5

Zurück im Netzwerk halfen Bastien und Melanie Richart dabei, die Vampire in der Arrestzelle anzuketten und Chris zu informieren. Danach begleiteten sie Richart auf die Krankenstation, wo er ein paar Blutbeutel leerte. Als er mit dem zweiten fertig war, brachte die Melodie von »Monster« Leben in die nüchterne Atmosphäre der Krankenstation.

Richart zog sein Handy hervor und warf einen Blick auf das Display. Sofort verzog sich sein Gesicht zu dem dümmlichen Grinsen, das Bastien im Stillen das Sie-Lächeln nannte. »Entschuldigt mich.« Er wandte sich ab und nahm den Anruf entgegen. »Hey.« Seine Stimme wurde weich, wie immer, wenn er mit seiner geheimnisvollen Flamme sprach.

»Hey«, hörte Bastien sie antworten, ihre Stimme klang erschöpft. Er wusste nicht, ob Richart so verzaubert war, dass er vergaß, dass Bastien beide Seiten des Gesprächs hören konnte, oder ob er ihm einfach vertraute und davon ausging, dass dieser nicht mit allem, was er aufschnappte, sofort zu Chris rannte. Es kam nur selten vor, dass sich der Unsterbliche während dieser Telefonate entfernte, um seine Privatsphäre zu wahren. Außer natürlich, wenn sie sich in Liebesgeplänkel verwandelten. »Störe ich dich?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Was machst du gerade? Mal wieder auf Vampirjagd?«, fragte sie neckend.

»Nein. Keine Vampire«, erwiderte Richart mit einem leisen Lachen. »Wie geht es dir?«

»Nicht besonders. Deshalb rufe ich an. Ich wollte dir sagen, dass ich mich schon wieder krankgemeldet habe. Ich glaube, ich habe mir zu schnell zu viel zugemutet. Das Fieber ist zurückgekommen, und ich fühle mich ziemlich schlecht.«

»Das tut mir leid, Liebling. Soll ich dir etwas vorbeibringen? Eine Suppe oder so?«

Melanie warf Bastien einen fragenden Blick zu.

»Seine Freundin«, brummte er leise. »Sie hat die Grippe, die im Moment umgeht.«

Melanie schnitt eine mitleidige Grimasse. »Die ist ziemlich übel. Die Netzwerkmitarbeiter, die es erwischt hat, haben mindestens zwei Wochen gefehlt, und als sie zurückkamen, hatten sie deutlich abgenommen.«

»Bist du sicher, dass ich nichts für dich tun kann?«, fragte Richart noch einmal.

In diesem Moment ergriff Melanie das Wort. »Orangensaft und Sodawasser.«

Richart drehte sich um. »Was?«

»Bringen Sie ihr Orangensaft, gemischt mit Sodawasser. Das beruhigt den Magen und versorgt sie gleichzeitig mit Vitamin C.«

Richart nickte. »Danke.«

»Und Salzstangen«, fügte Bastien hinzu. Er hatte gehört, wie Sarah erwähnt hatte, dass Salzstangen ihr während ihrer Verwandlung dabei geholfen hatten, die Übelkeit in den Griff zu bekommen. Sie hatte zwar nicht die Grippe gehabt, aber … Übelkeit war Übelkeit, oder?

Richart schien überrascht über Bastiens Beitrag zur Krankenpflege. »Danke, gute Idee.«

Als wäre ihm ein Gedanke gekommen, warf Bastien einen Blick auf die Uhr. »Wenn du ihr die Sachen heute noch vorbeibringen willst, musst du jetzt los. Whole Food schließt in fünfzehn Minuten.«

»Du hast recht«, stellte Richart fest, bevor er sich wieder dem Telefonat zuwandte. »Ich fahre zum Supermarkt und komme anschließend vorbei, wenn dir das recht ist.«

»Natürlich ist es das«, sagte sie. »Aber mach dir meinetwegen keine Umstände, Richart. Du hast auch so schon genug Probleme.«

»Das mache ich doch gern, meine Süße. Ruh dich aus. Ich bin in Nullkommanichts bei dir.«

Inzwischen war Melanie neugierig geworden auf die Frau, die dem französischen Unsterblichen das Herz gestohlen hatte. Alles an ihm wurde weich, wenn er mit ihr sprach. Seine Stimme. Seine Gesichtszüge. Seine Körpersprache. Es war offensichtlich, dass er sie anbetete.

Zögernd schob Richart das Handy zurück in die Tasche. »Hm, also … das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber Dr. Lipton …« Er machte eine Pause. »Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll …«

Bastien verdrehte die Augen. »Er hat den Befehl, mich nicht aus den Augen zu lassen, und bittet Sie darum, ihn nicht zu verpetzen.«

»Oh.« Im Ernst? Er sollte Bastien überwachen? »Ja, natürlich, Sie können sich auf mich verlassen.« Allerdings fragte sie sich, ob es tatsächlich Misstrauen war, das Seth dazu veranlasste, Richart diesen Befehl zu geben. Handelte es sich nicht eher um eine Vorsichtsmaßnahme, um den unbeliebten Unsterblichen zu schützen? Fürchteten Seth und David, dass einer der anderen Unsterblichen versuchen würde, Ewens Tod zu rächen?

Richart zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und säuberte sich das Gesicht, dann steckte er es wieder weg und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Wie sehe ich aus?«

Melanie grinste. »Sehr attraktiv.«

Bastien musterte Richart finster. »Wenn du mich jetzt auch noch darum bittest, deinen Atem zu prüfen, dann bekommst du meine Faust gleich noch einmal zu spüren.«

Richart zeigte ihm den Stinkefinger und löste sich in Luft auf.

Melanie sah Bastien an. »Ich weiß, als Ärztin und Wissenschaftlerin sollte ich mich eigentlich sachlicher verhalten, aber das ist ja so cool.«

Er lachte. »Ja, das ist es.«

In diesem Augenblick betrat Dr. Whetsman das Zimmer, den Blick auf einen aufgeschlagenen Aktenordner in seiner Hand gerichtet. Als er aufblickte und sie bemerkte, erbleichte er. Wortlos drehte er sich auf dem Absatz um und verließ fluchtartig das Zimmer.

»Wer zur Hölle war das?«, knurrte Bastien.

