17
Ami führte Seth, David und Marcus durch den dichten Wald, indem sie den unverwechselbaren Energiesignaturen von Cliff und Joe folgte.
»Es fühlt sich jetzt anders an«, sagte sie leise. »Ich meine, die Energie, die sie ausstrahlen. Sie ist nicht mehr so stark. Aber sie sind es. Da bin ich mir sicher. Ich glaube, man hat sie betäubt.«
»Du kannst sie immer noch finden?«, fragte Marcus.
»Ja. Es dauert nur etwas länger.«
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Seth sie. »Wir haben genug Zeit.«
Sie ging weiter und führte sie durch den Wald und kahles Gestrüpp. Über ihren Köpfen schlugen die nackten Zweige der Bäume gegeneinander, denen der Winter das Blattwerk geraubt hatte.
Seth folgte Ami dichtauf, und David ging an seiner Seite. Marcus umklammerte Amis Hand und beobachtete mit Adleraugen alles, was um sie herum vorging.
Plötzlich blieb Ami stehen, zog ihre Pistole und sah dann am Lauf entlang, wobei sie mit drei Fingern auf ihren Arm klopfte und nach vorn und rechts deutete.
Sie gingen langsamer.
David warf einen Blick durch die Wärmebildbrille und überprüfte die Bäume und den Boden direkt vor ihnen.
Marcus blieb stehen und bedeutete Ami dassselbe. Den Blick auf den Boden gerichtet, machte er zwei Schritte nach vorn und ging dann auf die Knie.
Seth und die anderen sahen in die Richtung, in die er zeigte, und bemerkten im toten Laub den Stolperdraht einer versteckten Landmine.
Sie waren ganz nah dran.
Wartet hier, befahl Seth.
Vorsichtig ging er weiter, bis er eine Lücke zwischen den Bäumen entdeckte, die groß genug war, um sich zu verwandeln und vom Boden abzuheben.
Das Anwesen, das etwa anderthalb Kilometer entfernt lag, ähnelte in geradezu gespenstischer Weise der von ihm und David zerstörten Niederlassung in Texas. Ein unauffälliges, dreistöckiges Gebäude mit nur wenigen Fenstern, das mitten auf einer großen Lichtung stand. Der große Parkplatz vor dem Gebäude war vollgestellt mit Fahrzeugen, die den schwarzen Asphalt mit weißen Streifen sprenkelten.
Hinter dem Gebäude standen in zwei Reihen schmale Holzschuppen, und er hatte mal gehört, wie jemand vergleichbare Konstruktionen als Taubenschlag oder Baracke bezeichnet hatte. Lebten dort die Söldner?
Zumindest die, die keine Familie hatten. Diejenigen mit Familien lebten wahrscheinlich in den nahe gelegenen Kleinstädten. Darnell würde jeden von ihnen aufspüren müssen, damit Seth sie entweder töten oder ihre Erinnerungen auslöschen konnte – das hing davon ab, was und wie viel sie wussten.
Am hinteren Ende der Lichtung gab es zwei Fahrzeughallen, die beide ungefähr gleich groß waren und über Kuppeldächer verfügten. Die Türen der beiden Hangars standen offen, sodass Seth ein paar Black-Hawk-Helikopter sehen konnte, die in dem einen Hangar untergebracht waren. Die andere hell erleuchtete Halle beherbergte ein paar gepanzerte Fahrzeuge, die von mehreren geschäftigen Söldnern gewartet wurden. Ansonsten war die Halle ziemlich leer; vermutlich hatten dort die Fahrzeuge gestanden, die sie beim Angriff auf das Netzwerk verloren hatten.
Unweit des neuen Hauptquartiers hatte Chris gerade erst ein ähnliches Gebäude errichten lassen, in dem jetzt die Fahrzeuge untergebracht waren, die Seth gerettet hatte. Chris’ geniale Mechaniker hatten Tag und Nacht daran gearbeitet, während die Militärveteranen, die beim Netzwerk angestellt waren, praktisch vor Vorfreude sabberten, sich endlich wieder hinters Steuer klemmen zu dürfen.
Und in dieser Nacht war es so weit. Drei gepanzerte Mannschaftstransportwagen hielten sich in sieben Kilometern Entfernung versteckt. Falls sie gebraucht wurden, würden sie den Hauptweg entlangfahren und die offizielle Zufahrt zum Gebäude nehmen müssen, um weitere Landminen zu meiden, die die Söldner möglicherweise auf dem Gelände rund um den Stützpunkt platziert hatten.
