die der von Melanie sogar recht ähnlich war. Sarah hatte prophetische Träume, nur dass man diese nicht allzu wörtlich nehmen durfte. Nach dem zu schließen, was Bastien bei David gehört hatte, kamen in diesen Träumen Symbole vor, die entschlüsselt werden mussten. Wenn Roland beispielsweise eine lebensgefährliche Situation bevorstand, dann träumte Sarah nicht eins zu eins, was sich in dieser Situation ereignen würde. Stattdessen träumte sie von Tornados oder irgendwelchem anderen Blödsinn.
»Hattest du auch ein ungutes Gefühl, ehe wir heute Nacht auf die Jagd gegangen sind?«
Sie zögerte. »Ja.«
»Und warum hast du nichts gesagt?«
»Weil ich gedacht habe, dass es nur die Nerven sind. Dass meine Ängste mit mir durchgehen. Ich habe mir deinetwegen Sorgen gemacht, gleichzeitig habe ich mich darauf gefreut, mit dir Zeit zu verbringen, und dann war ich aufgeregt, zum ersten Mal auf Vampirjagd zu gehen …«
Was war er doch für ein Blödmann. Melanie besaß ein inneres Frühwarnsystem, das ihr sagte, wenn sich etwas Schlimmes ereignen würde, und statt Anteilnahme zu empfinden, war er innerlich vor Freude total von den Socken, weil sie sich darauf gefreut hatte, mit ihm Zeit zu verbringen.
»Ich war mir auch nicht ganz sicher, wie ich diese Begabten-Sache überhaupt zur Sprache bringen sollte«, fuhr sie fort. »Ich wollte nicht, dass du den Eindruck bekommst …« Sie lachte verlegen und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.
Aber Bastien ließ sie nicht los. »Erzähl’s mir.« Er spürte ihren Widerwillen und war neugierig zu erfahren, warum sie rot wurde.
Sie seufzte. »Mir ist klar, dass du weißt, dass ich auf dich stehe, und ich wollte nicht, dass es so aussieht … dass es so aussieht, als ob ich mich selbst anpreise, indem ich so etwas sage wie: ›Hey, du musst unbedingt mit mir ausgehen, weil ich verwandelt werden kann‹ … oder so was in der Art.«
Sie hatte recht. Sie konnte tatsächlich verwandelt werden. Wenn er geglaubt hätte, dass sie zusammen sein könnten, ohne dass die anderen ihr deswegen die Hölle heißmachten, würde er jetzt vor Freude juchzend durch die Gegend springen.
»Hast du darüber nachgedacht … dich verwandeln zu lassen?« Sehr subtil.
Sie nickte. »Ja, ein paarmal habe ich ernsthaft darüber nachgedacht. Aber ich bin noch nicht wirklich bereit, die Sonne aufzugeben.« Sie lächelte traurig. »Oder meine Lieblingsspeise. Ich weiß, das klingt lächerlich, aber so ist es nun mal. Ich weiß, dass ihr Unsterblichen nur naturbelassene Lebensmittel esst, aber ich stehe nun mal total auf Fast Food und Snacks.«
»Ich sage dir das ja nur ungern, aber diese Lieblingsspeisen, von denen du da sprichst, würden nach einer Verwandlung ganz anders schmecken.«
Sie runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Warum?«
Er deutete auf seine Nase und seine Augen. »Unser Geruchs- und unser Sehsinn sind nicht die einzigen Sinne, die sich während der Verwandlung schärfen. Dasselbe gilt für unseren Geschmackssinn.«
Cool. »Dann schmecken meine Lieblingsspeisen nach der Verwandlung also noch besser?«
»Vor hundert Jahren hätte ich ja gesagt. Aber jetzt … wir Unsterblichen schmecken jede Zutat.« Mit dem Kinn deutete er auf die Pastete. »Ich schmecke jedes Gewürz und jedes Gemüse in dieser Pastete und könnte dir genau sagen, welche Mengen verwendet wurden.«
Melanie war vielleicht nicht in der Lage, die genaue Menge der Zutaten anzugeben, aber die Gewürze und verschiedenen Gemüse schmeckte sie auch. »Und …?«
Er lächelte entschuldigend. »Und ich merke eben auch den Unterschied zwischen echter Vanille und synthetisch hergestelltem Vanillin. Oder den Unterschied zwischen einer Bioschokolade mit dreiundsiebzig Prozent Kakaoanteil und einem dieser Schokoriegel, die ich dich essen gesehen habe – die nur fünfundzwanzig Prozent Kakao enthalten und den geschmacklichen Unterschied mit pflanzlichen Ölen und Geschmacksverstärkern ausgleichen. Für mich ist der Unterschied genauso groß wie der, den du zwischen einem Bratwürstchen und einem Tofuwürstchen schmecken würdest.«
Verblüfft starrte Melanie ihn an. »Willst du damit sagen, dass meine Lieblingsspeisen nach der Verwandlung total scheiße schmecken würden?«
»Nicht die, die aus naturbelassenen Nahrungsmitteln hergestellt sind.«
»Ich esse aber kein Bio-Essen!«
Er deutete auf die Pastete. »Die hier besteht ausschließlich aus naturbelassenen Nahrungsmitteln. Und die magst du doch auch, oder?«
»Ja, schon …« Dann fügte sie erschüttert hinzu: »So ein Mist.«
»So schlimm ist das gar nicht. Ich habe gehört, wie Sarah gesagt hat, dass die Umstellung heutzutage nicht so hart ist, wie sie es vor vierzig Jahren gewesen wäre. Das liegt daran, dass es heutzutage von den meisten Sachen eine Bio-Version gibt. Und zu den Vorteilen gehört es, dass man – zumindest beinahe – unsterblich ist, niemals alt oder krank wird.«
»Was auch der Grund ist, warum ich wahrscheinlich irgendwann darum bitten werde, verwandelt zu werden. Aber jetzt noch nicht.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich stehe einfach zu sehr auf Fast Food.«
Er lachte.
