6
Eigentlich hätte Bastien aufgebracht darüber sein müssen, dass er gezwungen war, die nächsten vierundzwanzig Stunden mit Melanie zu verbringen – aber das war er keineswegs. Teufel noch mal, er mochte sie einfach. Und wie sie aussah: Das Gesicht vor Ärger gerötet, während sich ihre Brüste unter dem engen Shirt im Rhythmus ihrer schnellen Atemzüge hoben und senkten. Und dann schrie sie auch noch jedes Wort …
»Sie ist ziemlich sexy, wenn sie sauer ist, findest du nicht auch?«, fragte Cliff leise, damit sie ihn nicht hören konnte.
Wütend blitzte Bastien ihn an. »Pass auf, was du sagst.«
»Oh bitte. Als ob dir dieser Gedanke nicht schon selbst gekommen wäre.«
»Das bedeutet aber nicht, dass es mir recht ist, wenn du das denkst«, brummte er.
»Und das«, sagte Melanie und machte eine Geste, die sie beide einschloss, »hört sofort auf. Kein Geflüster mehr. Keine Geheimnisse.«
»Tut mir leid«, sagte Cliff kleinlaut. »Bastien hat nur gesagt, dass er findet, dass du sexy aussiehst, wenn du wütend bist.«
Bastien fluchte.
»Es ist mir völlig egal, was er …«, legte Melanie los, um sich dann zu unterbrechen. Ihr Gesicht spiegelte Überraschung wider. »Wie bitte?«
»Cliff …«, sagte Bastien warnend, aber es war zu spät.
Cliff sprach bereits weiter, mit einem breiten Lächeln, das bezeugte, wie viel Spaß ihm dieses Spielchen machte: »Er findet, dass du total heiß aussiehst, wenn du wütend bist.«
Melanie musterte Bastien mit zu Schlitzen verengten Augen. Es sah aus, als versuchte sie, seine Gedanken zu lesen.
»Was ist das denn für ein Quatsch?«, bluffte er. »Du kannst doch unmöglich ernst nehmen, was dieser Typ von sich gibt. Er ist verrückt.«
Cliff lachte. »Du musst dich schon noch ein bisschen gedulden, bevor diese Ausrede funktioniert, Alter.«
Melanie musterte ihn tadelnd. »Über so etwas macht man keine Scherze.«
Aber Cliff zuckte nur mit den Achseln. »Wenn ich darüber keine Scherze machen darf, dann …«
»Was dann?«, bohrte Bastien. »Drehst du durch?«
Die beiden Männer grinsten.
Melanie verdrehte die Augen. »Ihr seid echt unmöglich. Alle beide.«
Plötzlich war ein Summen zu hören, und die Tür öffnete sich. Die Wachmänner, die vor dem Apartment postiert waren, steckten die Köpfe durch die Tür.
»Alles klar, Doc?«, fragte einer der Männer mit kurzem blondem Haar, während sein Blick skeptisch durch das verwüstete Zimmer glitt.
»Ja, es ist alles in Ordnung, Mark. Das hier … war nur ein kleines Experiment.«
Bastien bedachte den Wachmann mit einem grimmigen Blick. »So lange brauchen Sie, um nach dem Rechten zu sehen?«
Zugegebenermaßen wäre es ihm gar nicht recht gewesen, wenn sie früher unterbrochen worden wären. Ein Eingreifen der Sicherheitsleute hätte zweifellos damit geendet, dass sowohl Bastien als auch Cliff von Kugeln durchsiebt worden wären, und Melanie hätte sich zudem auch noch einen Querschläger einfangen können. Wenn Joe oder Cliff allerdings wirklich mal einen psychotischen Anfall hatten und Melanie angriffen, mussten die Sicherheitsleute entschieden schneller reagieren, wenn sie die Ärztin retten wollten. Sie wäre ausgesaugt gewesen, bevor sie auch nur den Sicherheitscode eingetippt hatten.
Angesichts der Kritik spannte Mark die Muskeln an. »Hören Sie, aus diesen Räumen kommen ständig merkwürdige Geräusche. Es ist schwer zu sagen, welche davon harmlose Gründe haben und welche ein Problem darstellen.«
»Dann verschwenden Sie nicht Ihre Zeit mit Ratespielchen. Sobald Sie etwas hören, das nach Gewalt klingt, öffnen Sie die verdammte Tür und überzeugen sich persönlich davon, dass alles in Ordnung ist. Auch wenn sich Cliff oder Joe erst mal über ihr Eindringen ärgern, begreifen sie durchaus, warum das nötig ist.«
Cliff nickte.
Von seinen Besuchen bei Cliff wusste Bastien, dass es dessen größte Angst war, die Kontrolle zu verlieren und Melanie wehzutun. Bis jetzt hatte er keine gewalttätigen Anfälle gehabt, aber niemand wusste, wann es so weit sein würde.
Außerdem fiel es Bastien immer schwerer, Joe einzuschätzen. Je mehr er die Kontrolle über sich verlor, desto mehr zog sich der Vampir in sich zurück – selbst Cliff ließ er kaum noch an sich heran, und auch zu Melanie und Bastien hielt er Abstand.
Genau deshalb hätte Bastien ihn bei diesem Experiment niemals um Hilfe gebeten.
Mark warf Cliff einen Blick zu, und zu Bastiens Überraschung war in seiner Miene keine Feindseligkeit zu lesen. Offenbar konnten die Sicherheitsleute des Netzwerks die Vampire deutlich besser leiden als Bastien.
»Es ist zwar ärgerlich, wenn jemand in unsere Privatsphäre eindringt«, bemerkte Cliff, »aber das ist mir immer noch lieber, als das Risiko einzugehen … Nur für den Fall, dass etwas passiert und Dr. Lipton Ihre Hilfe braucht.«
Mark nickte, in seinem Blick lagen deutlich Respekt und Anteilnahme.
Ein sympathischer Typ. Fast tat es Bastien leid, dass er ihm vor ein paar Wochen beide Arme gebrochen und dafür gesorgt hatte, dass er eine Gehirnerschütterung davontrug.
Die Sicherheitsleute zogen sich zurück und schlossen die Tür hinter sich.
»Es wundert mich, dass Chris nicht den Befehl gegeben hat, beim kleinsten Mucks in das Apartment einzudringen«, sagte Bastien zu Melanie.