»Dr. Whetsman.«

Der Unsterbliche zog ein grimmiges Gesicht. »Der Bastard, der Ihnen das Gesicht zerkratzt hat, als Vince seinen letzten psychotischen Anfall hatte?«

»Genau der«, erwiderte Melanie, erstaunt darüber, dass er sich an dieses Detail erinnerte. Seit jenem Vorfall hatte sich so viel ereignet. Und sie hatte ihn nur ein einziges Mal erwähnt – und zwar an dem Tag, als sie hilflos hatte zusehen müssen, wie Vince um seine geistige Gesundheit rang.

Unvermittelt fingen Bastiens Augen an, in einem hellen Bernsteinton zu funkeln. In seiner Kehle regte sich ein grollendes Geräusch.

Als er einen Schritt auf die Tür zu machte, um dem flüchtenden Arzt zu folgen, hielt Melanie ihn am Arm fest. »Immer mit der Ruhe, Tiger. Lassen Sie ihn gehen.«

»Aber er hat Sie geschlagen.«

»Nein, das trifft es nicht ganz. Er hat mich im Eifer des Gefechts gekratzt, während er wie ein kleines Mädchen um Hilfe schrie und vor einem durchgeknallten Vampir davonrannte.«

In Bastiens Miene zeigte sich zuerst Wut, dann Belustigung und schließlich Abscheu vor sich selbst. »Oh verdammt! Ich hab total vergessen, dass Sie verletzt sind.« Er beugte sich vor, schob einen Arm unter ihre Knie und trug sie zum Behandlungstisch.

Überrascht schnappte Melanie nach Luft. »Was machen Sie da …?«

Er setzte sie auf dem Tisch ab und fing an, den provisorischen Verband um ihren Oberschenkel zu lösen.

»Bastien, das müssen Sie wirklich nicht …« Sie brach ab, als er einen seiner Dolche zog und sich damit an ihrer Jeans zu schaffen machte. Ihrer hautengen Jeans, die sich in Nullkommanichts in eine Art Hotpants verwandelte, als er mit einer schnellen und effizienten Bewegung den Stoff über der Verletzung wegschnitt.

»Woran denken Sie gerade?«, erkundigte er sich neugierig. »Ihre Gefühle sind ein einziges Chaos.«

Es war wirklich beunruhigend zu wissen, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um zu wissen, was in ihr vorging. Noch schlimmer wäre nur, wenn er auch noch ihre Gedanken hätte lesen können.

»Was mich gerade am meisten beschäftigt?«, erwiderte sie. »Ich habe gerade gedacht, dass ich froh darüber bin, dass ich mir gestern Abend die Beine rasiert habe.«

Er musterte sie grinsend. »Woran denken Sie noch?«

»Ich mag es, wenn Sie mich berühren, auch wenn der Schnitt brennt wie verrückt.«

Unvermittelt begannen seine Augen durchdringend zu glühen. »Ich dachte, wir hätten das geklärt. Dass eine Beziehung zwischen uns nicht in Frage kommt.«

»Ich bin eine erwachsene Frau. Ich kann Beziehungen führen, mit wem ich will.«

»Und warum sollten Sie das wollen?«, fragte er erstaunt.

»Das weiß ich selbst nicht«, antwortete sie ehrlich.

Jeder, der fünf Minuten mit Bastien verbrachte, wusste, dass dieser Mann ziemlich viele Probleme hatte und verzweifelt versuchte, den Weg in ein neues Leben zu finden. Dass er immer noch mit seiner bitteren Vergangenheit kämpfte. Dass er Schwierigkeiten hatte, anderen zu vertrauen, nachdem er von … ach herrje! … von ungefähr hundert seiner engsten Freunde getäuscht worden war.

»Sie haben etwas an sich«, sagte sie schließlich, »das mich unwiderstehlich anzieht.«

Auf der Suche nach Verbandsmaterial und Desinfektionsmitteln durchwühlte Bastien die Arzneischränke neben dem Behandlungstisch.

Als er den Schnitt desinfizierte, atmete Melanie hörbar ein. Es fühlte sich an, als würde er eine Lötlampe gegen ihr Fleisch drücken.

»Tut mir leid«, sagte er, und das Leuchten in seinen Augen wurde schwächer, als er die Stirn runzelte.

Sie nickte und blinzelte die Tränen weg. Verdammt, tat das weh! Als er sich jedoch vorbeugte und auf ihren Oberschenkel pustete, um den Schmerz zu lindern, konnte sie trotz der Schmerzen ihre Gefühle nicht mehr unterdrücken.

Einem Impuls folgend, streckte sie die Hand aus und fuhr ihm durch die dunklen Locken.

Sie war noch nie mit einem Mann ausgegangen, der langes Haar hatte. Bastiens Haar fiel ihm wie ein glänzender schwarzer Vorhang bis auf die Schultern.

Außerdem war es unglaublich weich. Das hatte sie nicht erwartet. Bei den meisten Männern, die sich das Haar wachsen ließen, sah es ungepflegt aus, und die Spitzen waren kaputt. Oder es war strähnig, sodass man den Eindruck bekam, dass es dringend gewaschen werden müsste. Bastiens Haar hingegen war so weich und glänzend, dass er damit in einem Werbespot für Shampoo hätte auftreten können. Es war viel weicher und glänzender als ihr eigenes. Unwillkürlich wünschte sie sich, eine wirksamere Pflegespülung zu benutzen oder einen Lockenstab oder irgendetwas anderes, das ihre braunen Locken etwas weniger unspektakulär aussehen ließ. Sie war immer so müde, wenn sie morgens nach Hause kam. Selbst die zusätzlichen Minuten, die es kostete, unter der Dusche eine Haarspülung einwirken zu lassen, waren dann einfach zu viel verlangt.

Als ihre Finger in seine rabenschwarzen Locken eintauchten, hielt Bastien die Luft an. Seine Augen begannen erneut in einem hellen Gelbbraun zu leuchten, während die Augenlider leicht gesenkt blieben.

Melanie kämmte seine volle Mähne auf eine Seite, sodass sie in eleganten Wellen nach vorn über seine Schulter fiel. Mit klopfendem Herzen vergrub sie beide Hände darin und fuhr mit ihren kurz gehaltenen Fingernägeln über seine Kopfhaut.

Ein Knurren – es hörte sich an wie das Schnurren eines Leoparden – drang aus seiner Kehle.

Ihr Puls schlug wie verrückt.

Mit beiden Händen umklammerte Bastien den Behandlungstisch.

