13
Niedergeschlagen betrachtete Seth die zierliche Gestalt auf dem Bett. Das seidige schwarze Haar lag wie ein Fächer auf dem Kissen ausgebreitet. Sie hatte eine kleine Nase und ein vorwitziges Kinn. Er zweifelte nicht daran, dass sie es zu Lebzeiten häufig trotzig nach vorn gestreckt hatte.
Die dunklen, blicklosen Augen waren auf ihn gerichtet, und es kam ihm vor, als würde sie ihn sogar im Tod um Hilfe bitten. Ihn anflehen, sie zu befreien. Sie zu retten.
Aber er war zu spät gekommen.
Das Grauen, das seit Tagen wie Säure in seinem Magen gebrannt hatte, ließ nach und wurde durch ein Gefühl der Benommenheit ersetzt. Und Bedauern.
Geschmeidig beugte er sich vor und hob ein Shirt vom Boden auf – mehr war von dem Vampir, der es getragen hatte, nicht übrig geblieben. Er säuberte seine Klingen damit. Danach steckte er die Schwerter zurück in ihre Scheiden und zwang sich, an das Bett zu treten. Mit einer einzigen Handbewegung brachte er die Seile um ihre Handgelenke und ihre Knöchel dazu, sich von selbst lösen. Sie fielen hinunter auf die Bettdecke. Eins der Seile glitt vom Bett und landete auf dem Boden.
Ihre schlanken Arme waren voller blauer Flecken und mit Bissspuren und getrockneten Blutklümpchen übersät. Ihre Beine, die nur von einem kurzen Rock bedeckt wurden, sahen genauso aus. Ihre zarten Hände waren voller Blutflecken und verkrallten sich immer noch in die Bettdecke, auch wenn sie längst ihren letzten Atemzug getan hatte.
Seth verließ das Zimmer, um das kleine Landhaus rasch zu durchsuchen. Im Badezimmer fand er, was er suchte, und kehrte zu ihrem Schlafzimmer zurück.
Er hob sie vorsichtig hoch und hielt sie mit einem Arm fest, während er mit dem anderen die blutigen Bettlaken vom Bett entfernte. Dann schüttelte er ein frisches weißes Laken auf und legte die junge Frau wieder auf das Bett. Er schloss ihr die leeren Augen, die ihn immer noch vorwurfsvoll anzustarren schienen.
Jede freie Sekunde hatte er genutzt, um nach ihr zu suchen, und mit jedem Tag war er ihrem Aufenthaltsort ein bisschen näher gekommen. Die Erde war ein verdammt großer Planet. Und momentan passierte so viel in North Carolina, das er im Auge behalten musste.
Entschuldigungen. Für das Unentschuldbare.
Er drehte sich zu der Wiege um, die nur wenige Meter entfernt stand. Als er näher trat, spürte er erneut Grauen in sich aufsteigen.
Der Körper darin war so winzig. Er nahm das Baby heraus und legte es in die Arme seiner Mutter, dann steckte er die Decke um sie herum fest wie einen Kokon.
Wieder zwei Begabte verloren.
Es gab drei Ereignisse, die Seth unweigerlich tief in seinem Inneren spürte, gleichgültig, wie weit das Geschehene selbst entfernt war: Die Geburt eines Begabten, der Tod eines Begabten oder Unsterblichen und die Verwandlung eines Begabten in einen Unsterblichen. Beim ersten verspürte er eine Art Prickeln in der Brust, so wie bei der Geburt des Babys vor drei Monaten. Das war einer der wenigen glücklichen Momente in einer Zeit gewesen, in der ihn hauptsächlich Dunkelheit umgeben hatte.
Das zweite Ereignis löste aus, dass er eine Art innere Leere verspürte. Seth war zunächst davon ausgegangen, dass die Leere, die der Tod des Babys in ihm ausgelöst hatte, nur Teil der Einsamkeit war, die er verspürte, seit er Ami zu Marcus’ Sekundantin ernannt hatte. Wenn ihm klar gewesen wäre, dass das Gefühl in Wirklichkeit daher rührte, dass ein Begabter starb, dann hätte er die beiden vielleicht eher gefunden. Möglicherweise sogar früh genug, um die Mutter zu retten.
Das dritte Ereignis – die Verwandlung eines Begabten in einen Unsterblichen – ließ Grauen in ihm aufsteigen. Das Gefühl war so stark, dass er ihm folgen konnte wie einem starken Geruch, den der Wind mit sich trug. Aber auch dafür brauchte er Zeit.
Zeit, die diese Frau nicht gehabt hatte, als sie das Opfer von einem halben Dutzend Vampiren geworden war, deren Blut nun die Zimmerwände zierte.
Die Vampire hatten versucht, sie zu verwandeln. Aber wie so oft hatte ihre Blutgier ihren Plan zunichtegemacht und sie dazu getrieben, sie auszusaugen, bevor die Verwandlung abgeschlossen war. Deshalb hatte er nun zwei Leichname, die er in ein Laken hüllen und in der Erde vergraben würde.
Er nahm das Bündel in die Arme. Die beiden waren so leicht. Irgendwie machte es das Ganze noch schlimmer.
Draußen traf ihn eine eisige Windböe, sie trug den Geruch von Schnee mit sich. Fast wünschte er sich einen Eisregen, der schmerzhaft wie Nadelstiche auf ihn niederprasselte.
Eine weiße Schneedecke, die jeden Laut verschluckte, bedeckte die herrliche Landschaft nahe der Stadt Gyeongju in Südkorea. Ein Donnergrollen erschütterte den Himmel – kein Wetterphänomen, sondern eine Folge seiner Trauer.
Er musste eine Schaufel auftreiben.
»Hier.«
Seth wirbelte herum.
Die Gestalt, die aus dem Schatten des vom Mondlicht beschienenen Hauses trat, erinnerte ihn wie immer an einen durchtrainierten Jim Morrison. Sein dunkles welliges Haar fiel ihm bis auf den Rücken und bewegte sich leicht in der Brise. Sein Oberkörper war nackt und haarlos. Er trug eine tief auf der Hüfte sitzende Lederhose.
Seth hatte ihn nicht kommen hören und fragte sich, ob das an dem Lärm lag, den die Vampire während des Kampfs gemacht hatten, oder ob er einfach nur zu abgelenkt gewesen war.
Die Lederhose raschelte leise, als der andere zu ihm trat. Unter seinen Stiefeln knirschten Schnee und Eis. In der großen Hand trug er eine Schaufel, die er Seth hinhielt.