Bei der Zufahrtsstraße zum Grundstück handelte es sich um ein zweispuriges Sträßchen, das genau wie der Parkplatz schwarz asphaltiert war und die Winterlandschaft in zwei Hälften schnitt. Jeder Besucher war gezwungen, diese Straße, die den einzigen Zugang zum Grundstück darstellte, zu nehmen, wobei er gleichzeitig die Wachtposten mit den Automatikwaffen passieren musste, die das Eingangstor bewachten. Ebendiese Wachen marschierten mit steifen Gliedern in der Kälte auf und ab, die Schultern hochgezogen und die Hände in den Taschen ihrer gefütterten Jacken vergraben. Sie waren garantiert genau so durchgefroren wie der Boden unter ihren Stiefeln und ihr Atem, der vor ihren Gesichtern zu weißen Wölkchen kondensierte.
Weitere Soldaten patrouillierten an dem Stacheldrahtzaun, der das gesamte Gelände umgab.
Seth glitt über das Gelände hinweg, kehrte dann um und flog den Weg wieder zurück, den er gekommen war. Einer der Wachen am Zaun sah zu ihm hinauf und bewunderte die gigantische Eule, die da über ihn hinwegglitt.
An den Dächern und an einigen Zaunpfählen waren Überwachungskameras angebracht, deren rot leuchtende Lämpchen und leises Summen keine Zweifel daran ließen, dass sie in Betrieb waren.
Seth gesellte sich erneut zu Ami, David und Marcus. Sie gingen zurück zu den übrigen Unsterblichen und Chris Reordon, der sie ungeduldig unter den Bäumen erwartete. Nachdem Seth sich einen von Chris’ allgegenwärtigen Notizblöcken geborgt hatte, zeichnete er einen groben Lageplan, auf dem er die Standorte der Wachtposten und die Positionen der Landminen markierte, die er gesehen hatte.
Ami, Sarah, Melanie und Lisette stellten sich nach vorn, und die Männer spähten über ihre Schultern, damit alle die Karte sehen konnten.
»Nach den Herztönen zu urteilen, gehe ich davon aus, dass die Vampire hier festgehalten werden.« Mit dem Bleistift zeigte Seth auf einen Punkt im Hauptgebäude.
Chris nahm Bleistift und Block wieder entgegen, nachdem alle sich den hastig erstellten Lageplan eingeprägt hatten. »Es tut mir leid, dass ich euch keine Live-Satellitenbilder besorgen konnte, aber meine Kontakte in den Agenturen arbeiten dort noch nicht lange genug, um an diese Art von Informationen heranzukommen. Außerdem hielt ich es für keine gute Idee, sie mit einzubeziehen … Schließlich wissen wir nicht, ob Emrys nicht genau diese Art von Vorgängen bei den Agenturen im Auge behält. Sein Einfluss reicht ziemlich weit, und möglicherweise wäre er vorgewarnt gewesen, wenn wir uns Satellitenbilder besorgt hätten.«
»Ich verstehe«, sagte Seth. »David und ich werden das Hauptgebäude als Erste betreten. Bastien – du und Melanie, ihr seid als Nächste an der Reihe. Tötet so viele Söldner, wie ihr könnt, aber konzentriert euch in erster Linie darauf, die Vampire so schnell wie möglich zu finden. Marcus, danach folgst du zusammen mit Ami. Ami, ich möchte, dass du dich auf die Energiesignaturen derjenigen konzentrierst, die auch in der Niederlassung in Texas waren. Sobald du Emrys findest, gib mir sofort Bescheid.«
Marcus’ Augen fingen an, wütend zu leuchten, als er an die Schmerzen dachte, die er diesem Mann zufügen würde.
»Marcus, halte dich bitte zurück. Ich möchte nicht, dass Emrys schnell stirbt. Entwaffne und fessle ihn, und dann ruf mich.«
Als Marcus zögerte, wiederholte Seth seine Bitte auf telepathischem Weg: Ich möchte, dass Emrys für das, was er getan hat, leidet.
Marcus nickte kurz.
»Yuri und Stanislav – ihr beide sorgt dafür, dass die Helikopter flugunfähig sind.«
Chris hob einen Finger. »Wenn ihr das hinkriegt, ohne sie zu zerstören, wäre das super. Es ist nicht einfach, an einen Militärhubschrauber heranzukommen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Na toll, dann macht es ja nur noch halb so viel Spaß«, grummelte Stanislav, »aber wir werden es versuchen.«
Seth lächelte. »Und wenn ihr mit den Helis fertig seid, kümmert ihr euch um die gepanzerten Mannschaftswagen in der anderen Fahrzeughalle. Ethan – du und Edward, ihr macht die Wachen unschädlich, die das Grundstück bewachen, und stellt sicher, dass niemand hineinkommt oder flieht. Lisette und Étienne, ihr beiden nehmt euch die Baracken vor. Lest die Gedanken der Söldner, bevor ihr sie tötet. Wenn ihr sie für gute Menschen haltet, dann schlagt sie bewusstlos und fesselt sie. Vielleicht können wir sie rekrutieren. Wenn nicht, löschen wir ihre Erinnerungen.«
Die Geschwister nickten.