»Was machen Sie da, Dr. Lipton?«, fragte er rau.

»Melanie«, korrigierte sie ihn, wobei ihr Herz so laut klopfte, dass sie sicher war, dass Cliff und Joe auf der anderen Flurseite es hören mussten.

»Was machst du da, Melanie?«

Sie fuhr ihm noch einmal durchs Haar. »Das fühlt sich so gut an«, flüsterte sie.

Er stöhnte kehlig auf. Dann beugte er sich vor und legte die Stirn an ihre Schulter.

Sie wartete darauf, dass er den Kopf drehte und sich ihrem Hals widmete, vielleicht hineinbiss. Aber das tat er nicht. Stattdessen verstärkte er den Druck seiner Stirn gegen ihre Schulter, sodass sie ein klein wenig nach hinten gedrückt wurde. Es war offensichtlich, dass er mit sich kämpfte.

»Du musst damit aufhören«, sagte er leise.

»Warum?«

»Jedes Mal, wenn du mich berührst, spüre ich, wie sehr du mich willst, und das steigert mein Verlangen nach dir ins Unermessliche.«

Leidenschaft durchströmte sie. »Ich habe nichts dagegen«, flüsterte sie.

Aufstöhnend drehte Bastien den Kopf und presste seine Lippen auf ihren Hals. »Das solltest du aber.« Er sah auf und betrachtete sie mit diesen unglaublich durchdringenden Augen. Sie leuchteten so hell und waren wunderschön. Und voller Sehnsucht.

Nur Millimeter trennten sie noch voneinander.

Er hob den Kopf, legte die Hand um ihre Wange und fuhr mit dem Daumen über die zarte Haut ihres Wangenknochens.

Noch nie hatte sich Melanie so sehr gewünscht, dass ein Mann sie küsste.

Er beugte sich noch weiter vor und berührte ihre Lippen mit den seinen.

Ihr stockte der Atem.

»Ich kann alles fühlen, was du empfindest«, flüsterte er.

»Ist das der einzige Grund, warum du mich küsst?«

Kaum wahrnehmbar schüttelte er den Kopf. »Du ahnst nicht, wie sehr ich mir wünsche, es wäre so.« Er küsste sie wieder, fordernder, sehnsüchtiger diesmal.

Melanie summte vor Behagen leise vor sich hin, als feuriges Verlangen durch ihre Adern strömte. Mit der Zunge drang er in ihren Mund ein, liebkosend und lockend. Der Kuss war so feurig, dass Melanie glaubte, auf dem Tisch dahinzuschmelzen wie Butter in der Sonne.

Plötzlich unterbrach er den Kuss und hielt sich mit beiden Händen an der Tischkante fest, wobei er wieder die Stirn gegen ihre Schulter presste. »Wir können das nicht tun«, sagte er schroff. »In meinem langen Leben habe ich haufenweise Fehler gemacht, Melanie. Wirklich eine ganze Menge. Und wie ich mich kenne, werde ich noch sehr viele weitere machen. Ich möchte nicht, dass du einer davon bist.«

»Wie kommst du auf die Idee, dass ich ein Fehler sein könnte?« Sie konnte ihn nicht überzeugen, wenn sie nicht wusste, was er dachte.

Unvermittelt richtete er sich auf, seine Schultern waren angespannt und die Augenlider gesenkt, allerdings nicht so tief, dass sie das Glühen nicht hätte sehen können. Obwohl sich Bastien alle Mühe gab, kalt und distanziert zu erscheinen, spiegelten seine Augen die starken Gefühle wider, die in ihm tobten.

»Ich werde das nicht tun.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, säuberte er ihre Wunde und verband sie.

Melanie war beeindruckt, wie gut er sich darauf verstand. »Du machst das richtig gut.« Sie überprüfte den Verband. »Hast du etwa Medizin studiert?«

»Nicht richtig«, antwortete er und warf den ausgedienten provisorischen Verband in den Mülleimer für die Sonderabfälle. »Schon vor langer Zeit hatte ich es satt, mich jedes Mal selbst zu verletzen, wenn ich Eisenstücke, Glassplitter oder Messer aus meinem Körper entfernen musste. Einmal war sogar ein Holzpflock dabei, fast so dick wie dein Handgelenk. Also habe ich mir eine ganze Bibliothek medizinischer Fachbücher gekauft und mir mit deren Hilfe die nötigen medizinischen Fachkenntnisse angeeignet.«

»Dann konntest du also nachvollziehen, worum es in Montrose Keegans medizinischen Forschungen ging?«

»Ja, aber nur zum Teil. Am Anfang habe ich noch seine Aufzeichnungen gelesen und seine Experimente mitverfolgt. Aber mein erklärtes Ziel, Roland zu töten und gleichzeitig eine ganze Armee von Vampiren im Griff zu behalten, die dabei waren, den Verstand zu verlieren, war … na ja …«

»Ein Vollzeitjob?«

»Genau. Wie fühlst du dich? Brauchst du ein Schmerzmittel?«

»Für den Kratzer?«, spottete sie. »Nein.«

Als sie mit ihrem Training angefangen hatte, hatte sie sich am ganzen Körper so wund gefühlt, dass sie gelaufen war wie eine uralte Frau. Sie war gebeugt gegangen und hatte bei jedem Schritt gejammert und geklagt. (Wobei der letzte Teil nicht unbedingt charakteristisch war für eine alte Frau. Aber aus irgendeinem Grund hatte ihr das Jammern geholfen.)

Dennoch hatte sie keine Schmerzmittel genommen. Ihre Trainer hatten betont, wie wichtig es war, sich an die Schmerzen zu gewöhnen, damit sie im Kampf nicht durchdrehte, wenn ihre Verletzungen sie quälten.

Diese Strategie hatte sich offenbar bewährt. Melanie hatte das Gefühl, sich in dieser Nacht ziemlich gut gehalten zu haben.

»Sind die Vampire eigentlich immer so gesprächig, wenn du Jagd auf sie machst?«, wollte sie wissen.