»Das hat er sehr wohl«, gestand sie. »Allerdings habe ich die Wachleute darum gebeten, sich zurückzuhalten. Ich hatte den Eindruck, dass die ständigen Unterbrechungen den Stress, dem die Vampire ohnehin ausgesetzt sind, noch vergrößern.« Sie betrachtete das zerschlagene Mobiliar um sie herum und seufzte. »Ich räume hier nicht auf.«
Cliff lachte. »Das übernehme ich. Ich langweile mich hier sowieso zu Tode, und dann habe ich wenigstens etwas zu tun.«
Melanie stieg über die Überreste des Couchtischs und ein zerfleddertes Sofakissen hinweg – verdammt, war das der Flachbildfernseher? –, ging zu Cliff und umarmte ihn fest.
Der Vampir erwiderte ihre Umarmung. Man hatte den Eindruck, dass sie sich nahestanden.
Melanie ließ Cliff los und strich ihm einen seiner Rastazöpfe aus dem Gesicht. »Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Er lächelte. »Es geht mir wirklich gut.«
»Und das Kämpfen hat bei dir keinen …«
»Anfall von Wahnsinn ausgelöst? Nein. Eigentlich war es sogar ein ziemlich gutes Gefühl. Eine Gelegenheit, endlich mal Dampf abzulassen.«
»Hm.« Melanie trat einen Schritt zurück und wäre fast über einen Teil des kaputten Mobiliars gestolpert.
Bastien sprang einen Satz nach vorn und packte sie am Arm.
»Danke«, sagte sie. Er spürte, wie es trotz ihres nachlassenden Ärgers zwischen ihnen funkte und ihr Puls schneller schlug. »Ich frage mich, ob es Joe ebenfalls helfen würde, ein bisschen zu kämpfen – um überschüssige Energie abzubauen.«
Bastien und Cliff drehten sich gleichzeitig zu der Wand zu Joes Apartment um, als von dort seine Stimme zu ihnen herüberdrang.
»Er ist einverstanden, es auszuprobieren«, erklärte Bastien an Melanie gewandt. »Aber er will nur gegen mich kämpfen. Einen Kampf mit Cliff will er lieber nicht riskieren.«
Das Offensichtliche sprach er nicht aus: Im Gegensatz zu Cliff war Bastien in der Lage, ihn zu stoppen, falls der Kampf einen psychotischen Anfall auslöste und zu blutigem Ernst wurde.
»Seth und David wären bestimmt auch damit einverstanden, ein bisschen mit ihm zu trainieren«, bemerkte sie.
Aber Joe widersprach sofort. Zum Henker, nein. Ich kann diese Typen nicht ausstehen.
Bastien schüttelte den Kopf. »Er fühlt sich in ihrer Gegenwart nicht wohl.«
Der Vampir traute den beiden uralten Unsterblichen nicht. Und auch wenn sich seine gewalttätigen Ausfälle bisher in Grenzen gehalten hatten, war seine Paranoia inzwischen weit fortgeschritten. Durch die Wand erklärte Joe Bastien, dass er Angst davor hatte, dass die beiden mächtigen Heiler seinen Wahnsinn absichtlich verschlimmerten, statt ihn zu heilen. Sie wollen meine Gedanken stehlen. Mir meine Erinnerungen rauben und sie durch neue ersetzen. Durch falsche Erinnerungen.
Bastien musterte Cliff nachdenklich. »Glaubst du das auch?«
Das jugendliche Gesicht des Vampirs drückte Bedauern aus. »Nein. Aber auch ich fühle mich in ihrer Gegenwart nicht wohl.«
Melanie biss sich auf die Unterlippe. »Es tut mir leid, Cliff. Ich würde sie ja darum bitten, nicht mehr zu kommen, aber die Sitzungen mit ihnen helfen dir.«
Nein, das tun sie nicht! Joes Stimme aus dem Nebenzimmer klang schrill. Sie verarschen uns nur!
Leichte Übelkeit breitete sich in Bastien aus. Joe ging es sehr viel schlechter, als ihm klar gewesen war.
Als er aufblickte, sah ihn Cliff traurig an. »Wie lange ist Joe schon dieser … Überzeugung?«, fragte er vorsichtig, um Joe nicht noch weiter zu reizen.
»Seit einer ganzen Weile.«
Melanies Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. »Welche Überzeugung? Was hat er gesagt?«
Bastien konnte deutlich spüren, wie besorgt sie war.
»Vielleicht ist es besser, wenn Seth und David nur noch Cliff behandeln«, schlug Bastien vor.
Ein paar Sekunden lang musterte sie ihn schweigend.
Mit den Lippen formte er unhörbar das Wort Später.
Sie nickte. »In Ordnung. Ich tue, was ich kann.«
Düsteres Schweigen senkte sich auf sie herab.
»Also gut …«, sagte sie schließlich, und Bastien spürte, dass sie nach einem Weg suchte, die Düsternis zu vertreiben und Cliff aufzumuntern. »Cliff, was hältst du davon, wenn ich meinen Laptop hole, damit wir zusammen ein paar coole neue Möbel und einen Flachbildfernseher aussuchen, während Bastien das Chaos beseitigt?«
Als Bastien anfing, lautstark zu protestieren, lachte Cliff und sagte: »Hört sich gut an.«
Der Unsterbliche schloss den Mund wieder, beugte sich vor und hob eine halbe Sofalehne vom Boden auf.
»Du bist heute Nacht so still, Bastien«, befand Richart.
Melanie warf dem Unsterblichen links von sich einen kurzen Blick zu.
Er fummelte an seinem Handy herum – wahrscheinlich wartete er auf neue Nachrichten von seiner Liebsten.
Sie sah zur anderen Seite. Dort saß Bastien und starrte wortlos hinunter auf das Unigelände, auf dem sich kaum etwas regte.
Sie saßen zu dritt auf dem Dach der Davis-Bibliothek, ihre Füße baumelten über den Rand. Die Gebäudefront war gut beleuchtet, daher hatten sie es sich bewusst auf dieser Seite gemütlich gemacht. So wurden sie nicht von den Lichtkegeln der Lampen erfasst, die das Gelände der University of North Carolina beleuchteten, sondern blieben im Schatten der Bäume.