»Und du Richart, machst einfach das, was du am besten kannst. Du verursachst mehr Chaos und Panik unter unseren Feinden als jeder andere von uns.«
Richart grinste und salutierte scherzhaft.
Roland knurrte. »Du hast mich und Sarah vergessen.«
Aber Seth schüttelte den Kopf. »Du und Sarah, ihr beide könnt kämpfen, wo ihr wollt, allerdings wäre es mir lieb, wenn ihr mit uns in das Gebäude gehen würdet. Ich habe dort sehr viele Herzen schlagen hören, als ich darüber hinweggeflogen bin, deshalb gehe ich davon aus, dass sich der Hauptanteil der Soldaten im Haus aufhält.«
Roland und Sarah nickten.
Chris hob wieder einen Finger. »Sobald ich das Zeichen gebe, wird mein technisches Team alle ausgehenden Anrufe blockieren, allerdings funktioniert das nur bei den Handys und nicht bei den Satellitentelefonen. Wenn ihr mitbekommt, dass jemand nach draußen telefoniert, dann schaltet den Anrufer aus, ohne das Telefon zu zerstören, damit wir feststellen können, wen sie angerufen haben.«
Alle nickten.
»In Ordnung«, sagte Seth. »Weiß jeder, was er zu tun hat?«
Wieder nickten alle.
»Dann erinnere ich euch ein letztes Mal daran: Gebt alles, um zu verhindern, dass Emrys Ami in seine Gewalt bekommt.«
Mit gerunzelter Stirn musterte Ami die Krieger, die im Kreis um sie herum standen. »Es tut mir leid.«
Mehrere große Hände klopften ihr voller Zuneigung auf die Schultern und auf den Rücken.
»Du bist unsere Schwester«, sagte Étienne. »Und wir beschützen unsere Familie.«
Als Ami die Unsterblichen anlächelte, glänzten ihre Augen verdächtig.
Seth wusste, dass sie große Angst hatte. Sie war dabei, die sprichwörtliche Höhle des Löwen zu betreten. Den Ort, an dem die Monster lebten, die sie sechs Monate lang gefoltert und dabei fast in den Wahnsinn getrieben hätten.
Er nickte Chris zu. »Mach deinen Anruf.«
Chris rief bei den Technikern an. Sobald er aufgelegt hatte, führte Seth die Unsterblichen in den Kampf.
Melanies Herz klopfte so laut, dass sie fürchtete, dass es ihren Brustkorb sprengen würde.
Seth und David bewegten sich mit unglaublicher Schnelligkeit. Roland und Sarah blieben ihnen auf den Fersen. Melanie strengte sich an, um mit ihnen Schritt zu halten, und schaffte das auch … musste aber dann feststellen, dass Bastien und die anderen zurückblieben. Bastien hatte recht gehabt. Dadurch, dass Roland sie verwandelt hatte, hatte der tausend Jahre alte Unsterbliche etwas von seiner Stärke und Schnelligkeit auf sie übertragen.
Sie ließ sich zurückfallen, um zusammen mit Bastien und den d’Alençons zum Anwesen zu rennen. Hinter ihnen kamen Ethan und Edward, und Marcus und Ami bildeten die Nachhut.
Ami lief nur etwas schneller als ein Mensch. Marcus hätte sie zwar tragen und mit Seth mithalten können, aber Melanie nahm an, dass er hoffte, dass die Gefahr für sie geringer war, wenn sie es den anderen überließen, den Weg freizukämpfen.
Die Unsterblichen setzten über den Stacheldrahtzaun.
Auch wenn sie Todesängste ausstand, musste Melanie unwillkürlich lächeln, als sie mit großer Leichtigkeit über den sechs Meter hohen Zaun sprang. Ihr Herz klopfte wie wild, während sie durch die Luft flog und geschmeidig auf der anderen Seite landete. Sie musste kaum die Knie beugen, und ihre Gelenke machten ebenfalls keine Probleme. Kaum dass sie gelandet war, flitzte sie auch schon wieder los.
Seth und David hatten die Vordertür des Hauptgebäudes schon eingerannt, bevor die Wachen am Zaun und am Eingangstor überhaupt wussten, was los war. Wobei das mit Einrennen wörtlich zu nehmen war. Keiner von beiden blieb stehen, um die Tür zu öffnen. Sie brachen einfach durch das schwere Glas, was zur Folge hatte, dass der Metallrahmen sich nach innen bog, sodass es aussah, als wäre die Tür implodiert.