Seth warf einen Blick auf das Bündel in seinen Armen. Er wollte sie nicht auf den Boden legen, nicht einmal, um das Grab auszuheben. Aber ebenso wenig wollte er sie in den blutbesudelten Raum zurückbringen, in dem sie gestorben waren.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte sein Besucher. »Ich kümmere mich darum.«
Seth hätte es wohl kaum geschafft, seine Verblüffung zu unterdrücken, wenn er nicht vor Schmerz wie betäubt gewesen wäre.
»Hast du sie gekannt?«, fragte der andere, während er die Schaufel tief in den gefrorenen Boden rammte und zu graben begann.
»Nicht wirklich. Ich wusste, dass sie Begabte waren. Ich behielt sie über die Jahre im Auge, so wie ich es mit allen Begabten tue. Aber …«
»Sie wussten nichts von dir.«
Seth nickte.
Das Geräusch, das das Metallblatt der Schaufel machte, wenn es den Boden aufriss, war obszön laut.
Keiner vor beiden sagte ein Wort, während das Grab Gestalt annahm.
Als das Loch lang und tief genug war, legte Seth behutsam die beiden Körper hinein.
Sein Begleiter ließ die Schaufel sinken und sang mit ihm zusammen ein Gebet für Mutter und Sohn. Sie sangen es in einer uralten Sprache, die niemand, der lebte, jemals gehört hatte.
Als wieder Stille eingekehrt war, nahm Seth die Schaufel zur Hand, um das Loch aufzufüllen. »Können wir das vielleicht ein anderes Mal erledigen?«, fragte er, ohne den anderen anzusehen, dessen hochgewachsene Gestalt ihn um einige Zentimeter überragte.
»Was erledigen?«
»Das, wofür du hergekommen bist. Was immer es sein mag. Ich habe heute Nacht wirklich keine Lust auf deine Drohungen. Wenn du und die anderen mehr tun würden, als nur auf ihren kostbaren Hintern zu sitzen und zu beobachten, dann stünde ich jetzt vielleicht nicht hier, um diese beiden zu begraben.«
»Ich hatte gar nicht vor, heute Nacht Drohungen gegen dich auszustoßen, Cousin.«
»Na sicher. Willst du mir erzählen, dass du gekommen bist, weil du mich so vermisst hast?«
»Nein«, antwortete der andere schlicht.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Seth, wie sein Besucher anfing, auf und ab zu marschieren. Er blieb stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie wieder hängen. Dann fing er abermals an, hin- und herzutigern.
Er wirkte etwas … abwesend.
Unruhig.
Oder so.
»Was ist los mit dir?«
»Nichts.«
Als Seth das Grab aufgefüllt hatte, legte er die Schaufel auf den Boden und wandte sich wieder dem Haus zu. Er schloss die Augen und beschwor das Bild der Küche herauf. Die Gasleitung hinter dem Herd bekam einen Riss. Ein kleiner Funke reichte aus, damit sie sich entzündete. Er würde ihrer Familie einen Besuch abstatten und in ihrem Gedächtnis die Erinnerung an eine Explosion, den sofortigen Tod von Mutter und Kind und ein wunderschönes Begräbnis einpflanzen.
Niemand würde die Leichname zu Gesicht bekommen. Niemand würde sich über die Bissspuren wundern. Eine polizeiliche Untersuchung würde es nicht geben. Keine Zeitung würde Schlagzahlen über Vampirmorde bringen. Niemand würde die Wahrheit erfahren. Niemand außer Seth und …
»Hast du vor, mir zu sagen, warum du hergekommen bist?«
Angespannte Stille.
»Zach …«
»Dein Handy ist kaputt.«
Seth runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Dein Handy ist kaputt«, wiederholte Zach.
Seth zog es aus der Gesäßtasche und warf einen Blick darauf. Kein Wunder, dass es so still gewesen war. Das Gerät war im Kampf gegen die Vampire zerstört worden.
Seth warf Zach einen prüfenden Blick zu. Er war doch nicht wirklich gekommen, um ihn darauf hinzuweisen, dass sein Telefon …
Dann fuhr ihm der Schreck in die Glieder. »Was ist passiert?« Es musste etwas Schlimmes sein, wenn sein Besucher die Wut der anderen in Kauf nahm und sich einmischte, um Seth’ Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken. »Wer hat versucht, mich zu erreichen?«
Zachs Kiefermuskeln zuckten, als er die Zähne zusammenbiss.
Seth wusste, dass die Strafe nicht lange auf sich warten lassen würde, und fragte sich, ob …
»Deine Leute in North Carolina.«
»Wer genau?«
»Alle.«
Fluchend machte er sich bereit, um sich zu David zu teleportieren.
»Seth.«
»Was denn?«
Ihre Blicke trafen sich. »Du kämpfst gegen eine mythologische Kreatur.«
Seth schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was du …«
»Hydra«, veranschaulichte Zach. »Die Hydra von Lerna.«
»Das Wesen aus der griechischen Mythologie, das Herkules töten sollte, indem er ihm alle Köpfe abschlug?«
Zach nickte kurz. »Wenn man ihm einen Kopf abschlägt, wachsen ihm zwei neue. Das schwarze Schaf unter deinen Unsterblichen wusste nicht, was es auslöste, als es die Vampire in den Krieg gegen euch führte.«
»Ich nehme an, dass du von Sebastien sprichst.«
»Man kann es nicht besiegen. Jeder Kopf birgt eine neue Gefahr. Eine Gefahr für dich. Für uns. Je mehr Köpfe, desto größer die Gefahr. Sie dürfen nicht wissen, wer du bist. Und wer wir sind. Das würden die anderen nicht zulassen. Es hat schon Unstimmigkeiten gegeben.«
Sie hatten – um im Bild zu bleiben – sozusagen Sebastiens »Kopf« abgeschnitten, und er war durch Montrose Keegan und den Vampirkönig ersetzt worden. Dann hatten sie die beiden Köpfe abgeschnitten und … sie waren immer noch dabei, herauszufinden, wer ihren Platz eingenommen hatte. Wollte Zach andeuten, dass Emrys nicht allein arbeitete? Dass sie am Ende unterliegen würden, wer immer es war, den sie bekämpften?
»Du lässt etwas Wichtiges außer Acht«, sagte Seth.
»Und das wäre?«
»Herkules hat die Hydra besiegt … mit Iolaus’ Hilfe.«
»Aber ich bin nicht Iolaus.«
Seth zog die Augenbrauen hoch. »Habe ich das etwa behauptet?« Er verneigte sich vor seinem Besucher. »Aber ich danke dir für den Hinweis.«
Während er sich noch fragte, welcher Katastrophe er als Nächstes die Stirn bieten musste, teleportierte er sich rasch zurück in die Vereinigten Staaten.
Nach Seth’ Verschwinden senkte sich Stille herab, nur unterbrochen von dem lauten Knistern der Flammen, die das kleine Haus verschlangen. Der Geruch aufgewühlter Erde erfüllte die Luft.