Als er lachte, schien ein Teil der Anspannung aus seinem Körper zu fließen. »Nein. Die meisten brüsten sich mit ihren Heldentaten oder geben verächtliche Kommentare ab – aber nur, bis ich den ersten Treffer gelandet habe. In der Hinsicht war Stuart eine Überraschung – er erinnert mich an Cliff. Auch bei ihm scheint es länger zu dauern, bis das Virus sein Gehirn zerfrisst, sonst wäre er weggerannt. Oder er wäre geblieben, aber ohne auf ein Wort von dem zu hören, was wir ihm sagen.«

»Ich hoffe, dass man ihm vertrauen kann.«

»Das hoffe ich auch.«

»Na ja, in drei Nächten werden wir mehr wissen. Darf ich mitkommen, wenn du ihn triffst?«

»Teufel noch mal, nein! Es könnte eine Falle sein.«

»Umso besser wäre es, wenn du Hilfe hättest …«

»Auf keinen Fall.«

Es war offensichtlich, dass er sich nicht überreden lassen würde. »Na schön. Aber ruf mich wenigstens an, und sag mir Bescheid, wenn du losziehst, um dich mit ihm zu treffen. Nur für den Fall, dass es ein Hinterhalt ist.«

Seine Züge entspannten sich. »Das kann ich machen. Und jetzt würde ich gern mit Cliff sprechen, ehe Richart zurückkehrt. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«

Melanie suchte seinen Blick. »Ich nehme nicht an, dass ich dich dazu überreden kann, mir einen Gutenachtkuss zu geben, oder?«

Sie war sicher, dass er nein sagen würde. Umso überraschter war sie, als er ihr Gesicht in seine großen Hände nahm, sich vorbeugte und ihre Lippen mit einem feurigen Kuss verschloss. Und als sich dann auch noch seine Zunge kühn in ihren Mund vorwagte …

Genau genommen konnte Melanie keinen klaren Gedanken mehr fassen, ganz zu schweigen davon, einen zusammenhängenden Satz zustande zu bringen. Es kam ihr vor, als bestünde sie nur noch aus Gefühlen.

Als Bastien den Kopf hob, leuchteten seine Augen durchdringend. »Gute Nacht, Melanie.«

Ehe sie ein Wort herausbringen konnte, war er auch schon verschwunden.

Drei Nächte später dachte Melanie immer noch über diesen Kuss nach, obwohl sie sich eigentlich auf die Ergebnisse von Joes neuester Kernspintomografie hätte konzentrieren müssen. Das Labor besaß keine Fenster, doch sie wusste durch einen Blick auf die Uhr, dass die Sonne gerade untergegangen war. Um diese Zeit stand Bastien auf und bereitete sich auf die Jagd der kommenden Nacht vor.

Ob er wohl auch an ihren Kuss dachte? Bereute er ihn? Seit jener Nacht hatte Melanie Bastien weder gesehen noch mit ihm gesprochen.

»Hallo.« Als hätte sie ihn mit ihren Gedanken heraufbeschworen, hörte sie plötzlich seine Stimme hinter sich.

Hörbar nach Luft schnappend, wirbelte sie herum. »Hey.« Seine schwarzen Cargohosen, das langärmlige T-Shirt und der schwarze Mantel waren makellos sauber und betonten die Schokoladenseiten seines hochgewachsenen, perfekten Körpers. Neben ihm stand Richart, der ihr kurz zunickte und sich dann in Luft auflöste.

Einige Sekunden lang sprachen weder sie noch Bastien ein Wort, während sein Blick mit einer Intensität über ihren Körper wanderte, als würde er sie von Kopf bis Fuß mit den Händen erforschen.

»Also«, sagte sie, als er keinerlei Anstalten machte, ihr einen Begrüßungskuss zu geben. »Heute Nacht ist es so weit, nicht wahr? Heute Nacht triffst du dich mit Stuart?«

Er nickte. »Ich dachte, ich schaue erst noch bei Cliff vorbei.«

Also war er wegen Cliff gekommen. Nicht ihretwegen. Allerdings hielt sich ihre Enttäuschung in Grenzen, denn seine Augen glühten vor Verlangen.

»Natürlich.« Melanie erhob sich von ihrem Stuhl, aber statt ihn in Cliffs Apartment zu führen, brachte sie ihn in ihr Büro. Sie schob die Schlüsselkarte zurück in die Hosentasche, tippte ihren persönlichen Sicherheitscode ein, wartete auf das Piep und öffnete die Tür. »Es dauert nur eine Minute.« Sie schnappte sich den weißen Laborkittel, der über ihrem Bürostuhl hing, und wollte gerade hineinschlüpfen.

Bastien trat hinter sie, nahm ihr den Kittel ab und hielt ihn ihr hin, damit sie ihn leichter anziehen konnte. Seine Hände verharrten auf ihren Schultern.

»Das ist nicht fair«, flüsterte sie, während ihr Herz wie verrückt schlug. Er konnte alles spüren, was sie empfand, während sie keine Ahnung hatte, was ihn bewegte.

»Du hast mir auch gefehlt«, gab er zu. »Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dich in die Arme zu nehmen und zu überprüfen, ob du wirklich so gut schmeckst wie in meiner Erinnerung.«

Lächelnd drehte sie sich zu ihm um.

Sein normalerweise mürrisches Gesicht war so sanft wie das von Richart, wenn der Franzose mit seiner Freundin telefonierte. Sanft streichelte er über ihre Wange. »Leider habe ich keine Zeit zu verlieren, ich muss dringend etwas mit Cliff besprechen.«

»Ich verstehe.« Aufgemuntert durch sein Geständnis, ging sie hinüber zum Schrank, schloss ihn auf und holte drei Injektoren mit dem Betäubungsmittel heraus. Als sie sich zur Tür umdrehte, bemerkte sie, dass Bastien sie stirnrunzelnd musterte. »Nach dem, was mit Vince passiert ist, habe ich immer etwas von dem Betäubungsmittel dabei, wenn ich zu Cliff oder Joe gehe – für den Fall, dass einer von ihnen einen psychotischen Anfall hat. Ich will nicht dabei zusehen, wenn man auf sie schießt, um sie in den Griff zu bekommen.«

»Musstest du es schon mal einsetzen?«

Sie zögerte. »Ein Mal.«

Sein Blick wurde grimmig. »Wann?«

»Letzte Woche. Bei Joe. Er …«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

Auch wenn Sie es ihm lieber nicht gesagt hätte, hatte sie das Gefühl, dass er die Wahrheit verdiente. »Er hat sich so sehr geschämt für sein Verhalten. Er wollte mir nicht wehtun. Er hat einen der Wachmänner angegriffen … Ich hatte Angst, dass du …«

»Ich mit ihm dasselbe machen würde wie mit Vince?«

»Ja.«

Seine Lippen wurden weiß, als er sie fest aufeinanderpresste.