Melanie folgte ihnen und blieb direkt hinter der Tür stehen, unter ihren Stiefeln knirschten Glassplitter. Bastien bremste ebenfalls ab.
Es gab drei Flure. Seth rannte den rechten hinunter. David hatte sich für den linken entschieden. In den Tiefen des Hauses wurden Rufe laut, gefolgt von Schmerzensschreien, als die beiden älteren Unsterblichen anfingen, ihre Feinde zu töten. Pistolenschüsse krachten. Irgendetwas ging zu Bruch. Dieselben Geräusche drangen von draußen zu ihnen herein.
»Wohin?«, fragte sie.
Nach dem Lageplan von Seth zu urteilen, waren die Vampire entweder am Ende des mittleren oder des linken Flurs.
»Cliff! Joe!«, rief Bastien.
Aber Melanie hörte nichts außer den panischen Rufen der Söldner.
»Lass es uns mit dem mittleren Flur versuchen«, schlug er grimmig vor und sauste los.
Sie wusste, was er dachte, denn sie hatte den gleichen Gedanken gehabt: Wenn die Vampire nicht betäubt worden waren, dann konnte die Tatsache, dass sie nicht antworteten, nur bedeuten, dass sie tot waren.
Männer in Tarnanzügen strömten mit erhobenen Waffen in den Korridor. Bastien duckte sich mal in die eine und mal in die andere Richtung, um den Kugeln und Betäubungspfeilen auszuweichen, die in ihre Richtung flogen. Während sie ihre Waffen zog, versuchte Melanie, es ihm nachzutun, aber leider hatte sie nicht so viel Übung wie er. Sie bekam zwei Schüsse in die Brust, die von ihrer schusssicheren Weste aufgehalten wurden. Wenig später bohrte sich ein Pfeil in ihre Kevlar-Weste. Ein weiterer traf sie am Arm.
Sie steckte die Sig zurück in das Holster und zog einen der Autoinjektoren mit grüner Verschlusskappe aus der Hosentasche. Lethargie breitete sich in ihren Gliedern aus, als sie die Kappe löste. Sie hob die andere Sig und feuerte auf die Soldaten, während sie den Injektor gegen ihren Oberschenkel presste.
Männer gingen zu Boden. So viele, dass sie nicht mehr mitzählen konnte. Wenn diese Männer nicht alles Menschenmögliche getan hätten, um sie zu töten, wäre sie vielleicht nicht in der Lage gewesen, ihnen wehzutun. Immerhin war sie Ärztin. Jemand, der Menschen heilte. Der Wunden versorgte, nicht verursachte.
Zumindest nicht bis zu diesem Tag.
Neue Energie strömte in ihre Körperglieder und verdrängte die Benommenheit.
Mit hoher Geschwindigkeit flitzte sie von Soldat zu Soldat und betäubte die Männer, statt sie zu töten. Sie redete sich ein, dass sie es tat, damit Seth ihre Gedanken lesen und Informationen aus ihnen herausbekommen konnte, aber sie wusste, dass sie in Wahrheit mehr Zeit brauchte, um sich daran zu gewöhnen, einen Menschen zu töten. Ein paar dieser Männer waren möglicherweise nichts als unschuldige Narren. Andere wiederum genossen es womöglich, Emrys’ Befehlen zu folgen, gegen seine Feinde zu kämpfen und ihnen Schmerzen zuzufügen. Aber sie wusste nicht, wer zu welcher Kategorie gehörte, und es gefiel ihr nicht, einen Menschen nur auf einen Verdacht hin zu töten.
Die Männer, die sie betäubte, wehrten sich ausnahmslos. Melanie war entsetzt, wie leicht es ihr fiel, sie zu entwaffnen und zu fesseln.
Sie spürte Bastiens Blick und wusste, dass er sie im Auge behielt. »Alles prima!«, rief sie ihm zu, erst dann fiel ihr ein, dass sie nicht die Stimme heben musste. Obwohl von draußen die Geräusche von Schüssen und einer Explosion hereindrangen – die Explosion zerstörte die Glastüren des Vordereingangs komplett –, konnten sie einander problemlos hören, wenn sie in normaler Lautstärke miteinander sprachen.
»Alles prima«, wiederholte sie. Sie wich ein paar Schüssen aus, indem sie sich duckte, ließ einen weiteren bewusstlosen Soldaten zu Boden fallen und stürzte sich auf den nächsten.
Noch nie in seinem Leben hatte Bastien so viel Angst gehabt. Am liebsten hätte er Melanie gesagt, dass sie aufhören sollte, diese Arschlöcher zu betäuben, um sie stattdessen zu töten. Das ging sehr viel schneller und war nur halb so riskant.