Zach hatte Seth nicht gesagt, warum er gekommen war und ihn darauf hingewiesen hatte, dass er gebraucht wurde – und das lag daran, dass Zach nicht wusste, warum er sich überhaupt einmischte. Das Ganze war ziemlich dämlich gewesen. Zu gewinnen gab es dabei nichts. Aber er hatte eine ganze Menge zu verlieren.
Mit einem Seufzen spannte er die Schultermuskeln an. Ihm wuchs ein Paar fast durchsichtiger Flügel aus dem Rücken. Am Ansatz hatten sie dieselbe leichte Brauntönung wie seine Haut, wurden aber nach außen hin immer dunkler, und an den Spitzen waren sie nachtschwarz. Die zarten Federn flatterten im Wind.
Er hatte nicht mal Zeit, die Flügel ganz zu spannen, bevor die Gestalten aus den Schatten traten.
Sie waren genauso hochgewachsen wie er und Seth’, und sie marschierten nun zielstrebig auf ihn zu, um ihn zu umzingeln.
Ein grimmiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
Hatten sie befürchtet, dass er nicht zurückkehren würde? Dass sie keine Chance haben würden, ihn zu bestrafen?
Er zog die Flügel wieder ein, um sie vor dem zu beschützen, was jetzt kommen würde.
»Du bist gewarnt worden«, sagt einer von ihnen.
»So ist es.«
»Du weißt, was wir jetzt tun müssen.«
Er beschloss, dass das nicht der Zeitpunkt war, die Bedeutung des Wortes müssen zu debattieren.
Zach breitete die Arme aus und lieh sich einen Satz von Seth’ schwarzem Schaf. »Dann muss es wohl so sein.«
Bastien zählte jede Sekunde und machte sich im Stillen Vorwürfe. Er saß auf Cliffs Sofa, während Richart es sich auf einem Stuhl neben der Tür gemütlich gemacht hatte.
»Weiß Melanie, dass du sie liebst?«, fragte der Franzose sanft.
»Nein.« Bastien vergrub das Gesicht in den Händen. »Was weiß ich denn schon über die Liebe? Die einzigen Menschen, die ich liebte, waren meine Schwester Cat und ihr Ehemann Blaise. Cat ist jetzt seit zweihundert Jahren tot, gestorben durch die Hand von Blaise, und genial, wie ich bin, habe ich ihm geglaubt, als er mir die Lüge auftischte, dass jemand anders die Schuld an ihrem Tod trüge.«
»Was willst du damit sagen?«
»Was ich damit sagen will, ist …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist so lange her … Ich weiß gar nicht mehr, wie es ist, jemanden zu lieben.«
»Na ja, irgendwas musst du trotzdem richtig gemacht haben, denn jedes Mal, wenn du das Zimmer betrittst, geht für Melanie die Sonne auf. Und wir wissen beide, wie schnell ihr Herz klopft, wenn du in ihrer Nähe bist.«
»Ich habe nichts als Chaos und Schmerz in ihr Leben gebracht.«
»Das ist nicht dein Fehler.
Bastien lachte freudlos. »Doch, das ist es. Alles, was ich anfasse, geht schief. Sobald ich mich in das Leben einer anderen Person einmische, verwandelt es sich in die Hölle auf Erden.« Zu wissen, dass Cliff und Joe womöglich von Emrys und seinen Leuten gefoltert werden würden, machte alles nur noch schlimmer.
Sebastien, drang Lindas Stimme aus dem Operationssaal zu ihm herüber, du kannst sie jetzt sehen.
An der Tür hielt Richart ihn auf. »Du wirst dir deinen Weg wieder freikämpfen müssen, wenn du in dieser Stimmung zum Operationssaal stürmst. Lass mich vorgehen, und wir kommen zusammen in einem vernünftigen Tempo dorthin, das menschlichen Standards entspricht. Wenn Melanie bei Bewusstsein ist, würde es sie aufregen, wenn du ihr von Kugeln durchsiebt unter die Augen trittst oder wenn Chris’ Männer dich in Titanketten legen und aus dem Zimmer schleifen. So etwas kann sie jetzt nicht gebrauchen.«
Bastien hätte ihm am liebsten geantwortet, dass er ihn in der Zeit, die diese Ansprache gekostet hatte, bequem zu Melanie hätte teleportieren können, aber er wusste, dass sich der Franzose für diesen Weg entschieden hatte, damit Chris’ Männer wussten, wo sie sich aufhielten, und keine Verwirrung entstand.
»Na schön. Dann öffne einfach die verdammte Tür.«
Bei den Sicherheitsleuten im Flur handelte es sich um dieselben Männer, die er in der vergangenen Nacht überrannt hatte. Sie versteiften sich bei seinem Anblick, wobei ihre Hände unwillkürlich zu den Pistolen wanderten, bereit, bei der geringsten Provokation seinerseits das Feuer zu eröffnen. Wäre er allein gewesen und die Umstände weniger desaströs, hätte er der Versuchung, ein wenig Unfrieden zu stiften, wohl kaum widerstehen können. Wahrscheinlich hätte ein Hüsteln ausgereicht. Aber er war nicht allein. Ein Blindgänger konnte Richart treffen. Und Melanie war wahrscheinlich nicht nur aufgebracht, sondern richtig wütend, wenn sie ihr so unter die Augen traten.
Linda musste die anderen vorgewarnt haben, denn als er das Zimmer betrat, zu dem ihre Stimme ihn geführt hatte, war es abgesehen von ihr und Melanie leer.
Melanies Gesicht war fast so weiß wie das Laken, auf dem sie lag. Ihre Augen waren geschlossen, und sie öffnete sie nicht, als er ins Zimmer trat. Sie reagierte in keiner Weise auf seine Gegenwart, auch nicht, nachdem Linda ihn begrüßt hatte.
Bastiens Kehle war wie zugeschnürt, und er wagte nicht zu fragen, wie es ihr ging.
Also übernahm Richart diese Aufgabe. »Wie geht es ihr?«
»Wir haben ihr eine Transfusion gelegt und so viel von dem infizierten Blut ausgetauscht, wie wir konnten, aber … das Virus arbeitet sehr schnell. Die Infektion war bereits so weit fortgeschritten, dass ihr Immunsystem kapituliert hatte. Der Schaden ist irreparabel.«
Richart räusperte sich. »Soll das heißen, dass sie im Sterben liegt?«
»Ja.«
Bastien starrte Melanie an.
Das war das größte Problem mit diesem verdammten Virus. Selbst wenn sie ein Heilmittel fanden, das ihn abtötete und Unsterbliche und Vampire in Sterbliche zurückverwandelte – die Sterblichen hatten kein Immunsystem mehr und starben dennoch. Das Erste, was das Virus in einem frisch infizierten Körper tat, war, das Immunsystem zu zerstören, um es zu ersetzen.