Sie drückte seine Hand und wurde ernst. »Hör zu. Da wir inzwischen mehr Zeit miteinander verbringen, und in Anbetracht der Tatsache, dass ich gerade beinahe gestorben wäre, möchte ich dir gern etwas sagen. Falls mir etwas passieren sollte …«
»Dir wird nichts passieren. Das würde ich nicht zulassen.«
Sie ließ die Gabel sinken und legte auch die andere Hand auf ihre miteinander verschränkten Finger. »Lass mich bitte ausreden.«
Er nickte zwar, schwor sich aber im Stillen, dass er alles tun würde, was in seiner Macht stand, damit sie nie wieder in Lebensgefahr geriet.
»Falls ich tödlich verwundet werden sollte und das Netzwerk mich nicht retten kann und auch keine Unsterblichen mit Heilkräften in Reichweite sind – dann möchte ich verwandelt werden.«
Ihr Vertrauen und ihre Überzeugung, dass er dafür sorgen würde, dass man ihren Wunsch respektierte, strömten dank seiner Gabe auf ihn ein und ließen sein Herz schneller schlagen. »Bist du sicher?«
»Ja, ich bin mir sicher.« Sie lächelte schwach. »Und auch wenn ich Fast Food liebe, bin ich nicht der Ansicht, dass ich ohne nicht weiterleben könnte. Na ja, und die Sonne kann ich immer noch aus der Entfernung genießen. Ich bin vielleicht nicht mehr in der Lage hinauszugehen und darin zu baden …«
Lächelnd genoss er das Bild, das ihre Worte vor seinem geistigen Auge heraufbeschworen.
»… aber ich kann die Vorhänge offen stehen lassen, ohne mich direkt den Sonnenstrahlen auszusetzen.«
Er nickte und drückte ihre Hand. »Wie du möchtest.«
»Ich danke dir.«
»Ich fühle mich geehrt, dass du mir dein Vertrauen schenkst.«
Aus irgendeinem Grund schien sie über seine Worte erfreut zu sein, was dazu führte, dass auch er sich freute.
Als sich Melanie vorbeugte, um ihn zu küssen, trafen sie sich auf halber Strecke.
»Wollt ihr mich verarschen?«
Als urplötzlich Richarts wütende Stimme im Zimmer ertönte, zuckte Melanie zusammen.
Bastien fluchte leise. Das war der Nachteil an Personen, die die Begabung zur Teleportation hatten. Man wusste nie, wann sie auftauchten.
»Ich reiße mir ein Bein aus, um Chris davon abzuhalten, dir einen Strick aus dem zu drehen, was vergangene Nacht passiert ist – an dem Strick würde er dich im Übrigen umgehend aufknüpfen, wenn er könnte –, und ihr genießt hier in aller Seelenruhe ein Candle-Light-Dinner?« Seufzend fuhr sich Richart durchs Haar, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen. »Wie dem auch sei, ich kann euch verstehen. Ist noch etwas von der Pastete übrig?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Bastien. »Sheldon hat sie für uns aufgewärmt.«
Richart pfiff durchdringend.
In einiger Entfernung war ein dumpfer Aufprall im Haus zu hören. »Verdammt noch mal! Tu das nie wieder!«, rief Sheldon. »Du hast mir einen Höllenschreck eingejagt!«
Richart grinste belustigt. »Ich liebe Sekundanten.«
Melanie lachte.
Sogar Bastien konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Sheldon aufgebracht ins Zimmer gestürmt kam, wobei er sich den Ellbogen rieb. »Alter, wenn du das nächste Mal vorhast, den Teufel persönlich zum Abendessen einzuladen, dann warne mich bitte vor.«
Bastien zeigte ihm den Stinkefinger.
Richart warf seinem Sekundanten einen Blick zu. »Ist noch was von der Pastete übrig?«
»Ja. Soll ich sie dir aufwärmen? Du siehst erschöpft aus.«
»Pack sie ein, damit ich sie mitnehmen kann. Wir werden bei David erwartet. Ich kann sie dort aufwärmen und essen.«
»In Ordnung.« Sheldon ging in die Küche.
»Ist es dir gelungen, Reordon zu besänftigen?«, wollte Bastien wissen.
Richart schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, er würde dich am nächsten Baum aufknüpfen lassen – wenn er könnte. Oder dir wenigstens einen ordentlichen Denkzettel verpassen. Wenn dieser Mann ein Begabter wäre, dann würde er sich wahrscheinlich nur verwandeln lassen, um dir endlich mal einen ordentlichen Arschtritt verpassen zu können.«
Melanie streichelte Bastiens Hand, ihre ganze Sympathie gehörte ihm.
Verdammt, fühlte sich das gut an! Und noch mehr erstaunte es ihn, dass auch Richart auf seiner Seite zu sein schien.
»Du lässt nach, Alter. Du wirst auf deine alten Tage doch nicht weich werden?«, stichelte Bastien.