Andererseits kannte er Melanie. Und obwohl sie nichts gesagt hatte, wusste er, dass es ihr schwerfiel, jemanden zu töten.
Teufel noch mal, am Anfang war ihm das auch nicht leichtgefallen. Es war schon schwer gewesen, als er noch ein Sterblicher gewesen war und in Napoleons …
Als ihn zwei Kugeln am Arm und an der Schulter trafen, fluchte er. Er schlug dem Schützen die Waffe aus der Hand, schleuderte zwei Dolche in seine Richtung und stürzte sich auf den nächsten Feind, während der Schütze hinter ihm zu Boden ging.
Nein, einen Menschen zu töten war nicht einfach. Er hatte gehört, dass Sarah am ganzen Leib zitterte, nachdem sie ein paar Vampire getötet hatte, auch wenn sie es mit erstaunlicher Zweckmäßigkeit erledigte. Und Sarah jagte nun schon seit ein paar Jahren Vampire.
Er sah, wie Melanie zusammenzuckte und Blut aus einer Wunde in ihrem Oberschenkel quoll.
Die Schmerzen waren noch so eine Sache, an die sie sich würde gewöhnen müssen. Auch wenn ihm das nicht gefiel. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn sie für den Rest ihrer langen – und sie sollte wirklich lang sein – Existenz nie mehr als einen oberflächlichen Kratzer erleiden musste.
Er hörte sie laut fluchen.
Bastien musste lächeln.
Bisher hatte er sie nur sehr selten fluchen gehört, deshalb amüsierte es ihn jetzt.
Als sie ihn hörte, warf sie ihm einen Blick zu und erwiderte sein Lächeln. »Das tut ganz schön weh!«
»Ich verwöhne dich nachher und mach es wieder gut«, versprach er.
Ihre schönen Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, während sie einen weiteren Söldner betäubte.
Danach ließ sie den letzten Autoinjektor fallen und zog die beiden Sigs.
Das musste ihr letzter Betäubungspfeil gewesen sein.
Noch mehr Männer strömten in den Korridor.
War da eine Cafeteria am Ende des Flurs, oder wo kamen die alle her?
Melanie und Bastien stellten sich Rücken an Rücken. Er schlitzte die Gegner mit seinen Dolchen auf, während sie die Männer mit ihren Neun-Millimeter-Pistolen niederstreckte.
Draußen war eine zweite Explosion zu hören. Dann eine dritte. Und eine vierte.
Bastien und Melanie stiegen über die Leichen hinweg und bahnten sich den Weg bis zur ersten Tür, die vom Flur abging.
Bastien warf einen Blick durch die Öffnung. Unglaublich. Es war eine Cafeteria.
Sie durchquerten den Raum, um zu der Tür auf der gegenüberliegenden Seite zu gelangen, wo Melanie einen Blick in den angrenzenden Raum warf. »Trainingsraum«, sagte sie.
Na toll.
War in den Baracken auch nur eine einzige Menschenseele, damit Lisette und Étienne auch was zu tun hatten?
Plötzlich zuckte Melanie wieder zusammen. In ihren Klamotten klafften zwei Löcher, das eine an ihrer Hüfte, das andere an ihrer Taille, direkt unter der schusssicheren Weste. Ihre Cargohose war blitzschnell blutgetränkt.
Bastien fluchte.
»Der gehört mir«, stieß Melanie zähneknirschend hervor und schoss dem Angreifer in den Kopf, wobei ihre Augen vor Schmerz und Wut hell aufblitzten.
Bastien baute sich neben ihr auf.
»Es geht mir gut«, knurrte sie.
Aber das stimmte nicht. Zu viele Verletzungen verlangsamten den Heilungsprozess. Und sie hinkte ziemlich heftig.
Die Söldner spürten sofort ihre Schwäche und drehten sich zu ihr um wie Haie, die von einem blutigen Köder angelockt wurden
»Richart!«, rief Bastien und sprang schützend vor Melanie, als die Männer das Feuer auf sie eröffneten.
Er fing sich ein halbes Dutzend Kugeln ein, während er die Dolche fallen ließ und die beiden japanischen Langschwerter zog, durch die Luft wirbelte und mit schnellen Bewegungen Köpfe, Körperglieder und Arterien durchtrennte.
Mit blitzenden Klingen tauchte Richart plötzlich inmitten der Söldner auf. Sobald ihn diejenigen bemerkten, die noch nicht seinem Überraschungsangriff zum Opfer gefallen waren, löste er sich in Luft auf und materialisierte sich in kurzer Entfernung.
Wieder und wieder tauchte er urplötzlich zwischen den Soldaten auf und versetzte sie in Angst und Schrecken. Blitzschnell mähte er seine Feinde nieder, während Melanies Pistolen und Bastiens Schwerter ebenfalls vielen Gegnern das Leben kostete.