Bastien musste sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis er schließlich neben dem Bett stehen blieb. Eine Infusionsnadel war an Melanies Hand befestigt.
Er nahm ihre andere Hand. Ihre weiche Haut war kalt, und die langen, zarten Finger hingen schlaff herunter. »Richart.«
»Ja.«
»Hol Roland.«
»Was?«
»Roland kann ihr nicht helfen, Sebastien«, sagte Linda sanft. »Ebenso wenig wie Seth und David. Keiner der Heiler kann etwas für sie tun. Das ist nun einmal die Natur des Virus. Das ist eins der vielen Dinge, die diesen Virus von allen anderen auf der Erde existierenden unterscheidet.«
Bastien sah zu Richart. »Such Roland und bring ihn her. Jetzt.«
Richart warf Linda einen Blick zu und verschwand.
Weder Bastien noch Linda sagten ein Wort, während sie warteten.
Sekunden später tauchte Richart wieder auf; er hatte sowohl Roland als auch Sarah dabei. Er ließ ihre Schultern los und machte einen unsicheren Schritt zur Seite.
Bastien suchte seinen Blick. »Und jetzt Étienne und Lisette.«
Richart warf ihm einen prüfenden Blick zu, nickte dann und löste sich in Luft auf.
Roland zog ein finsteres Gesicht und wollte gerade den Mund öffnen, um mit seiner Schimpftirade loszulegen, aber Bastien schnitt ihm das Wort ab und drehte sich zu Linda um. »Ich muss Sie bitten, das Zimmer zu verlassen.«
Ihr nervöser Blick schweifte von Roland zu Sarah und wieder zurück zu ihm. »Bei allem Respekt – nein. Ich gehe nicht.«
»Ich fürchte, Sie haben keine Wahl.«
Trotzig schob sie das Kinn vor. »Lanie ist meine Freundin. Ich lasse sie nicht allein.«
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, versprach Roland, der wie immer grimmig dreinschaute. »Wir lassen nicht zu, dass er ihr etwas tut.«
Sarah lächelte beruhigend. »Wir müssen uns nur mal kurz unterhalten. Wir sagen Ihnen Bescheid, wenn wir fertig sind.«
Linda sah zu Roland. »Bitte rufen Sie mich, falls Sie versuchen sollten, sie zu heilen.«
»Wie Sie wünschen.«
Mit offensichtlichem Widerwillen ging Linda hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Richart kehrte mit Lisette zurück und verschwand dann wieder.
Lisette bedachte Sarah mit einem matten Lächeln und nickte Roland zu.
Dieser bemerkte es nicht einmal. Er war bereits in voller Fahrt mit seiner Strafpredigt.
»Also, zuerst einmal«, schnarrte er, »wage es nicht noch einmal, Richart ohne Vorwarnung zu mir nach Hause zu schicken. Ich hätte ihn beinahe umgebracht! Und wage es nicht, mich hierher zu bestellen. Wenn du derjenige bist, der meine Heilkräfte benötigt – dann versuch dein Glück woanders! Wenn jemand anders meine Heilkräfte braucht, dann nimm dein verdammtes Handy und ruf mich an! Und wenn nicht genug Zeit bleibt, um den Wagen zu nehmen – dann darfst du Richart zur mir nach Hause schicken. Aber wage es ja nie wieder …«
»Schon verstanden«, unterbrach ihn Bastien, als Richart zusammen mit seinem Zwillingsbruder wieder im Zimmer auftauchte.
Étienne griff nach dem Arm seines Bruders, damit Richart das Gleichgewicht wiederfand, als er leicht zur Seite sackte. »Richart sagte uns, dass Dr. Lipton im Sterben liegt.«
»Es tut mir so leid, Bastien«, sagte Sarah.
»Sie wird nicht sterben«, widersprach er.
Roland wirkte nicht mehr ganz so wütend. »Du weißt, dass ich sie nicht heilen kann.« In seiner Miene spiegelte sich Anteilnahme wider. »Ich habe nicht die Macht, das Virus oder die Schäden, die es angerichtet hat, zu heilen.«
»Ich will nicht, dass du sie heilst. Ich will, dass du sie verwandelst.«
Die Unsterblichen zuckten zusammen. Augen wurden aufgerissen, Blicke gewechselt.
»Nein«, sagte Roland schließlich.
»Sie wird sich nicht in einen Vampir verwandeln.«
»Doch, das wird sie. Du willst es vielleicht nicht, aber …«
»Sie ist eine Begabte.«
»Blödsinn.«
»Bei so etwas würde ich nicht lügen.«
»Du würdest bei allem lügen, wenn du dir einen Vorteil davon versprechen würdest.«
»Aber nicht bei dieser Sache. Ich würde nicht wollen, dass sie ein Vampir wird.«
»Warum nicht? Du stehst doch auf Vampire.«
Bastiens Geduldsfaden war kurz davor zu reißen. »Richart?«
»Ich glaube nicht, dass er bei so etwas lügen würde. Sie bedeutet ihm zu viel.«
Lisette ergriff das Wort. »Seine Gedanken entsprechen seinen Worten. Er sagt die Wahrheit.«
»Selbst wenn er das tut«, sagte Sarah, »wie Roland einmal zu mir sagte: Die Tatsache, dass sie verwandelt werden kann, muss nicht bedeuten, dass sie es auch will.«
»Aber sie will es«, beharrte er. »Sie hat es mir gesagt.«
»Blödsinn«, sagte Roland noch einmal.
Sarah warf Lisette einen Blick zu. »Stimmt das?«
»Ja.«
Sarah richtete ihre haselnussbraunen Augen auf ihn. »Worauf wartest du dann? Verwandle sie!«
Bastien deutete auf Roland. »Ich möchte, dass er es tut.«
»Mir ist total egal, was du willst. Ich werde sie nicht verwandeln. Ich will nicht derjenige sein, auf den sie hinterher sauer ist, wenn sie es sich anders überlegt. Du bist derjenige, dem sie viel bedeutet. Tu du es.«
Bastien wechselte einen Blick mit Étienne. Bitte, dieses eine Mal musst du mir vertrauen. Lies meine Gedanken und tu, worum ich dich bitte. Sag Richart, dass er mir helfen soll, Roland zurückzuhalten, und bitte Lisette, Chris und seine Männer am Hereinkommen zu hindern, wenn es hart auf hart kommt.
Bist du total wahnsinnig geworden? Roland wird dich umbringen.
Nicht wenn du ihn daran hinderst. Tu’s einfach. Du weißt, dass bei ihm eher Taten als Worte zählen. Anders geht es nicht. Wir verschwenden kostbare Zeit.
Étienne warf seinem Zwillingsbruder einen Blick zu.