»Zum Henker, nein. Ich hab im Moment nur wichtigere Sachen im Kopf, als mich mit dir zu streiten.«
Melanie zog die Augenbrauen zu einem dunklen Strich zusammen. »Geht es Jenna nicht besser?«
Richart richtete sich unbehaglich in seinem Stuhl auf, wobei sein Blick grimmig wurde. »Wo hast du diesen Namen her?«
Bastien ließ Melanies Hand los, beugte sich vor und legte den Arm in einer schützenden Geste vor ihr auf den Tisch. Jeder konnte sehen, dass sich Bastien sofort in den Kampf stürzen würde, wenn er das Gefühl bekam, dass Richart Melanie irgendwie bedrohte. »Pass auf, was du sagst.«
Melanie wirkte unbeeindruckt. »Der Name ist Sheldon rausgerutscht.«
Richart fluchte und verdrehte die Augen. »Der Junge ist ja ganz unterhaltsam, aber manchmal kann er einem auch echt den letzten Nerv rauben.«
In diesem Moment betrat Sheldon das Zimmer, in der Hand einen Proviantbeutel aus Stoff, in dem sich vermutlich Richarts Mahlzeit verbarg. »Sagst du«, entgegnete er und zwinkerte Melanie zu.
Bastien brodelte innerlich. Verdammt noch mal! Warum flirtete auf einmal jeder Mann auf diesem Planeten mit Melanie?
Richart nahm den Proviantbeutel entgegen und warf seinem Sekundanten einen tadelnden Blick zu.
»Was denn?«, verteidigte sich Sheldon. »Das hätte jedem passieren können. Alles, was ich gesehen habe, war ein großer Typ mit schwarzem Haar, deiner Figur und in schwarzer Jagdkluft, der in unserem Wohnzimmer einer Frau die Zunge in den Hals steckte. Ich habe nur eine logische Schlussfolgerung gezogen.«
Mit einem Seufzer richtete Richart seine Aufmerksamkeit wieder auf Bastien und nickte Melanie zu. »Ihr wisst, dass das jetzt nicht leicht wird, oder?«
»Der Gedanke ist mir in der Tat auch schon gekommen. Aber solange sie allein mir die Schuld geben, kann ich damit umgehen.«
»Und wenn nicht?«
Bastien lächelte schmallippig. »Wenn’s nötig ist, werde ich eben ungemütlich.«
Melanie seufzte. »Ermutige ihn nicht noch, Richart.« Sie erhob sich. »Und vergesst eins nicht: Ich bin eine erwachsene Frau und kann auf mich selbst aufpassen. Wenn jemand mit meinen Gefühlen für Bastien ein Problem hat und glaubt, mich davon abbringen zu können, bloß weil er selbst nicht mit ihm klarkommt – ehrlich gesagt, dann können die mich mal an meinem sterblichen Hintern lecken.«
Sheldon lachte laut los, machte einen Schritt nach vorn und hob die Hand.
Melanie klatschte ab und warf Bastien einen Blick zu, der so viel besagte wie: Bitte, da hast du’s. Diese Frau war wirklich unglaublich sexy. »Gut, aber jetzt müssen wir wirklich los. Schließlich werden wir bei David erwartet.«
Sie entschieden sich, mit dem Auto zu David zu fahren. Richart hatte in den letzten Stunden sich und andere so oft hin- und herteleportiert, dass seine Batterien leer waren, wie er es ausdrückte. Melanie verstand diese Bemerkung so, dass er noch mehr Blut trinken müsste, wenn er damit weitermachen wollte.
Seine spezielle Gabe war wirklich faszinierend.
Richart setzte sich hinter das Lenkrad, und Sheldon nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Richart hatte ihr den Beifahrersitz zuerst angeboten, aber sie hatte ihn abgelehnt, damit sie es sich mit Bastien auf dem Rücksitz bequem machen konnte.
Die beiden Unsterblichen wirkten besorgt.
Melanie kuschelte sich an Bastien und spielte mit seiner Hand herum, während Sheldon im Takt zu Skillet mit dem Kopf wippte.
Es war eine angenehme Autofahrt. Melanie war in einem kleinen engen Apartment in der Stadt aufgewachsen. Sie hatten keinen Garten gehabt. Keine frische Luft. Nur eine konstante Geräuschkulisse. Als sie nach North Carolina gezogen war, hatte sie nachts den Fernseher laufen lassen, weil die ungewohnte Stille sie vom Schlafen abhielt.
Aber inzwischen liebte sie diese Stille. Natürlich war es nervig, dass die einzigen Geschäfte, die nach Mitternacht noch geöffnet hatten, Walmart und ein paar Tankstellen waren. Aber die frische Luft, der klare Sternenhimmel und die Landschaft …
Wie aufs Stichwort erfassten die Autoscheinwerfer in diesem Moment zwei Rehe, die neben der Straße ästen.
Bastien legte den Arm um sie.
Als sie aufsah, stellte sie fest, dass er sie lächelnd betrachtete.
»Ich wünschte, dieser Moment würde niemals enden«, sagte sie.
»Mir geht es genauso«, gestand er und verschränkte seine Hand mit der ihren, die immer noch damit beschäftigt war, mit seinen Fingern herumzuspielen.
Schließlich bog Richart in die lange Auffahrt zu Davids Haus. Er parkte hinter einem glänzenden schwarzen Prius und schaltete den Motor ab. Der Skillet-Song brach mitten im Satz ab.
Melanie hatte keine richtige Lust hineinzugehen. Chris hatte sich garantiert inzwischen ordentlich in Rage geredet und forderte Bastiens Kopf auf einem Silbertablett. In dieser Nacht hatte sie einfach keine Geduld für diese Art von Spielchen.
Den beiden Unsterblichen ging es offenbar genauso, denn keiner von ihnen machte Anstalten, aus dem Wagen zu steigen. Allerdings wechselten sie einen düsteren Blick im Rückspiegel.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Es ist so still«, erklärte Bastien.