Der letzte Mann ging zu Boden.
Die drei Unsterblichen wirbelten herum, um die Tür zum Korridor im Auge zu behalten.
Aber niemand kam hereingestürmt, um seinen Kameraden zu Hilfe zu kommen. Die anderen Soldaten schienen in den übrigen Fluren beschäftigt zu sein.
Bastiens Schultern sackten nach vorn. Sein Körper war übersät von Schusswunden, und er drehte sich zu Melanie um.
Die frischgebackene Unsterbliche atmete stoßweise und suchte Halt an der Wand. Mit einem Nicken signalisierte sie ihm, dass alles in Ordnung war. »Ich muss mich einfach nur dran gewöhnen«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Diese höllischen Schmerzen. Daran bin ich einfach nicht gewöhnt.«
Richart schüttelte etwas Blut von seinen Klingen. »Ich brauchte ein Jahrhundert, um damit zurechtzukommen. Du solltest Blut zu dir nehmen, dann geht’s dir wieder besser.«
Melanie schüttelte den Kopf. Seit ihrer Verwandlung hatte sie nur Blutkonserven zu sich genommen. Bis jetzt hatte sie es vermeiden können, von einem Sterblichen zu trinken. Und selbst wenn man das nicht direkt als »trinken« bezeichnen konnte, wurde ihr allein bei der Vorstellung übel, das Blut eines Menschen in sich aufzunehmen.
Oder war die Übelkeit nur das Resultat ihrer Verletzung?
Wie auch immer … »Wir müssen Cliff und Joe finden. Danach werde ich etwas trinken.« Und zwar eine Blutkonserve in Davids Haus.
Richart wechselte einen Blick mit Bastien.
Das ärgerte sie. Schließlich war es ihre Entscheidung.
Bastien nickte.
Stirnrunzelnd betrachtete Melanie die Löcher in der Vorderseite seines Shirts. »Brauchst du Blut?«
»Später. Zuerst suchen wir Cliff und Joe.«
Das Fundament des Gebäudes fing plötzlich an zu zittern, draußen war ein lautes grollendes Geräusch zu hören. Die Wände bebten und bekamen Risse.
Die drei Unsterblichen hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten und den Gesteinsbrocken auszuweichen, die von der Decke auf sie herunterstürzten.
»War das eine Bombe?«, fragte Melanie und spähte zum vorderen Teil des Gebäudes. Sie hatte keinen Lichtblitz gesehen.
Bastien schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Seth hat Emrys gefunden.«
Amis Herz klopfte so unregelmäßig, dass sie Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte. Sie stand in der Tür und starrte in das Innere des Zimmers. Ihr Blick war nicht auf den Vampir gerichtet, der mit Stahlringen auf dem Tisch fixiert war, sondern auf die beiden Männer, die sich über ihn beugten.
Ihre Füße schienen am Boden festzukleben. Sie fing an, am ganzen Körper zu zittern.
»Ami?« Marcus trat neben sie und legte ihr eine Hand auf den Rücken.
Sie war unfähig, ihre Zunge zu bewegen und etwas zu sagen. Oder die Schreie zum Schweigen zu bringen, die durch ihren Kopf hallten.
Marcus, dessen Hand sich unwillkürlich zur Faust ballte, verkrampfte sich im Stoff ihres T-Shirts.
Angst und Hass und erinnerter Schmerz mussten die Grenzen ihres Geists überwunden haben, sodass ihn ihre Schreie durch den mentalen Tunnel erreichten, über den sie mit ihm kommunizierte.
Plötzlich fing das Fundament unter ihren Füßen an zu beben. Draußen war lautes Donnergrollen zu hören.
Seth musste die Schreie ebenfalls gehört haben. Und David. Sie hörte, wie Letzterer irgendwo im Gebäude einen Wutschrei ausstieß.
Eine Brise traf sie, als die beiden Unsterblichen hinter sie traten.
»Ist er das?«, fragte Seth.
Ja.
»Welcher?«, wollte Marcus wissen.
Sie waren beide da. In Texas. Diese beiden Männer haben mich gefoltert.
Seth knurrte und schob Marcus zur Seite. In einem Sekundenbruchteil hatte er den Raum durchquert und presste den älteren der beiden Männer gegen die Wand. Die Füße des Mannes baumelten in der Luft, und Seth hatte ihm ein Messer gegen die Kehle gedrückt. »Mr Emrys, nehme ich an?«
Marcus schoss vorwärts und stürzte sich auf den anderen Mann, bevor David ihm zuvorkommen konnte. Sein Opfer holte mit einer Knochensäge aus. Marcus schlug ihm die Säge aus der Hand, packte ihn an der Kehle und drehte ihn um, sodass der Mann rückwärts gegen Marcus’ Brust gedrückt wurde. Ein Dolch tauchte in der Hand des Unsterblichen auf und bohrte sich in die Kehle des Mannes.