Melanie hatte es durchaus ernst gemeint, als sie Bastien gesagt hatte, dass er sie nicht so schnell wieder loswerden würde. Über ein Jahrtausend hatten die Unsterblichen geglaubt, dass Drogen ihnen nichts anhaben konnten und sich dementsprechend verhalten. Sie hatten sich keine Gedanken darüber gemacht, dass jemand versuchen könnte, sie mit einer chemischen Substanz zu beeinflussen, sondern sich für immun gehalten. Mithilfe des Betäubungsmittels, das Emrys entwickelt hatte, um Ami während der von Emrys’ Leuten durchgeführten Experimente und Untersuchungen bewegungs- und kampfunfähig zu machen, hatte er den Unsterblichen gezeigt, dass sie sich irrten. Aber statt die Warnung anzunehmen und auf die Idee zu kommen, dass es noch andere Substanzen geben könnte, die ihnen gefährlich werden könnten, schienen die Unsterblichen davon auszugehen, dass dies nur für Emrys’ Droge galt.
Dabei hatte Melanie ihnen erst jüngst bewiesen, dass diese Annahme falsch war. Schließlich hatte das Aufputschmittel, das sie hergestellt hatte, gewirkt. Dennoch war Bastien immer noch nicht damit einverstanden, dass sie ihn und Richart auf die Jagd begleitete. Er war der Überzeugung, dass es ihm gut ging – schließlich hatte ihm das Aufputschmittel, dass er sich injiziert hatte, nichts anhaben können. Folglich ging er davon aus, dass er keine bleibenden Schäden davontragen würde. Und dass es keine verspäteten Nebenwirkungen geben würde.
Aber Melanie wollte sich lieber selbst davon überzeugen und hatte darauf bestanden, die beiden zu begleiten.
Als Richart Zweifel angemeldet hatte, ob es klug war, sie mitzunehmen, hatte Melanie Seth angerufen, der ihr Vorhaben ohne zu zögern unterstützt hatte.
Möglicherweise schwieg Bastien so beharrlich, weil er wütend darüber war, dass sie sich über ihn hinweggesetzt hatte.
Hm. Vielleicht lag es ja an Seth, dass sich Bastien so schwer damit tat, sich in die Reihen der Unsterblichen Wächter zu integrieren. Die anderen Unsterblichen hatten sich ihm von jeher untergeordnet und folgten widerspruchslos seinen Befehlen. Er war der Älteste und hatte am meisten Erfahrung mit den Herausforderungen, mit denen die Unsterblichen und die Begabten zu kämpfen hatten. Außerdem war er der Mächtigste unter ihnen und konnte es mühelos mit jedem von ihnen aufnehmen. Auch mit zweien, dreien oder einem ganzen Dutzend gleichzeitig. Allerdings hatte Melanie gehört, dass es schon seit Jahrhunderten eine Wette dazu gab, wer von ihnen bei einem Kampf gewinnen würde – Seth oder David.
Sie bezweifelte, dass es jemals dazu kommen würde – es war allgemein bekannt, dass sich die beiden niemals stritten.
»Gibt es ein Problem?«, bohrte Richart weiter. »Hat mal wieder jemand deine empfindlichen Gefühle verletzt?«
Bastien schwieg hartnäckig.
»Schmollst du, weil Seth dir jetzt schon zwei Babysitter aufdrückt?«
Nichts.
»Aber vielleicht hat das Gerangel mit deinem Vampirfreund ja auch deine Stimmbänder ruiniert.«
»Vielleicht bin ich auch einfach nur erschöpft von dem Gerangel mit deiner Freundin«, knurrte Bastien.
Blitzschnell riss Richart den Kopf zu ihm herum. Seine Augen fingen an, bernsteinfarben zu leuchten, unwillkürlich spannte er die Muskeln an.
»Was glaubt ihr, wer bei einem Kampf gewinnen würde? Seth oder David?«, platzte Melanie heraus. Sie saßen so nah nebeneinander, dass sich ihre Arme berührten, und sie wollte wirklich nicht zwischen ihnen eingeklemmt sein, wenn sie übereinander herfielen.
Richart musterte sie stirnrunzelnd. »Was?«
»Wer würde gewinnen, was glaubt ihr? Seth oder David? Ich überlege, ob ich etwas Geld auf einen von beiden setzen soll.« Das hatte sie zwar nicht vor, aber wen interessierte das schon? Ihr Einwurf schien Richart tatsächlich abzulenken.
»Seth«, erwiderte Bastien.
»Warum?«, wollte Melanie wissen.
»Weil ich einmal erlebt habe, wie er die Geduld verloren hat.«
Das durchdringende Leuchten in Richarts Augen wurde schwächer, bis sie wieder braun waren. »Tatsächlich?«
Bastien nickte, ohne den Blick vom Campusgelände abzuwenden. Nach wie vor rührte sich nichts.
»Was ist passiert? Was hat ihn so wütend gemacht?«, wollte Melanie wissen. Noch nie war ihr zu Ohren gekommen, dass der Anführer der Unsterblichen Wächter die Kontrolle verloren hatte.
»Ich habe Ami angegriffen.«
»Merde!«
»Wie bitte?«
Aus dem Augenwinkel warf Bastien Melanie einen Blick zu. »Es war ein Versehen.«
Richart schnaubte. »Als ob es möglich wäre, jemanden versehentlich anzugreifen.«
»Ich hielt sie für eine Unsterbliche, die sich von hinten an mich heranpirscht, und habe einfach nur … reagiert.«
Es überraschte Melanie, dass sich Bastien zu einer Erklärung herabließ. Lag es daran, dass sie dabei war? »Also, was ist passiert?«, fragte sie.
»Seth ist durchgedreht und …«
»Und was?«, hakte Richart nach.
Bastien schüttelte den Kopf. »Ich hatte Angst, dass das ganze Schloss über uns zusammenstürzt. So eine Machtdemonstration habe ich noch nie gesehen. Und die Sache ist die … ich glaube tatsächlich, dass er sich zusammengerissen hat. Ich glaube, dass das nur ein winziger Hinweis auf das war, wozu er tatsächlich in der Lage ist.«
Richart brummte etwas Unverständliches auf Französisch.
»In dieser Nacht habe ich wirklich geglaubt, dass er mich umbringen würde«, fuhr Bastien fort. »Ich weiß immer noch nicht, warum er es nicht getan hat.«
Melanie sah Richart an. Er wirkte ziemlich beeindruckt.