Na ja … schließlich hatte er gefragt. Melanie schob sich an ihm vorbei und ging voran zu Cliffs Apartment. Cliff saß tief eingesunken in die Polster des schwarzen Ledersofas und hatte die Füße vor sich auf den Couchtisch gelegt. Er las in einem Science-Fiction-Roman.

Melanie schenkte dem Wachmann vor der Tür ein Lächeln, ehe sie sie hinter sich schloss.

»Wollt ihr beide allein sein?«, fragte sie etwas verspätet.

Bastien schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich gar nicht mit Cliff reden.«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, bemerkte Cliff fröhlich, während er sich erhob und sich zu ihnen gesellte.

»Ich verstehe nicht.«

»Ich wollte mit dir reden«, erklärte Bastien, »und sichergehen, dass uns niemand belauschen kann.«

Sie musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. Wenn er jetzt mit einer langatmigen Erklärung ankam, warum er nicht wollte, dass sie ihm weiter nachstellte …

An diesem Punkt kamen ihre Gedanken ins Stocken. Moment mal. Hatte sie ihm etwa nachgestellt? Noch nie zuvor war sie diejenige gewesen, die sich in einer Beziehung offensiv verhielt.

Schon wieder dieses Wort: Beziehung.

»Was ist los?«, fragte sie so beiläufig wie möglich.

»Ich habe gespürt, dass du gelogen hast, und wollte wissen, warum«, erwiderte Bastien.

Cliffs Blick wanderte zwischen ihnen hin und her.

»Wann genau?«

»Bei dem Treffen. Als du behauptet hast, kein Gegenmittel für die Droge zu haben.«

Oh verdammt! »Und warum hätte ich lügen sollen?«, bluffte sie.

»Als ich dich berührt habe, habe ich ganz genau gespürt, dass du Schuldgefühle hattest.«

Heilige Scheiße! »Also deine Begabung kann einem wirklich den letzten Nerv rauben.«

»Ach, hast du das auch schon gemerkt?«, witzelte Cliff.

Nachdem Bastien ihm einen wütenden Blick zugeworfen hatte, drehte er sich wieder zu Melanie um. »Also hast du ein Gegenmittel gefunden?«

Sie öffnete den Mund, um zu antworten.

Plötzlich streckte Bastien die Hand aus und berührte ihr Gesicht. »Hast du?«

So ein verdammter Mist! Wenn sie log, würde er das sofort merken.

»Dein Zögern verrät mir, dass es so ist. Warum hältst du es vor den Unsterblichen geheim?«

Sie seufzte. »Du bist selbst ein Unsterblicher, Bastien. Je schneller du dich damit abfindest …«

»Desto schneller was? Desto schneller heißen sie mich in ihrem Kreis willkommen und lieben mich wie einen Bruder? Dazu wird es niemals kommen. Bitte beantworte meine Frage.«

Cliff räusperte sich. »Sie glaubt, ein Gegenmittel gefunden zu haben, traut sich aber nicht, es zu testen, weil es möglicherweise zu belastend ist für das Herz. Der Herzschlag könnte sich so stark beschleunigen, dass es stehen bleibt … oder so ähnlich.«

Melanie knurrte wütend. »Das habe ich dir im Vertrauen erzählt!«

»Ich weiß. Aber wenn es funktioniert, wäre das Mittel Bastien eine große Hilfe.«

Bastien ließ die Hand sinken, wobei er ihren Arm und ihre Hüfte streifte. »Erzähl mir alles.«

Sie seufzte. »Es handelt sich um ein Aufputschmittel. Eins, das so stark ist, dass ich es nicht einmal einem komatösen Elefanten verabreichen würde.«

»Genau das, was wir brauchen. Wo liegt das Problem?«

Aus Melanies Sicht lag das auf der Hand. »Wenn du tatsächlich ein Untoter wärst, so wie die Vampire in der klassischen Mythologie, würde ich mir keine Sorgen machen. Aber das bist du nicht. Dein Herz schlägt. Und das Virus kann zwar viele Verletzungen heilen, benötigt dafür aber einen intakten Blutkreislauf. Selbst wenn das Aufputschmittel genauso wie die Droge stark genug sein sollte, um nicht von dem Virus neutralisiert zu werden, besteht die Gefahr, dass es nicht einfach nur die Wirkung des Betäubungsmittels aufhebt, sondern Kammerflimmern auslöst. Dein Herz würde aufhören zu schlagen und nur noch zittern – was zur Folge hätte, dass es kein Blut mehr durch deinen Körper und dein Gehirn pumpen würde.«

Cliff sah Bastien an. »Ich habe versucht, sie dazu zu überreden, die Substanz an mir auszuprobieren. Bei mir ist ohnehin Hopfen und Malz verloren. Mein Gehirn ist bereits geschädigt, was habe ich also noch zu verlieren? Aber sie weigert sich.«

Bastien gab Cliff einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Aua! Was sollte das denn?«

»Du bist hier, weil wir verhindern wollen, dass das Virus dein Hirn weiter zerfrisst. Wir haben nicht vor, diesen Prozess auch noch zu beschleunigen.«

Zum Glück war sie nicht die Einzige mit dieser Meinung.

»Ich danke dir«, sagte Bastien an sie gewandt.

Sie nickte.

»Du brauchst also mehr Zeit? Um weitere Tests durchzuführen?«

»So ist es.« Sie wusste nur nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte.

»Wie wird das Mittel verabreicht? Wenn ein Unsterblicher einen Betäubungspfeil abbekommen hat, hat er nicht viel Zeit zu reagieren, bevor er das Bewusstsein verliert.«

»Ich habe es in Autoinjektoren gefüllt, so ähnliche wie die, die wir neulich benutzt haben.«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Eine Subkutanspritze gibt den Wirkstoff schneller ab und ist einfacher zu bedienen. Du hast gesagt, dass sie den Autoinjektoren ähneln, die wir neulich benutzt haben. Sie sind also nicht identisch?«

»Nein.«

»Würdest du mir eine von diesen Injektoren zeigen? Auch wenn ich nicht viel von dem Wirkstoff selbst verstehe, kann ich dich wenigstens beraten, wie er am leichtesten zu verabreichen ist.«

»Na klar. Ich hole einen.«

Bisher hatte Melanie nur drei Injektoren mit der Substanz befüllt. Sie holte einen aus dem Labor und ließ die anderen beiden in einem verschlossenen Schrank zurück.