Nach einem kurzen Moment musterte Richart Bastien, als wäre er jetzt endgültig durchgeknallt; er schüttelte den Kopf und machte dann einen Schritt auf Roland zu. Étienne näherte sich dem griesgrämigen Unsterblichen verstohlen von der anderen Seite, während Lisette stirnrunzelnd zur Tür ging.
Bastien zog zwei Dolche. »Verwandle sie … oder ich töte dich.«
Roland lachte nur. »Das schaffst du ohnehin nicht.«
Sarah tat genau das, was sich Bastien erhofft hatte. Sie schob sich vor Roland. »Was machst du da, Bastien?« Wie immer wollte sie zwischen ihnen Frieden stiften.
»Nur das, was ich tun muss.« Ohne Vorwarnung sprang er nach vorn, wobei er seine Dolche schwang.
Sarahs Augen fingen an, in einem durchdringenden Grünton zu leuchten, als sie atemberaubend schnell ihre Saigabeln zog und sich auf ihn stürzte.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Richart und Étienne ihre ganze Kraft aufbieten mussten, um Roland zurückzuhalten. Er stieß einen Wutschrei aus, der einem Grizzlybären Ehre gemacht hätte.
Danach hatte Bastien alle Hände voll zu tun, Sarah davon abzuhalten, ihn in Stücke zu reißen. Die Jüngste unter den Unsterblichen war zwar fünfzehn Zentimeter kleiner als er und wog nur die Hälfte von dem, was er auf die Waage brachte, dennoch wusste Bastien, dass es keinesfalls sicher war, dass er diese Konfrontation unbeschadet überstehen würde.
Sarah war unglaublich schnell. Und sehr stark. Ein ganzes Stück stärker als er.
Sie rammte einen ihrer Dolche tief in seine Brust, und er musste an die Nacht zurückdenken, in der er sie entführt hatte. Selbst als sie noch eine Sterbliche war, wäre es ein Fehler gewesen, sie zu unterschätzen. Und jetzt glaubte sie im Ernst, dass er vorhatte, den Mann zu töten, den sie liebte?
Jemand hämmerte an die Tür.
Sarah schleuderte Bastien durch das Zimmer, wobei er ein paar Tabletts mit chirurgischen Geräten umriss und einige Meter über den Boden schlitterte, um schließlich so heftig gegen die Wand zu krachen, dass der Putz herunterbröckelte.
Er sprang wieder auf die Füße und griff sie von Neuem an, holte mit seinen Dolchen aus, darauf vertrauend, dass sie seine Angriffe abwehren konnte, ohne eine Verletzung davonzutragen.
Mit ihren kleinen, steinharten Fäusten bearbeitete sie sein Gesicht und den Oberkörper.
Verdammt!
Lisettes Anstrengungen, die Tür zu blockieren, waren offenbar erfolgreich, denn es stürmten keine Sicherheitsleute in das Krankenzimmer und eröffneten das Feuer auf ihn. Und Roland hatte ihm auch noch nicht den Kopf vom Körper getrennt – demnach gelang es Richart und Étienne offenbar, mit dem älteren Unsterblichen fertigzuwerden.
Sarah trat Bastien gegen die Brust, wobei sie ihm mehrere Rippen brach und einen Lungenflügel verletzte. Die Wand hinter ihm gab nach und zerbarst in einer Wolke aus Staub und umherfliegenden Putzsplittern. Er wurde durch die Öffnung geschleudert, krachte gegen einen Tisch, der im angrenzenden Zimmer stand, und ging dann zu Boden.
Auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Pausenraums saß Linda an einem Bistrotisch und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, ihre Hand, in der sie ein Bagel hielt, verharrte reglos in der Luft.
Schwankend kam Bastien auf die Füße und schüttelte sich den Staub aus dem Haar. »Sorgen Sie dafür, dass niemand hier durchkommt.«
Sie ließ zwar vor Schreck das Bagel fallen, schluckte dann aber nur und nickte.
»Ich tue das hier für Melanie«, keuchte er.
Sie erhob sich, ging zur Tür und schloss sie ab.
»Und gehen Sie lieber nicht zu nah an diese Wand«, fügte er hinzu. »Sie sehen mich vielleicht schon bald wieder.« Nach Atem ringend, hechtete Bastien durch das große Loch in der Wand und stellte sich Sarah ein weiteres Mal entgegen.
»Warum tust du das?«, fragte sie wütend.
»Weil ich muss«, krächzte er und griff sie ein weiteres Mal an.
Roland hörte nicht auf zu fluchen und finstere Rache zu schwören, wobei er alle Anwesenden – abgesehen von seiner Frau und Melanie – einschloss.
Bastien wurde allmählich langsamer und schwächer, während aus den Dutzenden Wunden, die Sarah ihm zugefügt hatte, das Blut troff.
Verdammt, diese Frau konnte kämpfen! Einen weiteren Angriff abwehrend, schlug sie ihm den Dolch aus der Hand – und brach ihm mit einer blitzschnellen Handbewegung den Arm. Noch mehr Schnitte. Noch mehr Stichwunden.
Ein weiterer Schlag gegen seinen Solarplexus ließ ihn durch das Zimmer segeln, um dann in einen Schrank voller Medikamente zu krachen, der bis zur Decke reichte. Bevor er sich erholen konnte, flitzte sie zu dem Einbauschrank, riss ihn aus seiner Verankerung und ließ ihn auf ihn herunterkrachen.
Bastien ächzte vor Schmerz. Das war’s.
Es kostete ihn enorme Kraft, unter dem Schrank hervorzukriechen und aufzustehen. Seine Rippen schmerzten so heftig, dass er nicht mehr gerade stehen konnte. Aber er gab sein Bestes und richtete den glasigen Blick auf Sarah.
Auf ihren Kleidern waren feuchte Flecken. Er hoffte, dass es sich dabei um sein Blut handelte. Ihre kleinen Hände, mit denen sie die Saigabeln umklammerte, waren blutverschmiert, die Fingerknöchel geschwollen und aufgeplatzt. Zum Glück heilten diese kleinen Verletzungen noch während er sie betrachtete. Ihr hübsches Gesicht war gerötet. Ihr Brustkorb hob und senkte sich bei jedem tiefen Atemzug. Einzelne Strähnen ihres langen braunen Haars hatten sich selbstständig gemacht und umkränzten ihr Gesicht, und auch aus ihrem geflochtenen Zopf hatten sich ein paar gelöst.