»Und du hast nie erlebt, dass Seth die Geduld verloren hat?«, fragte sie.
»Nein. Nie.«
Bastien schnaubte belustigt. »Glaub mir, das willst du gar nicht erleben.«
Wieder senkte sich Schweigen über sie.
Vor Kälte schwang Melanie die Beine hin und her und schlug die Hacken ihrer Kampfstiefel zusammen. Bevor sie das Netzwerk verlassen hatte, hatte sie die Jagdkluft angelegt, die üblicherweise von den Sekundanten getragen wurde: schwarze Cargohose, schwarzes, langärmeliges Shirt und als Zugeständnis an die niedrigen Temperaturen einen schwarzen Pulli. In ihren Schulterholstern steckten zwei Neun-Millimeter-Waffen, und an ihren Oberschenkeln hatte sie ihre Messer befestigt.
Darüber trug sie einen langen dunklen Mantel, der sie vor der Winterluft schützen sollte. Dennoch wurden ihre Finger vom eisigen Wind ganz steif; hier oben auf dem Dach war es kälter als auf der Straße. Wenn sie nicht gefürchtet hätte, die beiden Männer in Verlegenheit zu bringen oder ein falsches Signal zu senden (insbesondere, was Richart anging), hätte sie ihre Hände am liebsten in die Taschen der beiden Männer gesteckt, um sie zu wärmen.
Zu den verblüffenden Dingen, die sie über die Unsterblichen erfahren hatte, gehörte, dass sie ihre Körpertemperatur regulieren konnten. Selbst bei diesen eisigen Minusgraden blieben sie schön warm. Sogar wenn die beiden Männer trotz der klirrenden Kälte die Mäntel ausgezogen und sich in Unterwäsche diesen Temperaturen ausgesetzt hätten, wäre ihre Körperwärme in weißen Wölkchen von ihrer Haut aufgestiegen.
»So sieht das also aus, wenn man Vampire jagt?«, fragte sie. »So sieht Ihr Alltag aus? Sie sitzen herum und ärgern sich gegenseitig, während Sie darauf warten, dass sich ein Vampir blicken lässt?« Das war ziemlich langweilig. Es fiel ihr schwer, nicht herumzuzappeln wie ein kleines Kind, das man gezwungen hatte, während einer ungewöhnlich langen Predigt in einem kratzigen Wollanzug in der Kirche zu sitzen. Nichtstun war sie einfach nicht gewöhnt. Es fing an, an ihren Nerven zu zerren, und die waren ohnehin angespannt, weil sie so nah neben Bastien saß. Auch wenn ihre Nase vor Kälte taub war, nahm sie seinen einzigartigen Duft wahr … am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt und ihm die Klamotten vom Leib gerissen.
Leise fluchend rückte Bastien etwas von ihr ab, sodass sich ihre Arme nicht mehr berührten.
Richart warf ihm einen wissenden Blick zu und stopfte das Handy zurück in die Hosentasche. »Wie du weißt, verfügen wir Unsterblichen über einen außergewöhnlich scharfen Gehörsinn. Wenn wir uns ganz ruhig verhalten, hören wir, was sich in mehreren Kilometern Entfernung abspielt. Mit unserem Geruchssinn verhält es sich ähnlich. Wenn ein Vampir auf dem Unigelände jemanden angreift und versucht, von seinem Opfer zu trinken, würden wir das hören und riechen. Auf diese Weise müssen wir nicht Patrouille laufen.«
»Dann habe ich also recht? Ihr sitzt wirklich die ganze Zeit nur da und ärgert euch gegenseitig, bis irgendetwas passiert?«
»Er versucht, nett zu sein«, erklärte Bastien. »Normalerweise drehen wir Runden über das Campusgelände und suchen es mit den Augen ab, um unseren Radius zu erweitern, aber heute Nacht gehen wir auf Nummer sicher.«
»Weil ich dabei bin.«
»Ja. Falls heute Nacht ein paar Blutsauger auftauchen, können wir dich hier oben zurücklassen, wo es für dich sicher ist, und unten gegen sie kämpfen.«
Diese Arroganz! »Ich habe dir schon gesagt, dass ich es problemlos mit einem Vampir aufnehmen kann. Hat unser Zusammentreffen mit Stuart und seinen Kumpanen dir das nicht bewiesen?«
Richart warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Du hast Bastien dabei geholfen, die Blutsauger zu erledigen?«
»Ja.« Sie hatten Richart keine Einzelheiten über den Kampf erzählt, sondern nur gesagt, dass sie in Stuart einen möglichen Rekruten gefunden hatten. Danach hatte Richart die bewusstlosen Blutsauger in die Arrestzelle teleportiert, aber leider waren sie schon zu geschwächt gewesen, um zu überleben. »Ich dachte, ich hätte bewiesen, dass ich damit fertig werde.«
Fragend sah Richart Bastien an.
»Das hat sie tatsächlich«, bestätigte er, wobei er Melanie stirnrunzelnd musterte. »Du hast mir nie gesagt, wie es kam, dass man dich im Kampf ausgebildet hat. Du bist Ärztin und keine Sekundantin.«
»Komm schon, so schwer ist das nicht zu verstehen. Ich arbeite jeden Tag mit Vampiren zusammen. Glaubst du wirklich, dass Reordon mir gestatten würde, Vince, Cliff und Joe jeden Tag zu sehen, wenn ich nicht dasselbe Training absolviert hätte wie die Sekundanten? Mr Reordon wollte nur sichergehen, dass ich mich verteidigen kann, falls ich von einem der Vampire angegriffen werde.«
»Vorhin hatte Cliff aber keine Probleme, dich kampfunfähig zu machen«, widersprach Bastien mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Du warst ihm völlig ausgeliefert.«
Melanie runzelte die Stirn. »Das lag daran, dass ich nicht wachsam war. Weil ich mich in deiner Gegenwart sicher fühle.«
»Da hast du dir aber auch was geleistet, Bastien«, kritisierte ihn Richart.