Als sie in Cliffs Apartment zurückkehrte, redeten Cliff und Bastien aufgeregt aufeinander ein, allerdings unhörbar für menschliche Ohren. Was ein ziemlich interessanter Anblick war, da sie so heftig miteinander diskutierten, dass man glauben konnte, sie hätten einander angebrüllt, wären sie wirklich allein gewesen.

Im Stillen hoffte Melanie, dass Bastien Cliff darum bat, sie nicht mehr zu drängen, die Droge an ihm zu testen. Etwas so Riskantes konnte und wollte sie einfach nicht tun.

Als sie eintrat, verstummten sie sofort. Sie schloss die Tür hinter sich und ging auf Bastien zu, um ihm den Injektor zu geben.

Er drehte ihn in den Händen und öffnete schließlich die Verschlusskappe. »Könnte man den Verschluss auch ganz weglassen? Dann wäre es schneller einsatzbereit. Abgesehen davon waren meine motorischen Fähigkeiten etwas eingeschränkt, als ich betäubt wurde.«

»Wenn man die Kappe abnimmt, entsichert man damit gleichzeitig den Autoinjektor. Man darf die Kappe nicht entfernen, bis man ihn einsetzt.«

»Funktioniert das wie Adrenalin? Muss man den Wirkstoff ins Bein spritzen?«

»Nein. Wie bei dem Betäubungsmittel ist es egal, wo man es hinspritzt.«

»Also sticht man die Nadel ein und wartet drei Sekunden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Zehn.«

»Zehn Sekunden sind zu lang. Entweder haben wir es mit Vampiren zu tun, die sich in Sekundenbruchteilen fortbewegen, oder wir kämpfen gegen Menschen mit automatischen Waffen. Könnte man den Zeitraum halbieren?«

»Wir wissen aber nicht, wie das Virus darauf reagiert, wenn die Substanz zu schnell verabreicht wird.«

Ein leises Plopp war zu hören. Melanie sah nach unten und stellte fest, dass Bastien die Kappe heruntergeschnippst hatte. Er folgte ihrem Blick. »Oh. Tut mir leid.«

Sie lächelte. »Ich hab sie schon.« Melanie beugte sich vor, um die Kappe aufzuheben. Plötzlich ergriff sie eine Vorahnung, und ein Schauer lief ihr über den Rücken – aber die Warnung kam zu spät.

Cliff machte einen Sprung nach vorn.

Vor Schreck schnappte Melanie nach Luft, als er sie fest packte, gegen sich presste und dann in den hinteren Teil des Raums zog, sodass sich das Sofa zwischen ihnen und Bastien befand.

»Cliff?« Vergeblich versuchte sie, sich zu befreien.

Er packte sie noch fester und zog sie weiter nach hinten.

Heilige Scheiße! Hatte er einen Anfall? Da er bislang noch keinen gehabt hatte, hatte sie auch nicht damit gerechnet.

In diesem Augenblick drehte sich Bastien zu ihnen um.

»Es ist alles in Ordnung!«, platzte Melanie heraus, da sie Angst hatte, dass er den Vampir angreifen würde. »Ich …«

Im selben Moment, als sie die zitternde Hand in ihre Hosentasche schob, tastete Bastien nach seiner eigenen und zog die Autoinjektoren mit dem Betäubungsmittel heraus, die sie eigentlich jetzt in der Hand hätte haben müssen.

Hatte er ihr tatsächlich die Injektoren geklaut? Aber wann? »Was soll das …?

Er hob die Hand mit den drei Injektoren, entfernte die Plastikschutzhüllen mit den Zähnen und spuckte sie aus, sodass sie zu Boden fielen.

»Bastien …«

Mit einer schnellen Bewegung rammte er sich die Nadeln in den Hals und injizierte sich die Flüssigkeit.

»Was zum Henker machst du da? Bist du wahnsinnig?«, schrie sie, die Stimme schrill vor Angst.

»Wir müssen doch ausprobieren« – er hob die Hand mit dem ungetesteten Gegenmittel – »ob das funktioniert.«

Panik überwältigte sie, als sie begriff, was er vorhatte. Cliff hatte keinen Anfall. Bastien hatte vor, dieses verdammte Serum zu testen.

»Das kannst du nicht machen!« Sie versuchte mit aller Kraft, sich zu befreien, musste aber feststellen, dass sie gegen einen Vampir keine Chance hatte. »Cliff, lass das nicht zu. Ich flehe dich an!«

»Das ist seine Entscheidung, Dr. Lipton.«

Als ihn die Wirkung der dreifachen Dosis des Betäubungsmittels mit voller Wucht traf, schwankte Bastien.

»Es könnte ihn töten!«

Cliff schwieg.

»Bastien, bitte! Tu das nicht.«

Taumelnd machte Bastien einen Schritt nach hinten und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Er hob die Hand mit dem Autoinjektor, in dem sich das Gegenmittel befand, und injizierte sich die Substanz in die andere Halsseite.

Melanie war wie gelähmt vor Angst. Sie brachte keinen Ton heraus und konnte ihn nur angsterfüllt anstarren, während die Sekunden vergingen.

Eins. Zwei. Drei. Vier.

Bastien kippte zur Seite und wäre beinahe gestürzt, fand aber das Gleichgewicht wieder, indem er sich auf dem Sofa abstützte.

Neun. Zehn.

Er ließ den Autoinjektor los, sodass dieser polternd zu Boden fiel.

»Und?«, fragte Cliff, dessen Gesicht sie zwar nicht sehen konnte, aber die Besorgnis schwang deutlich in seiner Stimme mit.

»Ich glaube nicht, dass es funktioniert.« Bastien schloss die Augen. »Ich spüre nur, dass die Droge mich lähmt.« Er sprach langsam und mit schwerer Zunge.

Damit hatte Melanie nicht gerechnet. Auf die Idee, dass die Substanz überhaupt keine Reaktion hervorrufen könnte, war sie nicht gekommen. Dass dieses verdammte Aufputschmittel überhaupt keine Wirkung haben könnte.