David berührte Ami am Rücken.
Sie zwang sich, tief einzuatmen, und machte einen unsicheren Schritt nach vorn. Dann noch einen. Und noch einen. So lange, bis sie in die Augen des Mannes sehen konnte, den Marcus festhielt. Er war nur wenige Zentimeter größer als sie. Dickbäuchig. Blass.
»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte sie und legte all ihren tief empfundenen Hass in die Worte.
»Nein«, log er mit hoher, angespannter Stimme.
»Das werden Sie noch, keine Sorge«, versprach sie ihm.
Bastien rannte hinter Melanie her, wobei er die Tatsache verfluchte, dass sie schneller war als er. Als er schlitternd neben ihr zum Stehen kam, standen sie in der Tür zu einem Raum, der aussah wie ein Operationssaal mit einer verglasten Besuchergalerie. Von hier aus konnte man den Raum überschauen.
Seth hatte einem Sterblichen ein Messer an die Kehle gesetzt und übte dabei genug Druck aus, sodass sich der Mann vor Angst in die Hosen pinkelte.
Marcus drückte einen anderen Mann gegen seine Brust, während Ami mit ihm sprach.
Mit einem entsetzten Aufschrei eilte Melanie zu der Gestalt auf dem Operationstisch. Cliffs nackte Haut war überzogen mit getrocknetem Blut, das von den zahllosen Wunden stammte, mit denen sein Körper übersät war. Mehrere Dutzend davon waren nicht geheilt und bluteten. Seine Augen waren geschlossen.
Melanie beugte sich über ihn und streichelte ihm über die Rastazöpfe. Tränen quollen unter ihren Augenlidern hervor und fielen auf Cliffs Stirn und seine Wangen. »Cliff?«
»Wie öffnet man die Stahlschellen?«, fragte Bastien die beiden Männer.
Seth rammte sein Opfer gegen die Wand. »Antworten Sie ihm.«
Der Mann presste die Lippen aufeinander.
Seth bedachte ihn mit einem unheilvollen Lächeln.
Jetzt versuchte der Kerl nicht mehr, Seth’ Hand von seiner Kehle wegzuziehen, sondern griff sich stattdessen an den Kopf. Schmerz zeichnete sein Gesicht.
Seth drehte sich zu Melanie um. »An der Unterseite des Tisches sind mehrere Knöpfe, mit denen man die Schellen öffnen und schließen kann.«
Bastien fand die Knöpfe und drückte sie.
»Alles wird gut, Cliff«, flüsterte sie. »Wir bringen dich nach Hause.«
Bastien nahm den jungen Vampir auf die Arme. Während Melanie vorausging zum Flur, sah Bastien auf seinen Freund hinunter.
Cliffs Augenlider hoben sich ein ganz klein wenig. Gerade genug, dass seine schläfrigen, leuchtenden Augen sichtbar wurden, die ihn anstarrten, ohne ihn zu erkennen.
In seinen Augen glitzerte Wahnsinn.
Dann verlor der Vampir wieder das Bewusstsein.
Bastien schluckte schwer und kämpfte gegen die Trauer und die Angst an, die in ihm aufstiegen. Der Wahnsinn konnte Cliff noch nicht bezwungen haben – dafür war es noch zu früh. Sie brauchten mehr Zeit. Und hätten sie auch gehabt, wenn er nicht gefoltert worden wäre.
Aufgebracht drehte sich Bastien zu Seth herum.
Wir kriegen das schon hin, versprach ihm Seth, in dessen hellgolden leuchtenden Augen Anteilnahme lag.
Bastien nickte und folgte Melanie hinaus in den Flur.
Seth wirbelte herum und knallte Emrys mit dem Rücken zuerst so heftig auf den Stahltisch, dass ihm die Luft aus der Lunge gedrückt wurde.
Emrys stieß einen Schrei aus.
David machte eine Geste. Die Stahlringe schlossen sich um die Arme und Beine ihres Feinds.
»Ich werde euch reich machen!«, kreischte Emrys. »Ich sorge dafür, dass wir alle steinreich werden!«
Seth’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das selbst Bastien erschaudern ließ. »Und ich sorge dafür, dass Sie vor Schmerz schreien.«
Der Mann fing an, um Hilfe zu rufen.
Aber niemand würde kommen.
Ami trat an den OP-Tisch.
Bevor sich die Tür wie von Geisterhand schloss, sah Bastien, wie sie die Hand nach dem Skalpell ausstreckte.