»Glaub ja nicht, dass ich noch mal auf diesen Mist hereinfalle«, warnte ihn Melanie. »Aber letztlich habe ich euch dazu gebracht, mit der Prügelei aufzuhören, stimmt’s? Und zwar, ohne das Betäubungsmittel einzusetzen.«
Richart kicherte. »Das hätte ich wirklich gern gesehen. Du hast keine Ahnung, wie häufig ich ihm schon zu gern eine runtergehauen hätte, seit Seth mir die Rolle des Babysitters aufgedrückt hat.«
Melanie lachte. »Ich verstehe dich nur zu gut.«
Bastien bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Wie sagt ihr Amerikaner noch – das war so witzig, dass ich glatt vergessen habe zu lachen?«
»Wow«, lautete Melanies trockener Kommentar. »Diese Redewendung habe ich ja schon seit Jahren nicht mehr gehört.«
»Hast wohl schon ein paar Jahre auf dem Buckel, alter Mann«, witzelte Richart.
»Wir sind fast gleich alt, du Dumpfbacke.«
»An Jahren vielleicht. Aber nicht im Geiste.«
Der Wortwechsel ließ Melanie grinsen. So war es schon viel besser.
Plötzlich drehten beide Männer die Köpfe nach Norden.
Instinktiv folgte Melanie ihrem Blick, konnte aber nichts sehen.
Richart und Bastien erhoben sich.
Als Melanie es ihnen nachtun wollte, griff Bastien nach ihrem Arm und führte sie vorsichtig weg von der Dachkante. Die beiden Männer hatten darüber gestaunt, dass sie nicht unter Höhenangst litt – nicht mal ein wenig. Aber da ihr Vater als Hochhausfensterputzer gearbeitet hatte, war sie immer davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine Familientugend handelte.
Die beiden Unsterblichen wirkten, als ob sie konzentriert auf etwas lauschten.
»Was ist los? Sind das … Ratten?« Sie konnte sich gerade noch bremsen, Vampire zu sagen, da sie nicht wusste, ob die sie möglicherweise hören konnten.
Bastiens Mundwinkel zuckten. »Ja.«
»Wie viele?«
Er hob die Hand und legte Mittelfinger und Daumen aneinander.
Melanie versuchte, sich an die Handsignale zu erinnern, die sie während ihres Kampftrainings auswendig gelernt hatte. Acht. Es war ungewöhnlich, dass Vampire in so großen Gruppen jagten. Auch wenn niemand genau sagen konnte, wie viele Menschen der Vampirkönig und seine Anhänger verwandelt hatten, war es wahrscheinlich, dass es sich um eine hohe Zahl handelte. Schließlich trieben regelmäßig große Vampirrudel in North Carolina ihr Unwesen.
Eilig überprüften Bastien und Richart ihre Waffen.
»Wir sind bald zurück«, sagte Bastien zu ihr.
Richart streckte die Hand aus, um Bastiens Schulter zu berühren.
Zur Hölle, nein! Melanie machte eine blitzschnelle Bewegung nach vorn. Ihre Finger schlossen sich just in dem Moment um Bastiens Arm, als Richart sie an einen anderen Ort teleportierte.
Die Welt um sie herum versank in Dunkelheit, und Melanie fühlte sich seltsam schwerelos. Dann berührten ihre Füße das Pflaster des Bürgersteigs in der Nähe des Instituts für Physikalische Wissenschaften.
Melanie verstand zwar nicht, was Richart als Nächstes sagte, vermutete aber, dass er auf Französisch fluchte.
»Tu das nie wieder!«, fuhr er sie auf Englisch an.
Eilig entschuldigte sie sich. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass ihr mich dort zurücklasst.«
»Dafür hatten wir einen guten Grund!«
»Hey.« Bastien machte einen drohenden Schritt nach vorn, seine Augen blitzen. »Sprich nicht so mit ihr.«
Richart zog ein grimmiges Gesicht. »Hör zu, ich meine ja nur – wenn sie uns unbedingt begleiten will, dann …«
»Sie begleitet uns aber nicht.«
»Halt den Mund«, sagten Melanie und Richart gleichzeitig.
Wütend presste Bastien die Lippen aufeinander.
»Wie ich schon sagte«, begann Richart noch einmal, »wenn du uns begleiten willst, dann müssen wir ein paar grundlegende Regeln festlegen.«
Melanie nickte. »Ich verstehe. Aber meinst du nicht, dass wir das auch später erledigen können? Haben wir im Moment nicht dringendere Probleme?« Sie deutete hinter sich, wo acht Vampire, deren Augen blau, grün, silbern und bernsteinfarben leuchteten, abrupt stehen geblieben waren und sie mit offenen Mündern anstarrten.
»Unsterbliche Wächter«, schnarrte einer von ihnen.
Einer nach dem anderen entblößten sie ihre Reißzähne.
Richart warf Bastien einen kurzen Blick zu. »Du wolltest dich doch unbedingt mit ihnen anfreunden. Wie sieht der Plan aus?«
Nachdenklich betrachtete Bastien die Vampire.
Ein paar von ihnen fingen an, laut zu knurren.
Melanie unterdrückte ein Lachen. Offensichtlich sollte das Geräusch einschüchternd wirken, allerdings …
Wenn einer der Unsterblichen ein grollendes Geräusch hinten in der Kehle machte, dachte man unwillkürlich an ein gefährliches, sprungbereites Raubtier. Aber diese Jungs erinnerten sie eher an Tom aus den Tom-&-Jerry-Zeichentrickfilmen, die sie in ihrer Kindheit gesehen hatte – wenn Tom versuchte, wie ein Löwe zu brüllen, und sich stattdessen wie das Kätzchen anhörte, das er war: Roarr, pfft, pfft.
Einer der Vampire machte einen Schritt nach vorn. Die anderen folgten seinem Beispiel.
Als sie anfingen, sich so schnell zu bewegen, dass sie zu Farbklecksen verschwammen, sagte Melanie: »Hey, kennt einer von Ihnen vielleicht Stuart?«
Die Blutsauger erstarrten. Sie wechselten überraschte Blicke und sahen dann zu ihr.
»Stuart?«, fragte ein Blondschopf mit durchdringenden meergrünen Augen.
Sie nickte. »Ungefähr diese Größe.« Sie streckte die Hand aus, um anzuzeigen, dass er mehrere Zentimeter größer war als sie. »Mager. Straßenköterblondes Haar. Großer Tar-Heels-Fan.«
»Alter«, sagte einer von ihnen. »In Wirklichkeit sind sie es selbst, die diesen Stuart kennen.«
»Die kennen ihn nicht«, sagte der Erste. »Die haben ihn umgebracht!«
Mit offenem Mund starrte Melanie die Vampire an. Wie zur Hölle waren sie zu diesem Schluss gekommen?