»Halt!«, sagte sie, und es klang halb wie ein Befehl und halb wie eine Bitte. »Ich will dich nicht töten.«
»Tu’s!«, schnarrte Roland grimmig. »Bring diesen Mistkerl um! Du kannst das, Sarah!«
»Ja«, schnaufte Bastien und fuhr sich mit dem feuchten Ärmel über das Gesicht, um sich das Blut aus den Augen zu wischen. Sein eines Auge war fast vollständig zugeschwollen, und das Virus nahm sich viel Zeit, um den Schaden zu reparieren. »Ja, das kann sie. Darum ging es mir die ganze Zeit.«
Verwirrt runzelte Sarah die Stirn. Sie entspannte die Muskeln und warf Roland über ihre Schulter einen fragenden Blick zu.
»Dreh ihm nicht den Rücken zu!«, rief ihr Mann warnend.
Sarah wirbelte herum und bot Bastien kampfbereit die Stirn.
Aber Bastien schüttelte den Kopf und hob die Hand des unverletzten Arms, um zu kapitulieren. »Ich will nicht mehr kämpfen.«
Ein Funken Stolz stahl sich in Rolands gelbbraune Augen. »Weil sie dich gerade problemlos in deine Einzelteile zerlegt hat, und weil du weißt, dass sie das jederzeit wieder tun kann.«
»Wie ich schon sagte: Genau darum ging es mir ja.«
»Es ist mir so was von e…«
»Warte mal eine Sekunde, Liebster«, schaltete sich Sarah ein, die Bastien nachdenklich musterte, während sie ihrem Gatten Einhalt gebot. »Ich will hören, was er zu sagen hat.«
»Man kann ihm nicht vertrauen.«
»Heute Nacht schon«, sagte Étienne.
Roland durchbohrte ihn mit einem eisigen Blick. »Du glaubst, dass ich etwas auf dein Wort gebe? Du kannst mich mal! Du hast gerade zugelassen, dass er meine Frau attackiert hat!«
»Sieh sie dir doch mal genau an«, wandte Richart ein. »Sie hat nicht einen Kratzer abbekommen.«
»Weil sie stärker ist als er!«
Bastiens Seufzen verwandelte sich in ein schmerzgepeinigtes Stöhnen. »Muss ich es noch einmal wiederholen? Genau darum ist es mir gegangen.«
Sarah ging vorsichtig hinüber zu ihrem Mann, aber ohne Bastien den Rücken zuzudrehen, während dieser ebenfalls einen Schritt auf Roland zu machte.
Seit der Nacht, in der ihn die Unsterblichen gefangen genommen hatten, hatte Bastien nicht mehr solche Schmerzen gehabt. »Ich wollte dir zeigen, warum ich möchte, dass du derjenige bist, der Melanie verwandelt. Sarah ist zweihundert Jahre jünger als ich. Sie ist erst seit zwei Jahren eine Unsterbliche. Eigentlich hätte es mir leichtfallen müssen, sie zu überwältigen. Stattdessen hat sie mir einen ordentlichen Arschtritt verpasst.«
Bastien hielt inne und biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen, als sich der Knochen zurück in seine Position schob und anfing zu heilen.
»Selbst wenn Richart, Étienne und ich sie zusammen angreifen würden, wäre es immer noch sehr wahrscheinlich, dass sie uns besiegen würde – und das liegt daran, dass sie genauso stark ist wie du. Außerdem ist sie genau so schnell. Ihre Verletzungen heilen fast in demselben Tempo. So etwas ist noch nie zuvor da gewesen. Junge Unsterbliche sind normalerweise immer schwächer als die Älteren.«
Obwohl Rolands Augen immer noch vor Wut funkelten, schien er ihm zuzuhören. »Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie von einem Unsterblichen verwandelt wurde und nicht von einem Vampir. Jeder andere Unsterbliche hätte dasselbe Resultat erzielt.«
»Das kannst du nicht wissen. Das kann keiner von uns. Du hast dich ja hartnäckig geweigert, Melanie oder einen der anderen Netzwerkärzte Untersuchungen an dir oder Sarah durchführen zu lassen, um mehr über dieses Phänomen zu erfahren. Es könnte an deinen Heilkräften liegen. Oder an etwas Einzigartigem in deiner DNA.«
»Oder an etwas Einzigartigem in Sarahs DNA«, widersprach Roland.
»Das ist nicht besonders wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass ihre Blutlinie stärker durch die DNA Nicht-Begabter verwässert worden ist als deine.«
Sarah steckte ihre Saigabeln zurück in die Scheiden. »Also hoffst du, dass Melanie genauso stark wird wie ich, wenn Roland sie verwandelt? Warum hast du das nicht gleich gesagt, Bastien? Warum hast du es darauf angelegt, dass ich dir Schmerzen zufüge?«
Am liebsten hätte Bastien laut gelacht. Die Jungs, mit denen er sich in seiner sterblichen Jugend im Kampf gemessen hatte, hätten ihn niemals vergessen lassen, dass er sich von einem Mädchen hatte aufs Kreuz legen lassen. »Roland hätte mir nicht zugehört.« Er deutete auf die beiden Telepathen. »Die beiden ebenso wenig, wenn sie nicht meine Gedanken lesen könnten. Sie alle sehen mich an und sehen nichts …«, sagte er ohne jeden Hauch von Selbstmitleid, »… nichts als den Mörder eines Freundes. Den Anführer der Vampire, die eure Feinde sind. Einen Außenseiter, dem man nicht trauen kann.«
Sarahs Blick wanderte zu den anderen, von denen keiner widersprach. »Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Bei dem Treffen haben sie dir sehr wohl zugehört.«
»Weil Melanie, Seth und David mich unterstützt haben.« Genug der Worte. Bastien warf Roland einen Blick zu. »Unsere Existenz ist noch nie so gefährdet gewesen wie zurzeit. Ich will nur, dass Melanie so stark wird wie möglich. Dass sie so sicher ist wie möglich. Ich wünsche mir, dass sie eine höhere Toleranz gegenüber Sonnenlicht und Betäubungspfeilen besitzt. Ich möchte, dass sie stärker und schneller ist als ich. Ich möchte, dass kleine Vampirgruppen keine Gefahr für sie darstellen. Würdest du dir für Sarah nicht dasselbe wünschen?«
Roland rollte versuchsweise mit den Schultern. »Ihr könnt mich jetzt loslassen.«
Richart und Étienne wechselten einen unbehaglichen Blick und ließen ihn schließlich los.
»Wirst du es tun?«, wollte Bastien wissen. Er würde ihn zur Not auch auf Knien anflehen, wenn er musste. Schließlich ging es um Melanie.
Roland legte eine Hand um Sarahs Wange. »Wenn es um dich ginge, hätte ich denselben Wunsch.«
»Ich weiß«, sagte sie weich.