Beruhigend tätschelte sie Cliffs Arm. »Du kannst mich jetzt loslassen.«

Sanft drückte er ihre Schultern, ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Es tut mir leid, Bastien hat mich um meine Hilfe gebeten. Nach allem, was er für mich getan hat, konnte ich nicht nein sagen, auch wenn er mir mit seinem Plan eine Heidenangst eingejagt hat.«

Sie nickte und machte einen Schritt in Bastiens Richtung.

Seine Knie gaben unter ihm nach.

Mit einem Hechtsprung setzte Cliff über das Sofa und fing den Unsterblichen auf. Er schlang einen Arm um seine Schultern und führte ihn um das Sofa herum, damit sie sich setzen konnten.

»Du spürst wirklich überhaupt nichts?«, fragte Melanie.

Die Antwort war ein Kopfschütteln. »Hast du noch mehr davon?«

»Bastien …«

»Hol es her. Vielleicht war die Dosis nicht hoch genug.«

Der Unsterbliche kippte nach vorn, stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien ab und ließ den Kopf zwischen die Beine sinken.

Tausend Gedanken schwirrten Melanie durch den Kopf, während sie aus dem Apartment stürmte und den Flur hinunter zum Labor rannte.

»Ist alles in Ordnung, Doc?«, rief einer der Wachmänner hinter ihr her, während sie ihre Schlüsselkarte durchzog und mit zitternden Fingern den Sicherheitscode eintippte.

»Ja.«

»Sind Sie sicher? Sie sehen ein wenig …«

Ein Summen ertönte.

Melanie riss die Tür auf und beeilte sich, die beiden restlichen Autoinjektoren aus dem Schrank zu holen.

Es hatte nicht funktioniert. Das Aufputschmittel hatte keine Wirkung gezeigt. Wie war das nur möglich? Sie hatte nicht übertrieben, als sie gesagt hatte, dass sie es nicht einmal an einem komatösen Elefanten testen würde. Ein Mensch würde es nicht überleben, wenn man ihm das Mittel injizierte. Er würde sterben, und zwar sehr schnell.

Und Bastien spürte überhaupt nichts.

Nachdem sie die Tür wieder hinter sich zugezogen hatte, marschierte sie eilig zurück zu Cliffs Apartment.

»… verstört aus«, sagte der Wachmann.

»Wie bitte?«, fragte sie abwesend.

»Sie sehen etwas verstört aus. Sind Sie ganz sicher, dass …?«

»Ich bin in Ordnung.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Es war einfach ein harter Tag. Oder besser gesagt: eine harte Nacht.«

Er musterte sie zweifelnd. »Nun ja, wir sind jedenfalls hier, wenn Sie uns brauchen.«

»Ich danke Ihnen, Mark. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«

Sobald sie das Apartment betreten hatte, beeilte sie sich, die Tür hinter sich zu schließen, und ging um das Sofa herum. »Irgendeine Veränderung?«

Als Antwort schüttelte Cliff nur den Kopf.

Bastien hob den Kopf und streckte auffordernd die Hand aus.

Als Melanie für ihn die Kappe von der Spritze abziehen wollte, machte er eine abwehrende Geste.

»Ich muss das allein schaffen.«

Sie reichte ihm den Autoinjektor.

Ungeschickt entfernte er den grünen Sicherheitsverschluss und injizierte sich die Substanz in den Oberschenkel, wobei er den Injektor zehn Sekunden lang festhielt, so wie Melanie es ihm beschrieben hatte.

Gespannt hielt sie den Atem an.

»Spürst du was?«, erkundigte sich Cliff.

»Ich glaube schon.« Er streckte die Hand aus. »Gib mir noch eine.«

»Warte lieber noch ein bisschen. Die Wirkung könnte …«

»In einem Kampf hätte ich auch nicht mehr Zeit. Gib mir noch eine.«

Sie gab ihm die letzte Spritze.

Dieses Mal hatte er keine Schwierigkeiten mit der Kappe.

Trotz ihrer Besorgnis verspürte Melanie ein Fünkchen Hoffnung.

Wieder injizierte er sich den Wirkstoff in den Oberschenkel, auch dieses Mal wartete er zehn Sekunden ab.

Bastien hatte recht. Zehn Sekunden waren zu lang. Jetzt, da sie eine genauere Vorstellung hatte von der Dosierung – tatsächlich war es eine aberwitzig hohe Menge –, könnte sie die Zeit halbieren, die es dauerte, die Injektion zu setzen.

Bastien schmiss den Autoinjektor auf den Couchtisch und erhob sich. »In Ordnung. Langsam wird es besser. Ich fühle mich nicht mehr ganz so schwach.«

Er schob Melanie beiseite, entfernte sich vom Sofa und fing an, im Zimmer auf und ab zu laufen.

In Anbetracht all der Ängste, die sie in Bezug auf die ungetestete Substanz durchgestanden hatte, hatte Melanie Mühe, sich ein Gefühl der Ernüchterung zu verkneifen.

Der Gedanke war ihr kaum durch den Kopf geschossen, da schoss Cliff urplötzlich durch das Zimmer, packte Bastien und schleuderte ihn an die gegenüberliegende Wand.

Fast wäre Melanie das Herz stehen geblieben.

Bastien gab einen unartikulierten Laut von sich und stürzte sich in den Kampf.

Während Melanie die beiden mit großen Augen und offenem Mund anstarrte, krachten Bilderrahmen und große Stücke Rigips zu Boden. Es war unmöglich, Einzelheiten auszumachen, während die beiden gegeneinander kämpften, wobei sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch das Wohnzimmer bewegten. Um sie herum begannen sich die Überreste zerschmetterter Möbelstücke aufzutürmen. Ihr Kampf wurde untermalt von gelegentlichen Knurrlauten, Flüchen und dem lauten Krachen zerberstenden Mobiliars.

Hektisch sah sich Melanie im Zimmer um. Die Wachmänner zu alarmieren kam nicht in Frage. Allerdings – wenn die beiden weiterhin so laut waren, wäre das ohnehin nicht mehr nötig. So sehr, wie die Wachleute den Unsterblichen verabscheuten, würden sie sie wahrscheinlich einfach nur aus dem Weg schubsen und das Feuer eröffnen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wen sie trafen und wie schwer sie die Getroffenen verwundeten. Melanie wollte aber nicht, dass einer der beiden Männer verletzt wurde.

Sie konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, als das Sofa in seine Bestandteile zerfiel.