Richart nickte.
Aller kindlicher Übermut schien plötzlich von Sheldon abzufallen, und er zog zwei Zehn-Millimeter-Pistolen. »Hier draußen oder im Haus?«
Mit dem Kinn deutete Richart auf das Haus. »Da drin.«
Plötzlich war ein Summen zu hören, als sich der Vibrationsalarm eines Handys einschaltete. Bastien beugte sich vor und zog das Telefon aus seiner Gesäßtasche. Nachdem er einen Blick auf das Display geworfen hatte, zogen sich seine Augenbrauen zu einem dunklen Strich zusammen.
Er drehte das Handy so, dass Melanie einen Blick darauf werfen konnte. Die SMS war von Darnell:
Kommt rein, setzt euch und haltet den Mund.
Mit David sollte man sich heute Nacht besser nicht anlegen.
Warum war David so aufgebracht? War er es allmählich leid, Bastien ständig verteidigen zu müssen, während der es immer wieder darauf anlegte, die anderen Unsterblichen zu reizen?
Melanie hoffte inbrünstig, dass Letzteres nicht der Fall war.
Bastien hob das Handy, damit auch Richart und Sheldon die Nachricht lesen konnten. Richarts Gesicht blieb ausdruckslos, während er und Bastien einen Blick wechselten. Sheldon hingegen wirkte ziemlich nervös.
Melanie wusste nicht, was sie erwartete, als die vier aus dem Auto stiegen und das Haus betraten.
Alles war genauso wie beim letzten Treffen, sogar die Sitzordnung. Es gab nur einen auffälligen Unterschied: Keiner sagte ein Wort.
Am Kopf der Tafel saß David zurückgelehnt in seinem Stuhl, mit dem rechten Ellbogen stützte er sich auf dem Tisch ab. Sein dunkles, gut aussehendes Gesicht war so regungslos, dass es aussah, als wäre es in Stein gemeißelt. Im Gegensatz zu den übrigen Anwesenden, deren Jagdkluft von der nächtlichen Jagd beschmutzt war, war sein schwarzes langärmliges Oberteil sauber und trocken, und seine prachtvollen Rastazöpfe waren ordentlich zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, der bis hinunter zu seiner Hüfte reichte.
Darnell saß neben ihm, und sein Gesichtsausdruck bekräftigte noch einmal die Warnung, die er ihnen per SMS geschickt hatte.
Niemand sagte ein Wort, während Melanie, Bastien und Richart (der sein mitgebrachtes Essen sicherheitshalber im Auto zurückgelassen hatte) und Sheldon sich dem Tisch näherten und die vier leeren Stühle neben Étienne einnahmen.
Seth’ Stuhl blieb leer.
Darnell zog sein Handy heraus, tippte eine Nachricht und steckte es zurück in seine Gesäßtasche.
Urplötzlich ertönte die Melodie von »Mack the Knife« im Zimmer.
Sarah, die Melanie gegenübersaß, zog ihr Handy aus der Tasche und presste es gegen ihr Ohr. »Hallo? … Okay. Danke.«
Kurz nachdem Sarah ihr Telefon wieder verstaut hatte, materialisierte sich Seth im Zimmer.
Melanie fand es sehr nett von ihm, dass er Sarah jedes Mal warnte, ehe er urplötzlich irgendwo auftauchte.
Seth nickte allen zu, fing an, den Tisch zu umrunden, und blieb dann plötzlich stehen. Er musterte die Anwesenden, bis sein Blick schließlich an David hängen blieb. »Was ist passiert?«
David zögerte. »Ich habe eine von den Rebellengruppen erledigt, die versucht haben, die Lebensmittellieferungen der UN an die Somalier zu verhindern.«
David war gerade noch in Somalia gewesen? Es musste noch einen weiteren Unsterblichen auf der Erde geben, der teleportieren konnte.
»Gute Arbeit. Hattest du Hilfe?«
»Nein.«
Aufmerksam studierte Seth seinen Freund. »Und?«
David machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe meinen verdammten Arm dabei verloren.«
Melanie fiel die Kinnlade herunter, während ihr Blick zu Davids breiten Schultern und seinen muskulösen Armen wanderte. Plural.
Mit gerunzelter Stirn trat Seth zu David. »Den linken?«
»Ja.«
»Und du hast ihn wieder befestigt?«
Davids Kiefermuskeln zuckten. »Größtenteils. Die Explosion, die mir den Arm abgerissen hat, hat ziemlich viel Schaden angerichtet.«
Auch wenn das vielleicht etwas morbide erscheinen mochte – Melanie wünschte sich aus tiefstem Herzen, sich so etwas einmal ansehen zu können. Nicht die Explosion natürlich – aber wie David den Arm wieder an seinem Körper befestigt hatte. Sie wüsste nur zu gern, wie er so etwas ausschließlich mithilfe seiner Gabe und seiner Hand zustande brachte.
Davids Blick suchte den ihren. »Vielleicht beim nächsten Mal.«
Entsetzt darüber, dass er ihre Gedanken gelesen hatte, schoss ihr die Hitze in die Wangen.
Kein Grund, sich aufzuregen, sagte seine freundliche Stimme in ihrem Kopf. Ich kenne Ihre Motive. Und in diesem Raum gibt es viele, die keine Ärzte sind, die es aber trotzdem gern mal sehen würden.
Ich danke Ihnen. Es tut mir leid, dass Sie verletzt worden sind.
Er nickte.
Seth umfasste mit seinen schlanken Fingern Davids linkes Handgelenk und hob seinen Arm an, bis er auf Schulterhöhe war.