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich sie verwandle?«
Als ihr Blick zu Melanie glitt, runzelte sie die Stirn. Dann umfasste sie seine Hüften, zog ihn an sich und sah zu ihm auf. »Würde es dich … würde es dich auf irgendeine Art an sie binden?«
»Nein.«
»Uns hat es verbunden.«
Er schüttelte den Kopf. »Unsere Liebe bindet uns aneinander, nicht die Tatsache, dass ich derjenige war, der dich verwandelt hat.«
»Also würdest du nicht … spüren, was sie empfindet oder … dich von ihr angezogen fühlen?«
»Nein, meine Liebste. Mein Herz gehört dir, dir ganz allein. Ich begehre nur dich. Und so wird es immer sein.«
Ihre Stirn glättete sich. »Wenn das so ist, dann bin ich der Meinung, dass du es tun solltest. Und danach sollten wir Melanie erlauben, die Untersuchungen zu machen.«
Er küsste sie zart auf die Lippen. »Wie du möchtest.«
Als er sich umdrehen wollte, packte sie ihn an der Gürtelschlaufe und hielt ihn fest. »Warte. Könntest du sie vielleicht ins Handgelenk oder den Arm beißen statt in den Hals?«
Er lächelte. »Das hatte ich ohnehin vor.«
Sarah stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Sie ließ ihn los.
Die Andeutung eines Lächelns verschwand aus Rolands Gesicht, als er sich umdrehte. Es geschah so schnell, dass Bastien es beinahe nicht mitbekommen hätte – erst rammte Roland Richart die Faust ins Gesicht, dann Étienne. Die beiden wurden nach hinten geschleudert, gingen zu Boden und rutschten noch mehrere Meter weiter. »Wagt es ja nicht, mich noch einmal gegen meinen Willen festzuhalten!«
Die beiden blieben ihm die Antwort schuldig. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, vor Schmerz zu ächzen und mit den Händen Mund und Nase zu betasten.
Lisette legte den Kopf schräg und hob eine Augenbraue, wobei sie Roland prüfend musterte.
Roland begnügte sich mit einem grimmigen Blick. »Ich belasse es bei einer Warnung.«
Sie bedachte ihn mit einem koketten Grinsen. »Feigling.«
Das entlockte dem mürrischen Unsterblichen fast ein Lächeln. Bis zu der Sekunde, in der die Tür erzitterte.
Lisette schnitt eine Grimasse und stemmte die Füße in den Boden. »Jetzt haben sie sich doch tatsächlich einen Rammbock besorgt. Diese Rüpel.«
Roland ging zu ihr, legte die Hand neben ihren Kopf auf das Holz und bedeutete ihr, Platz zu machen.
Sie richtete sich behutsam auf, als befürchtete sie, dass die Wachmänner durch die Tür brachen, sobald sie ihren Posten verließ.
Dem sechshundert Jahre älteren Unsterblichen gelang es mühelos, die Tür trotz der Stöße zuzuhalten, während Lisette zu ihren Brüdern ging, die immer noch dort lagen, wo sie zu Boden gestürzt waren.
Roland riss die Tür auf und bellte: »Was?«
Wie eine zusammengewachsene Einheit zogen sich die Wachmänner mit einer einzigen Bewegung zurück und blieben im Korridor stehen, die Augen weit aufgerissen und die Finger an den Abzugshebeln ihrer Maschinengewehre.
Im Gegensatz zu Bastien, den die Soldaten des Netzwerks einfach nur nicht leiden konnten, fürchteten sie Roland.
Einer der Männer, den Bastien wiedererkannte – er hieß Todd –, räusperte sich. »Ähem … wir wissen, dass Bastien da drinnen ist und … wir hörten Kampfgeräusche, Sir, und wollten nur sichergehen, dass …«
»Alles in Ordnung. Verschwindet.« Roland schlug ihnen die Tür vor der Nase zu und drehte sich wieder zu den Unsterblichen um.
Jemand wummerte laut gegen die Tür.
Roland, der jetzt noch finsterer dreinsah, riss die Tür noch einmal auf. »Ich sagte …«
»Bei allem Respekt, Sir«, sagte Todd tapfer. »Wenn Mr Reordon zurückkommt, wird er sich nicht mit einem ›Alles in Ordnung!‹ zufriedengeben. Ich muss wissen, ob Sie Bastien im Griff haben, und ich muss wissen, was vor sich geht.«
»Das ist eine Sache, die nur uns Unsterbliche was angeht.«
Als Roland die Tür wieder schließen wollte, stellte Todd seinen Fuß dazwischen.
»Wollen Sie etwa, dass ich sauer werde?«, fragte Roland mit leiser und tödlicher Stimme.
Die Männer hinter Todd wirkten zwar wie angsterstarrt, wichen aber keinen Zentimeter zurück. Chris hatte seine Männer gut ausgesucht.
»Sir, meine Aufgabe besteht darin, die Männer und Frauen, die in dieser Einrichtung arbeiten, zu beschützen. Männer und Frauen, deren Arbeit – wenn ich Sie daran erinnern dürfte – sich für das Netzwerk als unschätzbar wertvoll erwiesen hat.
Mr Reordon glaubt, dass Bastien eine Gefahr darstellt und … und wenn das, was hier drinnen vor sich geht, eine Gefahr für die übrigen Netzwerkangestellten darstellt, dann …«
Sarah trat neben ihren Mann. »Wir wissen Ihre Loyalität zu schätzen, Todd, aber wir garantieren Ihnen, dass von uns keine Gefahr ausgeht. Wir haben nur … wir haben nur eine persönliche Angelegenheit geregelt.« Mit diesen Worten öffnete sie die Tür weit genug, damit die Sicherheitsleute einen Blick auf Bastien werfen konnten.
Man konnte ihnen den Schreck ansehen. Genauso wie die Genugtuung in ihrem Gesicht, als sie sahen, dass Bastien offensichtlich von wenigstens einem der anwesenden Unsterblichen eine ordentliche Tracht Prügel bezogen hatte.
Es war nicht zu leugnen. Sie hassten ihn.
Todd nickte und lächelte Sarah dann zu. »Kein Problem. Vielen Dank, dass wir das klären konnten, Ma’am. Ich werde also Mr Reordon sagen, dass alles unter Kontrolle ist.«
»Vielen Dank.« Sarah schloss die Tür und sah ihren Mann an. »Siehst du? Mehr als das war nicht nötig.«
»Sie einzuschüchtern macht aber mehr Spaß.«
Sie grinste und küsste ihn auf das Kinn.
Die Laken raschelten, als sich Melanie im Bett bewegte. Obwohl sie den Kopf auf dem Kissen in ihre Richtung drehte, blieben ihre Augen geschlossen. »Bastien?«
Bastien wollte zum Bett gehen, aber Sarah kam ihm zuvor und zog schnell den Vorhang zu, der das Krankenbett vom Rest des Zimmers trennte, sodass Bastien vor Melanies Blick verborgen war. Sie sah die anderen mit gerunzelter Stirn an und zischte: »Sie darf ihn so nicht sehen.«
Die Anwesenden musterten Bastien.