Die Vampire stürzten sich auf sie.
Bastien und Richart griffen nach den Autoinjektoren und stellten sich ihnen entgegen, während Melanie ihre beiden bereits mit Schalldämpfern versehenen Neun-Millimeter-Pistolen zog. Einem Menschen würde es niemals gelingen, einen Vampir drei Sekunden lang festzuhalten, denn so lange brauchte man, um ihm das Betäubungsmittel zu spritzen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf andere Art zu wehren.
Die beiden Unsterblichen schnappten sich ein paar Vampire und injizierten ihnen die Flüssigkeit, wobei sie ihre Geiseln als Schutzschilde benutzten, um die Angriffe der übrigen Blutsauger abzuwehren.
Plötzlich wirbelten so viele sich blitzschnell bewegende Gestalten um Melanie herum, dass es ihr schwerfiel, Freund und Feind zu unterscheiden. Hinzu kam die Dunkelheit. Wenn die Augen der Vampire nicht so durchdringend geglüht hätten, hätte Melanie Angst gehabt, Richart oder Bastien zu treffen.
Die drei Sekunden kamen ihr vor wie eine Ewigkeit.
Dass sich Richart und Bastien mithilfe der Körper ihrer Kameraden verteidigten, schien die Vampire nicht im Geringsten zu stören. Nur einer von ihnen hielt sich im Hintergrund, doch die anderen kämpften mit einer Inbrunst, die auf Melanie wie purer Irrsinn wirkte: Sie zerstückelten ihre Kameraden förmlich, um an die Unsterblichen heranzukommen.
Der Vampir, der sich zunächst am Rande des Geschehens gehalten hatte, schien plötzlich einen Geistesblitz zu haben und umrundete die Kämpfenden, um Bastien von hinten anzugreifen.
Melanie gab drei Schüsse auf ihn ab, wobei sie auf seinen Körper zielte, damit der Vampir langsamer wurde, aber keine tödliche Verwundung davontrug.
Als er zu Boden ging, hörte einer seiner Kumpane damit auf, seinen Kameraden aufzuschlitzen, um an Richart heranzukommen, und richtete seine Aufmerksamkeit auf Melanie.
Seine blauen Augen blitzten, und er fletschte die Reißzähne.
Melanies Puls raste, sie atmete stoßweise. Angst breitete sich in ihr aus, als der Vampir auf sie zuschoss.
Sie machte ein paar Schritte nach hinten, wobei sie unablässig auf ihren Gegner feuerte. Ihren Instinkten folgend, zielte sie immer auf die Stelle, von der sie annahm, dass er im nächsten Moment dorthin ausweichen würde, wenn er sich duckte.
Bei jedem Treffer zuckte er zusammen.
Bastien ließ den Vampir fallen, zog seine Langschwerter und verschwamm vor ihren Augen.
Melanie wusste nicht, was er mit dem Vampir angestellt hatte, der so erpicht darauf gewesen war, sich auf sie zu stürzen. Alles ging einfach viel zu schnell – sie konnte seinen Bewegungen mit bloßem Auge nicht folgen. Der Vampir landete mehrere Meter entfernt auf dem Boden und begann in Windeseile zusammenzuschrumpfen, als das Virus anfing, ihn von innen aufzufressen.
Eine Sekunde später ließ auch Richart den Blutsauger fallen, den er festgehalten hatte, und stürzte sich auf die drei Angreifer, die ihn belagerten. Bastien hingegen stellte sich schützend vor Melanie und erledigte jeden Vampir, der sich ihnen näherte.
Da sie weiterhin ohne Pause feuerte, waren die Magazine ihrer Neun-Millimeter-Pistolen bereits leer. Die Vampire kämpften wie tollwütige Hunde, aber sie waren nie ausgebildet worden und verfolgten auch keine Strategie. Sie wurden nur angetrieben von dem manischen Wunsch zu beißen und ihre Opfer zu töten.
Der Anblick ließ Melanie innerlich erbeben.
Diese Vampire waren kein Vergleich zu denen, die sie bei Bastiens ehemaligem Unterschlupf angetroffen hatten. Die hier waren schon so lange mit dem Virus infiziert, dass sie vollkommen den Verstand verloren hatten und nur noch von Impulsen gesteuert wurden. Und nun sah sie das Resultat.
Es war ein schneller Kampf, kurz und sehr brutal. Der Anblick war so erschütternd, dass sich Melanie wie ein Blatt im Sturm fühlte.
Schließlich trat vollkommene Stille ein.
Als Melanies warmer Atem auf die eisige Nachtluft traf, bildeten sich weiße Wölkchen vor ihrem Mund. Sie atmete immer noch stoßweise, als wäre sie gesprintet.
Bastien drehte sich zu ihr um und sah sie an. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte. »Meine Hände zittern.«
Nachdem er seine Schwerter weggesteckt hatte, kam er zu ihr und begutachtete sie prüfend von Kopf bis Fuß. »Du bist nicht verletzt?«
»Nicht mehr als ein Kratzer. Und du?«
»Dasselbe.«
Sie sahen sich nach Richart um.
»Diese bescheuerten Bastarde«, sagte er und musterte grimmig den Vampir, den er mit der Droge betäubt hatte. Auch der löste sich inzwischen auf, wie die anderen, die sie getötet hatten. »Sie haben ihn richtiggehend aufgeschlitzt, um an mich heranzukommen.«
»Nicht bescheuert«, korrigierte ihn Bastien. »Eher total wahnsinnig.«
Melanie schob ihre Neun-Millimeter-Pistolen zurück in die Holster und versuchte das Zittern in den Griff zu bekommen. Wenigstens hatte sie dieses Mal keinen Vampir getötet.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Bastien sie noch einmal und stellte sich direkt neben sie. Wo sein schwarzer Mantel mit Vampirblut durchtränkt war, glänzte er wie Satin.
Sie nickte und fragte sich, ob er sie wohl tröstend in den Arm genommen hätte, wenn er nicht so blutverschmiert gewesen wäre.