Ein Muskel in Davids Wange trat deutlich sichtbar hervor, er ächzte vor Schmerz und versteifte sich. Seine Augen fingen an, in einem hellen Gelbbraun zu leuchten.
Mit der anderen Hand berührte Seth Davids Schulter, die – Melanie beobachtete es voller Faszination – schwach zu leuchten begann. Sanft glitt Seth’ Hand an seinem Arm entlang bis hinunter zur Hand.
David seufzte erleichtert. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Kaum dass seine Anspannung nachließ, verschwand auch das diffuse Unbehagen aus dem Zimmer, das alle Anwesenden wie einen unsichtbaren Kokon eingehüllt hatte.
Davids Schmerzen hatten dazu geführt, dass er unwillentlich eine Anspannung ausgestrahlt hatte, die auf Melanie und die anderen wie Ärger gewirkt hatte.
Als Seth seine Hand wegnahm, hörte sie auf zu leuchten. »Ist es jetzt besser?«
Versuchsweise ließ David den Arm kreisen. »Ja, viel besser. Vielen Dank.«
Seth klopfte ihm auf die Schulter und ging dann zu seinem Platz am Ende der Tafel.
Roland räusperte sich. »Ich hätte doch auch helfen können.«
David schüttelte den Kopf. »Du erholst dich immer noch von den Verletzungen, die du diese Nacht davongetragen hast, und davon, Dr. Lipton zu heilen.«
Blitzschnell riss Sarah den Kopf herum. »Du hast gesagt, dass es dir gut geht.«
Unbehaglich rutschte Roland auf seinem Stuhl hin und her. »Es geht mir ja auch gut … jedenfalls überwiegend.«
»Das ist nicht in Ordnung, Roland.«
»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«
Sie musterte ihn mit zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen. »Willst du wirklich, dass ich jede Nacht deinen Körper nach Wunden absuche, oder wirst du mir in Zukunft die Wahrheit sagen?«
»Ich bevorzuge die erste Option.«
Die anderen am Tisch kicherten.
Sarah versetzte ihm einen Schlag gegen die Schulter.
»Autsch! Seit du eine Unsterbliche bist, tut das viel mehr weh, weißt du.«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Ich weiß.«
Seth nahm Platz. »Also gut. Bringen wir’s hinter uns. Darnell hat mir gesagt, dass du wegen irgendetwas sauer bist, Chris. Worum es auch geht, ich nehme an, es dreht sich mal wieder um Bastien. Aber bevor wir dazu kommen … hatte schon jemand Erfolg mit dem Rekrutieren von Vampiren?«
Alle schüttelten die Köpfe.
Bastien beugte sich vor. »Mir ist es möglicherweise gelungen. Ich hätte ihn eigentlich in dieser Nacht treffen sollen, habe die Verabredung aber vergessen, als Dr. Lipton verletzt wurde. Vielleicht taucht er ja morgen beim verabredeten Treffpunkt auf.«
»Gute Arbeit. Nimm Richart mit, für den Fall, dass die Vampire wieder einen Hinterhalt planen.« Seth machte eine abwehrende Geste, als Chris zum Sprechen ansetzte. »Dr. Lipton, es tut mir leid, dass Sie heute Nacht verletzt worden sind. Aber da Sie in der Lage sind, an diesem Treffen teilzunehmen, gehe ich davon aus, dass es Ihnen wieder gut geht?«
»Ja. Roland hat mich geheilt.« Sie warf Roland einen Blick zu. »Vielen Dank.«
Er nickte kurz. »Gern geschehen.«
Sarah lächelte und kuschelte sich an ihren Mann.
»Sie sind aber nicht gebissen worden, oder?«, erkundigte sich Seth.
»Nein. Einer von Emrys’ Leuten hat auf mich geschossen.«
»Dreimal«, fügte Bastien mit angespannter Stimme hinzu. »Und es waren zwei Schützen. Sie warteten, bis wir die Vampire besiegt hatten, und danach haben sie in dem allgemeinen Durcheinander auf Melanie gezielt.«
Yuri und Stanislav fluchten.
Richart beugte sich vor. »Insgesamt hatten sich sechsunddreißig Soldaten auf dem Unigelände versteckt. Auf den Dächern. Hinter vorspringenden Erkern. Hinter den Büschen. Wir waren bereits einige Zeit vor Ort, bevor die Blutsauger aufkreuzten, und die Soldaten waren so mucksmäuschenstill, dass wir sie bis zuletzt nicht bemerkten.«
Yuri knurrte. »Und sie waren mit Betäubungspistolen bewaffnet?«
»Ja.«
»Wie viele Männer konntet ihr gefangen nehmen?«
Richart wechselte einen Blick mit Bastien. »Keinen.«
Jetzt geht’s los, dachte Melanie.
Chris lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Bastien hat sie alle umgebracht.«
»Und wo warst du?«, fragte Yuri Richart. »Ich dachte, dass ihr beide zusammen gejagt hättet. Hast du ihm nicht geholfen?«
Richart schüttelte den Kopf. »Dr. Liptons Verletzungen waren tödlich. Ich habe sie hierher teleportiert, um zu sehen, ob sich David hier aufhält. Danach habe ich sie zum Netzwerk gebeamt, damit die Ärzte sie so lange am Leben erhalten konnten, bis ich Roland lokalisiert hatte.«
»Roland«, schaltete sich Seth ein. »Das Erste, was du morgen Nacht tun wirst, ist, Richart zu zeigen, wo du wohnst. Ich will nicht, dass jemand stirbt, weil Richart nicht weiß, wie er dich finden kann.«
Roland nickte kurz.