»Dr. Lipton.«
Melanie wandte sich von der Tür ab, hinter der laute Schreie gellten.
Die drei französischen Unsterblichen musterten sie mit ernsten Gesichtern.
»Melanie«, korrigierte sie mechanisch. Sie hatte immer noch Schmerzen und war verstört von den Ereignissen der Nacht.
»Wir haben Joe gefunden«, erklärte Richart. Sein sanfter Tonfall warnte sie vor dem, was er als Nächstes sagen würde.
Lisette machte einen Schritt auf sie zu und berührte sie am Arm. »Er ist bewusstlos. Aber … der Wahnsinn hat die Kontrolle über seine Gedanken übernommen.«
Étienne nickte voller Anteilnahme. »Nichts als die Rasereien eines Wahnsinnigen.«
Melanie starrte durch sie hindurch. Sie konnte das nicht. All dieser Schmerz und Tod um sie herum …
Den Gedanken, Joe in dieser Nacht zu verlieren, ertrug sie einfach nicht. Sie konnte nicht ruhig danebenstehen, während Bastien sein Langschwert zog und ausholte. Konnte nicht mit ansehen, wie sein Kopf von seinem Körper getrennt wurde und zu Boden fiel. Zusehen, wie sein Körper in sich zusammenschrumpfte, bis nichts mehr von ihm übrig blieb.
Tränen traten ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen, als sie sich zu Bastien umdrehte. Sie schüttelte den Kopf. »Bitte … nicht heute Nacht. Nicht hier. Nicht … so. Nicht, ohne wenigstens versucht zu haben, ihn zurückzuholen. Bitte.«
Seine Augen leuchteten in einem durchdringenden Bernsteinton, der die Feuchtigkeit, die in seinen Augen glitzerte, noch betonte. Die Vampire waren seine Freunde. Sie wusste, dass sie es ihm noch schwerer machte, indem sie ihn darum bat, das Unvermeidliche hinauszuschieben, aber …
Die Erleichterung, die sie durchströmte, als er zustimmend nickte, ließ ihre Knie weich werden. Fast wäre sie zu Boden gegangen.
Die Geschwister deuteten auf eine Tür am Ende des Flurs.
Melanie hinkte zu der Tür und betrat das Zimmer.
Joe lag reglos auf einem Stahltisch, identisch mit dem, auf dem Cliff gelegen hatte. Die Stahlringe, mit denen Arme, Beine und Kopf fixiert waren, waren voller Blut, das von seinen Befreiungsbemühungen und den Wunden herrührte, die ihm seine Folterknechte zugefügt hatten. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter schnellen Atemstößen.
Als Melanie neben ihn trat, öffnete er die Augen und rollte sich so herum, dass er sie ansehen konnte. Seine leuchtend blauen Augen durchbohrten sie voller Hass. Ein Sprühregen aus Speichel regnete auf sie nieder, als er sie anschrie, und er lallte so stark, dass er kaum zu verstehen war.
»Joe?«, sagte sie sanft. »Ich bin’s, Dr. Lipton. Melanie.«
Nichts. Keine Veränderung.
Sie griff unter den Tisch und drückte auf den Knopf, der den Stahlring um seinen Hals öffnete.
Die schwere Metallklammer sprang auf.
Sofort riss Joe den Kopf hoch und schnappte nach ihr wie ein wildes Tier.
»Joe.« Der Kloß in ihrem Hals war so groß, dass sie Mühe mit dem Sprechen hatte. »Es ist alles in Ordnung, Joe. Du bist in Sicherheit. Cliff ist auch hier. Und Bastien. Wir bringen dich nach Hause.«
Er fing an, seinen Kopf wieder und wieder gegen den Stahltisch zu schlagen. Seine Arme und Beine zuckten. Bei jeder Bewegung schnitten die Stahlfesseln tiefer in sein Fleisch.
Melanie griff in ihre Gesäßtasche und holte einen der beiden Autoinjektoren mit einer passenden Dosis für einen Vampir heraus. Sie zog die gelbe Verschlusskappe ab.
»Alles wird gut«, log sie und drückte den Injektor gegen seine Schulter.
Die Bewegungen des Vampirs wurden langsamer. Sein Kopf sackte nach hinten, die Muskeln entspannten sich.
Sie streichelte ihm über das zerzauste blonde Haar und sah ihm in die brennenden Augen. »Du bist jetzt unter Freunden.«
Seine Augenlider wurden schwer und schlossen sich.
Sie ging um den Tisch herum und drückte die Knöpfe auf der anderen Seite. Bastien, der Cliff in den Armen trug, tauchte im Türrahmen auf.
Als sich ihre Blicke trafen, schluchzte sie. Sie wussten, was der nächste Tag bringen würde.