»Du hast dich gut geschlagen«, lobte er. »Es hat mich an Ami erinnert. Du hast auch die Gabe, vorauszusehen, was sie als Nächstes tun.«
Mit Ami verglichen zu werden war ein großes Kompliment, und noch dazu eins, das sie nicht verdiente. Ami kämpfte fast so gut wie ein Unsterblicher, sowohl mit Feuerwaffen als auch mit Klingen. Keiner der Sekundanten konnte es mit ihr aufnehmen. Selbst ein paar der Unsterblichen hatten keine Chance gegen sie, obschon sie das niemals zugeben würden. »Das liegt daran, dass …«
Irgendetwas traf Melanie an der Brust. Verblüfft runzelte sie die Stirn. Weder Bastien noch Richart hatten sich auch nur einen Millimeter von der Stelle gerührt, soweit sie das sagen konnte. Und selbst wenn – warum sollte ihr einer von den beiden gegen die Brust schlagen?
Sie sah an sich hinunter und entdeckte ein kleines Loch in ihrem Shirt, direkt über ihrem Herzen. Um das Loch herum und darunter breitete sich ein Fleck aus.
Schwerfällig hob Melanie die Hand, um den Fleck zu berühren, und starrte das Blut an, das ihre Finger rot färbte. Als der Schmerz plötzlich heftig durch sie hindurchschoss, sah sie auf und atmete zischend ein. »Bastien?«
Bastien erstarrte zu Stein.
Der Blutgeruch umhüllte Melanie wie eine Wolke, während sich der Fleck auf ihrem Shirt mit alarmierender Geschwindigkeit ausbreitete.
Dann tauchte ein weiteres Loch in ihrer Brust auf, nur wenige Zentimeter neben dem ersten.
Blinzelnd machte sie einen unsicheren Schritt nach hinten.
»Scharfschütze!« Bastien schlang die Arme um sie und wirbelte herum, sodass er dem Schützen den Rücken zudrehte.
Die Knie gaben unter ihr nach.
Eine Kugel traf Bastien in den Rücken, bahnte sich ihren Weg durch sein Fleisch und schlug in Melanies Körper ein.
Fluchend nahm er sie auf die Arme und sprintete in Richtung der Schatten, wobei er blitzschnell um die Ecke des nächstgelegenen Gebäudes bog. »Melanie?«
Sie antwortete nicht.
Er sah auf sie hinunter. Ihre Augen waren geschlossen, und sie war weiß wie ein Laken. Panisch lauschte er auf ihren Herzschlag. Schwach. Unregelmäßig. Und ihre Atmung war ganz flach.
»Richart.« Was aus seinem Mund drang, war kein Ruf. Vielmehr flüsterte er den Namen, da ihm die Angst um Melanie fast die Sprache verschlug. Es lag mindestens zwei Jahrhunderte zurück, seit er zum letzten Mal solche Angst verspürt hatte. Nicht einmal in der Nacht, als Bastien geglaubt hatte, dass Seth ihn umbringen würde, hatte er sich so gefürchtet.
Blitzschnell war Richart an seiner Seite. »Wie geht es ihr?«
Vorsichtig legte Bastien Melanie in seine Arme. »Bring sie zu David. Und wenn er nicht zu Hause ist, dann sieh zu, dass du Seth oder Roland findest.«
Richart nickte. »Was ist mit den Scharfschützen?«
»Ich kümmere mich darum. Mach schnell. Und wenn du zurückkommst, pass auf, dass dich niemand beim Teleportieren sieht. Wir wissen nicht, ob sie dich schon vorher dabei beobachtet haben – vielleicht haben wir Glück, und sie wissen noch nichts von deiner speziellen Begabung.«
Richart packte Melanie fester und nickte kurz. »Mach keinen Blödsinn.«
Wut breitete sich in Bastien aus und verdrängte alles andere. »Ich werde tun, was ich tun muss.«
Mit einem letzten Nicken verschwand Richart.
In diesem Augenblick hörte Bastien, wie jemand etwas durch ein Walkie-Talkie sagte. Der Mann meldete, dass er einen der Gegner unschädlich gemacht hatte, die anderen Ziele aber aus den Augen verloren habe und sie auch nicht mehr hören könne. Bastien hingegen hörte ihn sehr gut. Jedes Wort, das er auffing, bestärkte ihn in seiner Entschlossenheit, diese Bastarde dafür bezahlen zu lassen, dass sie Melanie verletzt hatten.
Es waren ziemlich viele Männer. Sie mussten seit Stunden auf der Lauer liegen. Auf den Dächern hatten sich Scharfschützen in Stellung gebracht. In Bodennähe gab es außerdem Fußsoldaten, die sich hinter vorspringenden Erkern versteckten, hinter Sträuchern und sogar in den verfluchten Mülltonnen lauerten – jederzeit bereit, zuzuschlagen. Sie waren darauf trainiert worden, sich nicht zu bewegen und nicht das geringste Geräusch zu machen, bis sich der Gegner blicken ließ.
Es war reine Glückssache gewesen, dass sich Bastien, Melanie und Richart nicht in die Nähe eines der vielen Gebäude teleportiert hatten, auf dem die Scharfschützen auf der Lauer lagen. Dasselbe Glück, das dafür gesorgt hatte, dass die Schützen wiederum der Aufmerksamkeit der Unsterblichen entgangen waren.
Während sich die Soldaten berieten und nach den übersinnlichen Wesen, die sie jagten, Ausschau hielten, kletterte Bastien mit der Geschmeidigkeit von Spiderman am nächststehenden Gebäude hoch.
Geräuschlos und verstohlen wie eine Katze, gelang es ihm, die ersten Soldaten ausfindig zu machen.
Zwei. In Tarnanzügen. Über Kopf und Haar hatten sie Masken gezogen, ihre Gesichter waren geschwärzt.
Sie knieten auf dem Dach, ihre Waffen hatten sie vor sich auf der erhöhten Zementumgrenzung des Dachs in Stellung gebracht. Rechts und links von ihnen standen dunkle Reisetaschen voller Munition, Waffen und solider Hand- und Fußschellen. Die Reißverschlüsse standen offen, sodass sie jederzeit nachrüsten konnten. Der Soldat zu seiner Linken hatte ein Sturmgewehr, der zur Rechten war mit einem Betäubungsgewehr ausgerüstet. Die Muskeln der beiden Männer waren angespannt, ihre Augen klebten förmlich an den Zielfernrohren ihrer Gewehre, während sie die Schatten nach ihrem Ziel absuchten … das sich in Kürze in ihren Henker verwandeln würde.