Stanislav musterte Bastien. »Also hast du allein die ganzen Soldaten getötet, während Richart Dr. Lipton in Sicherheit gebracht hat?«
»Ja«, bestätigte Bastien. »Allerdings … als diese Männer auf Dr. Lipton geschossen haben, wollten sie sie nicht nur verletzen. Sie wollten sie töten. Und jeder, der uns kämpfen gesehen hat, muss gewusst haben, dass sie weder eine Unsterbliche noch ein Vampir war. Dennoch haben die Soldaten auf sie geschossen. Diese Schweine haben es verdient zu sterben.«
Die übrigen Anwesenden wechselten Blicke.
Étienne räusperte sich. »Ich persönlich habe kein Problem damit.«
»Ich auch nicht«, erklärte Lisette.
»Ich schließe mich an«, sagte Richart.
»Ist das euer Ernst?«, wollte Chris wissen. »Wir hätten die Insiderinformationen, die diese Männer besaßen, gut gebrauchen können. Marcus, gerade du müsstest wissen, wie wichtig es für uns ist, Emrys zu finden und auszuschalten. Jeder dieser Männer hätte uns bei dieser Aufgabe behilflich sein können.«
Marcus musterte Bastien mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Ich kann nachvollziehen, warum du wütend warst, Bastien. Aber du hättest auch an uns andere denken müssen. Emrys wird alles tun, um Ami in die Finger zu bekommen. Und heute Nacht hätten wir die Möglichkeit gehabt, an die Informationen zu kommen, die wir brauchen, um seinen Aufenthaltsort herauszufinden und das alles zu beenden.«
Bastien fluchte. »Du hast recht. Ich hab’s vermasselt. Es tut mir leid, Ami.«
»Ist schon in Ordnung, Sebastien.«
»Nein, das ist es nicht«, widersprach Marcus.
»Er hat recht«, stimmte ihm Bastien zu. »Ich habe einfach nicht nachgedacht.«
»Du denkst nie nach«, sagte Chris vorwurfsvoll.
Da niemand die Absicht zu haben schien, Bastien zu verteidigen, sagte Melanie: »Aber er hat nachgedacht, als er den Plan entwickelt hat, die Vampire mit ins Boot zu holen, um Emrys zu besiegen. Und er hat auch nachgedacht, als er ein paar Stunden später sehr nah dran war, einen Vampir zu rekrutieren.«
Bastien drückte unter dem Tisch ihren Arm. War das eine Warnung, sich nicht für ihn einzusetzen? Selbst wenn – zur Hölle damit.
Chris zog die Augenbrauen hoch. »Wir wissen nicht, ob dieser Vampir vertrauenswürdig ist. Es könnte eine Falle sein. Oder er bekommt Angst und macht sich vom Acker. Oder er bietet uns zwar seine Hilfe an, aber es stellt sich heraus, dass er uns nicht weiterhelfen kann, weil das Virus sein Gehirn schon zu sehr zerfressen hat. Von diesen Soldaten hingegen wissen wir sicher, dass sie uns hätten helfen können. Sie müssen einen Vorgesetzten haben, dem sie Bericht erstatten. Und einer der Telepathen hier am Tisch hätte diese Information leicht aus ihnen herausholen können, und dann hätten wir gewusst, wo Emrys seinen Stützpunkt hat – und vielleicht wäre es uns sogar gelungen, ihn selbst dingfest zu machen.«
»Das ist ja alles gut und schön, aber genauso gut hätte es passieren können, dass einer dieser Soldaten Bastien mit einem Betäubungspfeil kampfunfähig gemacht hätte, während er noch damit beschäftigt war, einen, zwei oder ein Dutzend von diesen Männern in seine Gewalt zu bringen«, meldete sich Melanie wieder zu Wort, wobei sie hartnäckig ignorierte, dass Bastien ihr fast die Hand zerquetschte. »Wir hatten keine Ahnung, dass sie da waren – wir haben sie erst bemerkt, als sie auf mich geschossen haben.«
»Wenn er die Zeit gehabt hat, sie zu töten, dann hätte er auch die Zeit gehabt, sie bewusstlos zu schlagen«, behauptete Chris.
»Ich stimme ihm zu«, sagte Marcus.
Seth drehte sich zu Bastien herum. »Er hat recht. Das nächste Mal knebele und entwaffne sie, statt sie zu töten.«
Bastien nickte grimmig.
Melanie fühlte sich schuldig, weil sich Bastien nicht in dieser Lage befunden hätte, wenn die Soldaten nicht auf sie geschossen hätten. Außerdem sah er aus, als würde er sich Vorwürfe machen.
»Ich finde, dass Bastien von seinen Pflichten entbunden werden sollte«, verkündete Chris. »Ich bin der Meinung, dass er nicht mehr die Erlaubnis haben sollte, Vampire zu jagen. Und ich will, dass man ihm die Erlaubnis entzieht, das Netzwerk zu besuchen.«
Diese Forderung löste zwar überraschte Blicke aus, aber keinen Protest.
Allmählich wurde Melanie wütend. »Das können Sie nicht machen. Cliff und Joe brauchen ihn.«
»Daran hätte er denken sollen, bevor er sich ein zweites Mal gewaltsam Zutritt zu Räumen des Netzwerks verschafft hat.«
Seth stöhnte. »Verdammt, Sebastien. Welchen Grund hattest du dieses Mal?«
»Sie wollten mir verbieten, Dr. Lipton zu besuchen«, knurrte er. »Und wenn sich Richart nicht für mich eingesetzt hätte, dann hätte Chris mich wieder in der Arrestzelle angekettet, kaum dass wir das Hauptquartier erreicht hatten.«
Melanie musterte Chris mit offenem Mund. »Sie wollten ihn schon wieder in Ketten legen?«
»Ja«, erwiderte er ungerührt.