»Warum nicht?«, fragte er. Sah er so schlimm aus? Immerhin ragte der Knochen nicht mehr aus seinem Arm.
Lisette schürzte die Lippen. »Du hast recht. Étienne, gib ihm deine Klamotten.«
Étienne runzelte die Stirn. »Du spinnst wohl.«
Sie verdrehte die Augen. »Tu’s einfach. Ihr beiden habt dieselbe Größe, und Richart kann dich nach Hause teleportieren, damit du dir etwas Frisches anziehen kannst, sobald wir hier fertig sind.«
»Na schön«, brummte er und hatte sich innerhalb von Sekunden bis auf die Boxershorts ausgezogen. Er knäulte die Sachen zusammen und hielt sie Bastien hin. »Und jetzt du.«
Okay. Das war … seltsam.
Bastien zog sich ebenfalls bis auf die Unterwäsche aus, reichte ihm seine zerrissenen, blutverklebten Kleider und zog dafür Étiennes Klamotten an.
Scharrende Geräusche lenkten Bastiens Aufmerksamkeit auf das Loch in der Wand, als er gerade dabei war, den Reißverschluss seiner Hose zu schließen.
Linda kam ungeschickt durch das Loch in der Wand gekrabbelt, wobei sie etwas Weißes in der Hand hielt. Sobald sie mit beiden Füßen im Zimmer war, richtete sie sich auf und blies sich die zerzausten Ponyfransen aus den Augen. »Der Kampf ist beendet, stimmt’s?«
»So ist es«, beruhigte sie Sarah.
Linda lächelte. »Gut.« Sie marschierte auf Bastien zu. »Hier. Das sollte helfen.« Sie hielt ihm zwei feuchte Handtücher hin.
Als er sie entgegennahm, konnte er nicht umhin, sich zu fragen, warum sie ihn anlächelte. »Danke.«
Lisette schnappte sich eins der Handtücher, umgriff sein Kinn mit dem eisernen Griff einer Frau, die wusste, was sie tat, und fing an, ihm das Gesicht zu säubern. Und sie war dabei nicht grob.
Sarah nahm das andere Handtuch und legte es ihm über den Kopf. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und strubbelte ihm damit durch das Haar, sodass ein Teil dessen, was in seinem Haar hing – Blut, Staub und Putzbröckchen – im Handtuch landete.
Bastien stand wie erstarrt da.
Ja, das war … wirklich seltsam.
Keiner der Anwesenden konnte ihn leiden. Und trotzdem taten sie ihr Bestes, damit er für Melanie präsentabel aussah. Er wusste, dass sie es für Melanie taten und nicht für ihn, aber …
Fühlte es sich so an?
Sarah wandte sich an Roland. »Liebster, hast du einen Kamm dabei?«
Fühlte es sich so an, wenn man einer von ihnen war? Wenn man Freunde hatte, die jederzeit hinter einem standen und für einen da waren, wenn man ihre Hilfe brauchte? Fühlte es sich so an, wenn man tatsächlich Teil der Unsterblichen Familie war, nicht nur dem Namen nach?
Roland zog einen Kamm aus seiner Gesäßtasche.
»Du trägst tatsächlich einen Kamm mit dir herum?« Bastien konnte nicht widerstehen, diese Frage zu stellen, während Lisette ihm mit dem feuchten Handtuch das Blut von Nase und Kinn wischte. Der Neid in ihm bewirkte, dass er sich unbehaglich fühlte.
»Den habe ich nur wegen Sarah dabei, du Blödmann.«
Das Handtuch, das Sarah beiseitelegte, war erstaunlich dreckig. Sie ließ sich wieder auf die Fersen zurücksinken. »Lass uns tauschen, Lisette. Ich bin einfach zu klein für diese Aufgabe.«
Lisette, die die nur einen Meter fünfzig große Sarah um mehrere Zentimeter überragte, tauschte das inzwischen blutbefleckte Handtuch gegen den Kamm und stellte sich neben Bastien.
Sarah duckte sich unter Lisettes Arm hindurch und studierte prüfend Bastiens Gesicht. Ihre weichen Lippen verzogen sich zu einem spitzbübischen Lächeln. »Wie geht’s dem Kopf?«
Bastien schmunzelte, weil sie ihm genau die Frage stellte, die er normalerweise an sie richtete. »Pocht und hämmert.«
Sarah wischte ihm ein paarmal mit dem Handtuch über das Gesicht und widmete sich dann den Blutspritzern an seinem Hals. »Jetzt, da ich weiß, warum du den Kampf provoziert hast, fühle ich mich irgendwie schlecht.«
»Nicht nötig.«
Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Das ist alles? ›Nicht nötig‹?«
Er nickte und ächzte vor Schmerz, als Lisette versuchte, sein zerzaustes Haar mit dem Kamm zu entwirren. »Bei einem Kampftraining hättest du mir dieselben Verletzungen beigebracht.«
Sie und Lisette unterbrachen ihre Verschönerungsmaßnahmen und traten einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten. Beide schnitten eine Grimasse.
»Roland, Liebster, komm her und heile ihn.«
»Auf keinen Fall!«
»Wenigstens sein Gesicht. Es ist geschwollen und sieht wirklich schlimm aus.«
Na toll.
»Tu’s für Dr. Lipton«, warf Lisette ein.
Roland seufzte. »Na schön. Aber ich behalte mir das Recht vor, ihm das Gesicht wieder blutig zu schlagen, sobald sie sich erholt hat.« Seine Frau beiseiteschiebend, umfasste er unsanft Bastiens Gesicht, ohne Rücksicht auf blaue Flecken oder gebrochene Knochen.
Seine Hand wurde heiß. Die Schmerzen ließen nach, während die vielen Verletzungen in Bastiens Gesicht heilten und sowohl das unangenehme Ziehen als auch die Schwellungen verschwanden. Als Roland die Hand zurückzog (wobei er Bastien noch eine Kopfnuss verpasste), fühlte sich sein Gesicht wieder normal an.
Der Rest von ihm allerdings schmerzte höllisch. Aber diese Verletzungen waren zumindest nicht sichtbar.
»Wie sehe ich aus?«, fragte er an die Frauen gewandt.
»Gut genug«, antwortete Lisette.
Sarah und Linda nickten zustimmend.
»Bastien«, hörte er Melanie erneut hinter dem Vorhang flüstern.
Skeptisch beäugte er die anderen, irgendwie wusste er nicht so recht, was er von all dem halten sollte. »Vielen Dank.«
Roland schüttelte den Kopf. »Das haben wir nicht für dich getan.«
Ach ja, richtig.