Wenn man den Vampiren erlaubt hätte, vollständig eingerichtete Küchen in ihren Apartments zu haben (zu viele scharfe und stumpfe Gegenstände, die als Waffe eingesetzt werden konnten), dann hätte sie es mit der altbewährten Methode versucht: Sie hätte sich eine Bratpfanne geschnappt und den beiden gesunden Menschenverstand eingebläut. Was konnte man sonst noch …

Ihr Blick fiel auf die Barhocker. Die Vampire hatten die Erlaubnis, in ihren Apartments ein paar Snacks für zwischendurch aufzubewahren, Müsli und Zutaten für ein Sandwich. Außerdem gab es eine Frühstückstheke, an der sie essen konnten.

Melanie duckte sich, als die beiden über sie hinwegflogen. Dann rannte sie zur Küchentheke, schnappte sich einen der hölzernen Barhocker mit schwarzem Sitzpolster und marschierte in die Mitte des Zimmers. Als die beiden wieder in ihre Nähe kamen, ringend und Knurrlaute ausstoßend, versuchte sie vorauszusehen, in welche Richtung sie taumeln würden, und holte aus. So weit und fest sie konnte.

Wuuummm! Als der hölzerne Barhocker auseinanderbrach, flog das Sitzpolster durch die Luft, und sie hielt nur noch ein hölzernes Stuhlbein in der Hand.

Bastien wurde langsamer, beugte sich vor und griff sich an den Kopf. »Autsch! Verdammt, das hat wehgetan!«

Cliff war ebenfalls stehen geblieben und wich geschickt aus, als Melanie erneut mit dem Stuhlbein ausholte. »Warte! Spieß mich nicht damit auf!«

»Rühr dich ja nicht von der Stelle, Cliff«, warnte sie ihn mit klopfendem Herzen, wobei sie das Stuhlbein so fest umklammerte, dass sie sich wunderte, dass sich keine Holzsplitter in ihre Hand bohrten. »Bleib einfach da stehen.«

Dann schob sie sich zwischen die beiden Männer, mit dem Rücken zu Bastien.

Cliffs Augen begannen gelbbraun zu leuchten. Beschwichtigend hob er die Hände und trat den Rückzug an. »Bitte schlag mich nicht. Ich bin nicht verrückt geworden.«

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, schüttelte sie den Kopf. »Aber deine Augen leuchten.« Sie musste vorbereitet sein, für den Fall, dass er sie angriff. Da er direkt vor ihr stand, würde sie allerdings Schwierigkeiten haben, ihn zu treffen.

»Wenn meine Augen leuchten, dann nur, weil ich Spaß habe.«

»Darauf wette ich.«

»Nicht so. So habe ich das nicht gemeint. Dieser kleine Kampf war für mich die größte Herausforderung seit diesen ganzen Stärke- und Ausdauertests, denen du mich vor ein paar Jahren unterzogen hast. Es ist einfach ein gutes Gefühl, mal wieder aktiv zu sein.«

»Aktiv? Du hast Bastien angegriffen!«

»Weil ich ihn darum gebeten habe«, meldete sich Bastien hinter ihr zu Wort.

Sie riskierte einen Blick über die Schulter. Auf Bastiens Stirn prangte eine große rote Beule. »Wie bitte?«

»Ich habe ihn gebeten, mich anzugreifen.«

Erstaunt ließ sie das Stuhlbein sinken und starrte ihn an. Die Beule auf seiner Stirn verfärbte sich dunkel, heilte und verschwand. Die Angst, die Adrenalin heiß durch Melanies Venen gejagt hatte, verwandelte sich in kalte Wut. »Du hast was getan?«, brüllte sie fassungslos.

Verwirrt sah Bastien Cliff an. »Soll ich es noch einmal wiederholen?«

»Darauf würde ich verzichten«, riet ihm der Vampir klugerweise und trat den Rückzug an.

Bastien sah Melanie an. »Ich wollte mich nur vergewissern, ob ich trotz des Gegenmittels einem Kampf gewachsen bin. Nur für den Fall, dass meine Atmung oder mein Herz … Na ja, ich wollte wissen, wie lange es dauert, bis ich meine Kraft und Schnelligkeit zurückgewonnen habe.«

Unglaublich! Fassungslos warf Melanie das Stuhlbein fort. »Das alles war geplant?«

»Ja«, bestätigte Bastien.

»Von euch beiden.«

»Ja.«

»Ohne euch vorher mit mir abzusprechen.«

Leicht verunsichert sah Bastien zu Cliff. »Ja.«

»Verdammt noch eins, bevor ihr so was noch mal macht, warnt mich gefälligst vorher!«, rief Melanie aufgebracht. Sie hatte am ganzen Leib gezittert, in dem Glauben, dass Cliff einem dieser unvorhersehbaren gewalttätigen Anfälle zum Opfer gefallen war, mit denen auch Joe zu kämpfen hatte. Halb verrückt vor Angst, dass Bastien ihm wehtun oder ihn sogar töten könnte oder dass umgekehrt Cliff Bastien verletzen oder töten könnte, weil er von dem Betäubungsmittel geschwächt war … Und die beiden Männer standen vor ihr wie zwei Kinder, die sich am Samstagmorgen beim Anschauen von Zeichentrickserien ein bisschen auf dem Teppich vor dem Fernseher gebalgt hatten!

Plötzlich wurden Cliffs Augen groß.

»Was ist los?«, knurrte sie.

»Nichts, gar nichts«, antwortete er schnell. »Ich habe dich nur … Ich habe dich nur noch nie zuvor fluchen hören.«

»Dann solltest du dich besser daran gewöhnen, denn jetzt, wo ich mehr Zeit mit ihm verbringe« – mit dem Daumen deutete sie auf Bastien – »wirst du das wahrscheinlich noch häufiger erleben.«

»Hey, jetzt warte mal einen Moment«, sagte Bastien, der inzwischen nicht mehr so unbeschwert wirkte. »Ich dachte, wir hätten vereinbart, dass wir nicht …«

»Du hast soeben jede Chance verspielt, mich in naher Zukunft loszuwerden – und zwar, indem du dir drei Mal einen ungetesteten Wirkstoff injiziert hast, von dem ich überzeugt war, dass er dich töten würde«, herrschte sie ihn an. »Folglich bleibt mir gar nichts anderes übrig, als dich mindestens die nächsten vierundzwanzig Stunden im Auge zu behalten. Herzlichen Glückwunsch! Das hast du einzig und allein dir selbst zuzuschreiben!«