»Mit welcher Begründung?«
»Weil er in einem Wutanfall sechsunddreißig Sterbliche getötet hat. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass er meine Männer verletzt.«
Stanislav sah sich unter den Anwesenden um. »Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.«
Richart nickte. »Deswegen habe ich protestiert. Ich war der Meinung, dass Chris überreagiert.«
Melanie ergriff das Wort. »In Ordnung. Vielleicht kennen ja alle außer mir die Antwort oder sind zu höflich, um zu fragen. Vielleicht ist es ihnen aber auch einfach nur scheißegal. Was mich wirklich interessieren würde …« Sie richtete den Blick auf Chris. »Warum hassen Sie Sebastien so sehr?«
Ein paar von den Unsterblichen – genauer gesagt, die Franzosen unter ihnen – versuchten ein Lachen zu unterdrücken.
Bastiens Kopf fuhr zu ihr herum. »Melanie …«
»Nein. Ich will es wirklich wissen.«
Chris machte ein finsteres Gesicht. »Melanie?«, wiederholte er, offenbar war ihm nicht entgangen, dass Bastien die Ärztin mit dem Vornamen ansprach.
»Also? Was ist es?«, bohrte sie. »Warum haben Sie so einen Hass auf ihn? Ich kann verstehen, warum Roland, Sarah und Marcus ihn nicht leiden können. Schließlich hat Bastien versucht, sie zu töten. Und ich weiß, was die anderen gegen ihn haben.« Sie deutete auf die übrigen Unsterblichen. »Sie sind wütend auf ihn, weil er ihren Freund Ewen getötet hat.« Sie hielt inne. »Und wenn wir schon mal darüber reden – statt ihn wegen dieser Tat abzulehnen und zu verurteilen, sollten Sie sich vielleicht mal fragen, warum David und Seth das nicht tun. Sie sind die klügsten Männer in diesem Zimmer, und keiner von beiden scheint ein Problem mit Bastien zu haben.«
Seth hob einen Finger.
»Mal abgesehen von seinem vorlauten Mundwerk«, schränkte sie ein.
Mit einem Lächeln nahm er den Finger wieder herunter. »Vielen Dank.«
»Ich meine, sind Sie jemals auf den Gedanken gekommen, dass er einen guten Grund gehabt haben könnte? Dass er ihn getötet haben könnte, um sich zu verteidigen? Dass Ewen Bastien möglicherweise für einen Vampir hielt und ihn angegriffen hat? Und ihm damit keine andere Wahl ließ, als um sein Leben zu kämpfen?«
»Woher weißt du das?«, wollte Bastien wissen und sah zu Seth. »Hast du es ihr gesagt? Ich habe dich darum gebeten, dich aus meinem Kopf fernzuhalten.«
»Ich habe deine Gedanken nicht gelesen.«
»Woher weißt du das?«, fragte Bastien Melanie noch einmal.
Sie zuckte mit den Schultern. »Welchen anderen Grund hättest du haben sollen?«
»Vielleicht den, dass er ein Arschloch ist?«, schlug Roland vor.
Melanie verdrehte die Augen. »Sie sind voreingenommen.«
»Sie etwa nicht?«, forderte der Unsterbliche sie heraus.
Étienne riss die Augen auf. »Merde. Es ist wahr. Ewen hat ihn tatsächlich angegriffen.«
Marcus richtete sich auf. »Bastien muss ihm einen Grund geliefert haben.«
»Er hat von einer Frau getrunken«, sagte Lisette.
»Hört auf, meine Gedanken zu lesen!«, schnauzte Bastien die beiden Franzosen an und funkelte sie wütend an.
»Dann war Ewen also im Recht«, sagte Marcus.
Chris nickte. »Man kann ihm nicht vertrauen.«
»So ein Schwachsinn!«, platzte Tanner heraus. »Bastien tötet niemanden, der es nicht verdient.«
»Aber seine Vampiranhänger haben genau das getan«, wandte Chris ein.
»Vince, Cliff und Joe nicht«, widersprach Melanie.
Tanner nickte. »Und Bastien wusste nicht, was die Vampire hinter seinem Rücken trieben.«
»Wenn er sie nicht im Griff hatte, dann hätte er sie töten müssen.«
»Sie sind doch bloß sauer, weil er es geschafft hat, Sarah direkt vor Ihrer Nase zu entführen, ohne dass Sie und Ihre Männer es verhindern konnten.«
Im Zimmer wurde es ganz still.
Im Ernst? War es das? War das der Grund, warum Chris so sauer auf ihn war?
Melanie ließ Chris, dem deutlich sichtbar die Röte in die Wangen stieg, nicht aus den Augen und kam zu dem Schluss, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Also, ich glaube«, sagte Bastien langsam, »dass er nicht nur wegen Sarahs Entführung sauer ist, sondern auch, weil ich ihm nicht nur die Nase, sondern auch noch mehrere Knochen im Gesicht zertrümmert habe. Ich habe ihn bewusstlos geschlagen, ehe er auch nur einen einzigen Schuss abgeben oder seine Männer warnen konnte.«
Oh, oh. Das klang nicht gut.
Chris’ Gesicht hatte inzwischen einen dunkelroten Farbton angenommen.
Sarah räusperte sich. »Falls dir das eine Hilfe ist, ich habe Bastien auch nicht kommen sehen.«
Darnell grinste. »Ja, allerdings hast du es geschafft, zweimal auf ihn zu schießen und ihm ein Messer in den Hintern zu rammen.«
Gelächter brandete auf.