Bastiens Blick wanderte zurück zu dem Mann mit dem Sturmgewehr. War er derjenige, der geschossen hatte? Welcher hatte auf Melanie geschossen? Wer hatte sie verwundet? Wer hatte sie vielleicht … könnte sie getötet haben?
Ohne Vorwarnung schlug er zu. Er griff nach den hervorstehenden Gewehrkolben ihrer Waffen und rammte ihnen mit einer schnellen Bewegung die Zielfernrohre in die Augen, sodass sie auf den Rücken fielen. Seine Hände schlossen sich um ihre Kehlen, bevor sie einen Schmerzenslaut von sich geben konnten, und zerquetschte ihnen die Kehlköpfe.
Die beiden Männer krümmten sich vor Schmerzen, ihre Stiefelabsätze hämmerten auf das Dach ein, während sie sich gleichzeitig an die Kehlen griffen. Während sie langsam erstickten, wurden ihre Augen groß. Einer der beiden Bastarde streckte die Hand nach seiner Tasche mit Spielzeug aus. Bastien trat ihm so fest auf das Handgelenk, dass Knochen splitterten. Er riss dem Toten das Walkie-Talkie von der Schulter, drückte den Knopf und pfiff laut hinein. Das Echo war über das gesamte Unigelände zu hören; manchmal näher, manchmal weiter weg. So konnte er die Position jedes Soldaten bestimmen.
»Was zum Teufel war das?«, zischte ein Stimme durch das Walkie-Talkie.
Einen amerikanischen Akzent imitierend, flüsterte Bastien mit vorgetäuschter Dringlichkeit: »Ich sehe sie, Teufel, da sind sie! Sie rasen unglaublich schnell auf das Kenan-Stadion zu. Heilige Scheiße, sind die schnell!«
Hektisch korrigierten die Soldaten ihre Positionen, während sie gleichzeitig das Gelände nach den angeblich flüchtenden Gestalten absuchten.
»Auf Position bleiben! Auf Position bleiben!«, befahl eine Stimme, halb ein Flüstern, halb ein Schrei. »Wer zum Teufel war das? War das Charlie?«
Bastien ließ das Walkie-Talkie fallen.
»Nein, Sir. Das war ich nicht.«
»Na ja, egal, wer es auch war, haltet verflucht noch mal die Klappe! Ihr alle – hört verdammt noch mal auf, euch zu bewegen. Die werden uns hören!«
Zu spät.
Bastien machte ein paar Schritte nach hinten, nahm Anlauf und sprang von der Kante. Wie viele Meter es waren, hätte er unmöglich sagen können – immerhin landete er auf dem nächsten Dach.
Bei so weiten Sprüngen war eine geräuschlose Landung unmöglich, aber das war ihm egal. Die Soldaten, die dort zusammengekauert saßen, hatte er schon am Wickel, bevor sie sich auch nur zu ihm umdrehen konnten. Schnell brach er ihnen das Genick und hechtete dann mit einem kühnen Sprung auf das Dach des nächsten Gebäudes. Zwei weitere Söldner fluchten laut und wirbelten herum. Einer feuerte einen Betäubungspfeil auf ihn ab, aber Bastien fing ihn aus der Luft und schleuderte ihn zurück, sodass der Bastard wie ein Sack nasser Steine zu Boden ging. Der andere fing zu schreien an, verstummte aber abrupt, als Bastien auch ihm das Genick brach. Ohne eine Sekunde innezuhalten, beschleunigte er wieder und sprang mit einem Satz auf das nächste Dach. Dort erledigte er zwei weitere Soldaten. Auf einem weiteren Dach waren es noch mal drei.
Als er das nächste Dach mit zwei Scharfschützen erreichte, kam er unvermittelt zum Stehen. Der Gewehrlauf des einen Söldners war noch warm, und an den Händen des Mannes konnte er den ätzenden Geruch von Schießpulver wahrnehmen.
In diesem Moment begriff Bastien zum ersten Mal wirklich, wie sich die Vampire während ihrer psychotischen Anfälle fühlten, wenn die Wut übermächtig wurde und innerhalb von Sekundenbruchteilen die Kontrolle über ihre Körper übernahm.
Das hier war der Mann, der auf Melanie geschossen hatte.
Ohne den geringsten Gewissensbiss brach er seinem Kameraden das Genick. Dann richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf den Schützen, der Melanie verwundet hatte.
Dieser Mann hatte ihr große Schmerzen bereitet. Jetzt würde er erfahren, wie das war.
Mit einer schnellen Bewegung schlug er ihm die Waffe aus der Hand, umfasste mit der anderen seine Kehle und riss ihn nach oben, sodass er sechzig Zentimeter über dem Boden baumelte.
In den weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen des Soldaten konnte Bastien die Spiegelung seiner eigenen, gelbbraun glühenden Augen sehen. Knurrend entblößte er die Reißzähne.
Der Soldat wimmerte und pinkelte sich in die Hose.
Bastien riss ihm das Walkie-Talkie von der Schulter und warf es weit hinaus in das verdammte Fußballstadion.
»Du hast auf meine Liebste geschossen«, schnarrte er grimmig.
Die Augen des Mannes wurden noch größer, falls das überhaupt möglich war. Seine Finger umklammerten Bastiens Hand, während er keuchend nach Luft schnappte.
»Du wirst langsam und qualvoll sterben.«
Die Hand des Soldaten löste sich von seiner Kehle und wanderte nach unten.
Etwas Scharfes bohrte sich in Bastiens Brust. Er sah an sich hinunter. Dieser bescheuerte Blödmann hatte ihm ein Messer in die Brust gerammt.
Ihre Blicke trafen sich, und Bastien registrierte das triumphierende Glänzen in den Augen seines Gegners. »Glaubst du wirklich, dass es so leicht ist, mir wehzutun?«, fragt er grimmig.
Die Angst kam zurück, so heftig, dass Bastien sie an seinem Gegner riechen konnte.
Er legte die Finger um die Hand des Soldaten, die immer noch den Messergriff umklammerte, und zog sich bedächtig das Messer aus der Brust. Dann hielt er es in die Höhe. »Das wird dir noch leidtun.«