Seth hob in einer beschwichtigenden Geste die Hand. »Na schön. Beruhigt euch. Wir sind alle froh, dass es Sarah gelungen ist, Bastien ein Messer in den Hintern zu jagen.«
Noch mehr Gelächter.
»Chris«, sagte Seth ernst, »du solltest endlich darüber hinwegkommen, dass Bastien dich geschlagen hat, denn diese Sache hält dich davon ab, deine Arbeit zu machen. Nimm dir ein Beispiel an Sarah und vergiss das Ganze. Was das Netzwerk angeht … Sag deinen Männern, dass sie Bastien mehr Freiraum gewähren sollen, dann wird er auch aufhören, sie zu provozieren. Ich möchte, dass Bastien auch weiterhin Zugang zu Cliff und Joe hat. Die beiden Vampire versuchen uns zu helfen und haben sich aus diesem Grund freiwillig in Gefangenschaft begeben. Hin und wieder brauchen sie mal eine Pause, und sie verdienen es, dass er sich um sie kümmert und sie von ihrem langweiligen Alltag in Gefangenschaft ablenkt.«
Chris wagte nicht, ihm zu widersprechen, auch wenn man ihm ansah, dass er nicht gerade begeistert war.
Seth’ Wort war Gesetz. Wer würde es schon wagen, sich dem Ältesten der Unsterblichen entgegenzustellen?
Als Nächstes wandte sich Seth direkt an Bastien. »Bastien, ich möchte, dass du ebenfalls deinen Teil beiträgst. Hör auf, ständig zu widersprechen, und zeig etwas mehr Geduld, wenn etwas beim Netzwerk nicht so reibungslos läuft, wie du dir das vorstellst. Statt die Männer zu verletzen, die dort arbeiten und uns helfen, nimm dein Telefon zur Hand und ruf mich oder David an. Wenn du uns nicht erreichst, dann wende dich an Richart. Er war klug genug, dich heute Nacht aus dem Hauptquartier zu teleportieren, bevor die Situation eskalieren konnte. Das kann er wieder tun, falls es nötig werden sollte.«
Bastien nickte.
»David, möchtest du auch noch etwas sagen?«
David schwieg ein paar Sekunden lang, sein gut aussehendes, ebenholzfarbenes Gesicht wirkte nachdenklich. Melanie hatte noch nie jemanden gesehen, der so dunkle Haut hatte. Sie sah einfach toll aus. So makellos wie die eines Supermodels. Dennoch wirkte sein Gesicht durch und durch männlich.
»Wir alle sollten im Hinterkopf behalten, warum wir uns heute Nacht hier versammelt haben«, sagte er mit seiner tiefen, warmherzigen Stimme. »Obwohl Richart, Bastien und Dr. Lipton sich bereits länger auf dem Unigelände aufgehalten haben, haben sie die Soldaten nicht bemerkt, bis diese auf sie geschossen haben. Chris, ich frage mich, ob das Netzwerk die Unsterblichen und ihre Sekundanten mit Wärmebildbrillen ausstatten könnte, damit sie die Wärmesignaturen von versteckten Gegnern sehen können, die andernfalls möglicherweise ihrer Aufmerksamkeit entgehen.«
Chris griff in seine Jacke und zog eins seiner zahllosen Notizbücher und einen Bleistift heraus, von dem nur noch ein Stummel übrig war. »Schon erledigt.«
Melanie hatte ihn schon so häufig in vergleichbare Notizblöcke schreiben sehen, dass sie sich unwillkürlich fragte, ob er irgendwo ein ganzes Zimmer voll davon hatte.
Während Chris seine Notizen machte, sah er auf und richtete den Blick auf Bastien. »Wäre es dir heute Nacht eine Hilfe gewesen, wenn du eine Wärmebildbrille gehabt hättest?«
Melanie hielt den Atem an.
Chris hätte genauso gut Richart fragen und auf diese Weise vermeiden können, mit seinem Erzfeind zu sprechen. War das eine Art Friedensangebot?
»Vor dieser Nacht hätte ich nicht geglaubt, dass wir so etwas brauchen könnten«, erwiderte Bastien langsam, »aber ja, definitiv. Mit einer Wärmebildbrille hätten wir wenigstens ein paar von ihnen sehen können. Jene, die so gut in den Schatten und hinter Sträuchern versteckt waren, dass wir sie selbst mit unserem übernatürlichen Sehsinn nicht wahrnehmen konnten.«
Richart nickte. »Als ich zum Gelände der UNC zurückgekehrt bin, war ich überrascht, wie viele von ihnen unserer Aufmerksamkeit entgangen waren.«
»In Ordnung.« Chris machte sich noch ein paar Notizen. »Also werden Wärmebildbrillen in Zukunft Teil unserer Ausrüstung sein. Bis morgen Abend kann ich genug besorgen, um alle Unsterblichen und ihre Sekundanten in North Carolina, South Carolina, Virginia und West-Virginia auszustatten. Wir wissen ja nicht, wie groß das Territorium ist, das diese Soldaten überwachen.«
Vielleicht kam es jetzt ja wirklich zu einem Waffenstillstand zwischen Bastien und Chris. Das wäre eine große Erleichterung.
Melanie tätschelte Bastiens Knie, allerdings unter dem Tisch, damit die anderen es nicht sehen konnten.
Bastien nahm ihre Hand und presste sie gegen seinen Oberschenkel.
»Ihr alle, seid vorsichtig!«, befahl Seth. »Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass es Emrys’ Soldaten gelungen ist, uns zu überrumpeln. Wir müssen dafür sorgen, dass es nicht noch einmal passiert.«