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Auszug aus dem Protokoll der Verhandlung gegen Ruth Rawlinson unter der Anklage des Meineids und der Verschwörung. Vertreter der Anklage Gilbert Marshall, Q. C., Verteidiger Anthony Johns, Q. C.

 

Marshall: Lassen wir einmal diese reichlich nebulöse Frage des Motivs beiseite und wenden wir uns den Ereignissen zu, die sich im September letzten Jahres abgespielt haben, insbesondere an dem Abend des 26. dieses Monats, einem Montag. Das Gericht würde es begrüßen, wenn Sie darlegen würden, wie sich aus Ihrer Sicht dieser unselige Abend abgespielt hat.

Morse: Meiner Ansicht nach handelte es sich um eine Verschwörung, Philip Lawson zu ermorden, an der Pfarrer Lionel Lawson, Paul Morris und Harry Josephs beteiligt waren. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß die Aussage der Angeklagten über die Ereignisse des Abends im wesentlichen der Wahrheit entsprechen, das heißt, soweit sie ihr bekannt waren, denn ich bin sicher, daß Miss Rawlinson über den genauen Ablauf der Tat nicht informiert war, da sie an dem Mord weder aktiv beteiligt war noch ihn mit eigenen Augen angesehen hat.

Marshall: Ich darf Sie bitten, sich auf die eigentliche Frage zu beschränken, Inspector. Inwieweit die Angeklagte an diesem Verbrechen beteiligt ist, muß das Gericht entscheiden.

Morse: Wenn ich Vermutungen über die Abfolge der Ereignisse an diesem Abend anzustellen hätte, würden sie in etwa so aussehen: Lionel Lawson hatte irgendwie seinen Bruder davon überzeugen können, daß es zu seinem Vorteil wäre, an diesem Abend zu einer bestimmten Zeit in der Kirche zu sein. Daß er ein Glas Rotwein nicht ablehnen würde, während sie dort warteten, brauchte er nicht zu befurchten. Der Wein war mit Morphium versetzt. Daß der an diesem Abend in der Kirche tot aufgefundene Mann an einer Morphiumvergiftung gestorben war, geht aus dem Obduktionsbefund klar hervor. Wo das Morphium herkam, hat sich allerdings trotz gewissenhafter Ermittlungen nicht feststellen lassen. Doch einer der drei Beteiligten hatte früher einmal täglichen Zugriff zu zahlreichen Produkten der pharmazeutischen Industrie gehabt, er hatte nämlich eineinhalb Jahre als Apothekengehilfe in Oxford gearbeitet. Ich meine Harry Josephs, Sir. Und es war meiner Ansicht nach Josephs, von dem der Vorschlag ausging und der dem Wein die tödliche Dosis Morphium zusetzte.

Marshall: Können Sie uns sagen, warum der Mann erstochen wurde, obgleich er schon tot war?

Morse: Ich glaube nicht, daß er schon tot war, Sir. Allerdings dürfte er sehr bald, nachdem er den Wein getrunken hatte, das Bewußtsein verloren haben. Es war aber wichtig, daß der Tod eingetreten war, wenn die Polizei eintraf. Es bestand sonst die Möglichkeit, daß er sich wieder erholte und auspackte. Daher das Messer. Und mit Ihrer Erlaubnis, Sir, die entscheidende Frage ist nicht, warum er erstochen wurde, sondern weshalb man ihm Morphium gegeben hat. Meiner Ansicht nach geschah dies, weil es zu Lionel Lawsons Plan gehörte, seinen Bruder umzuziehen, und wenn man einen Menschen erstochen hat und ihn dann umziehen will, geht das nur, wenn man das Messer herauszieht und danach noch einmal zusticht. Josephs hatte verabredungsgemäß den braunen Anzug, den er sonst immer trug, an diesem Abend nicht an, sondern hatte ihn mit in die Kirche gebracht. Er dürfte in dem Paket gewesen sein, das Miss Rawlinson in ihrer Aussage erwähnt. Es war klar, daß die Polizei die Sachen des Toten genau untersuchen würde, und nur durch einen Kleidertausch ließ sich die Täuschung mit hundertprozentiger Sicherheit bewerkstelligen. Also zogen sie Philip Lawson, nachdem er bewußtlos in der Sakristei zusammengebrochen war, die Kleider aus und Josephs Sachen an, ein vermutlich schwierigeres und langwierigeres Unterfangen, aber sie waren zu dritt und hatten viel Zeit. Dann streiften sie ihm Josephs Soutane über, und jetzt war der Augenblick der Wahrheit für Lionel Lawson gekommen. Ich nehme an, daß er die anderen beiden weggeschickt hat und dann führte er eine Tat zu Ende, zu der er schon einmal angesetzt, bei der er damals aber kläglich versagt hatte. Er sah auf seinen Bruder herunter, den er nun schon so lange haßte, und stach mit dem Papiermesser zu. Wie gesagt — ich glaube nicht, daß Philip Lawson zu diesem Zeitpunkt schon tot war, und darin sehe ich mich durch die Aussage der Angeklagten bestätigt, denn was sie gehört hat, dürfte der letzte Seufzer des Sterbenden gewesen sein. Die Polizei wurde sofort verständigt, die Leiche wurde von der Angeklagten und von Paul Morris falsch identifiziert. Alles andere ist Ihnen bekannt.

Marshall: Kommt Ihnen das nicht alles übertrieben kompliziert vor, Inspector? Ich jedenfalls habe diesen Eindruck. Warum hat Pfarrer Lionel Lawson seinen Bruder nicht einfach allein umgebracht?

Richter: Ich muß den Herrn Anklagevertreter darauf hin weisen, daß hier nicht Pfarrer Lawson vor Gericht steht und die Frage in der formulierten Form unzulässig ist.

Marshall: Danke, Mylord. Darf ich den Zeugen bitten, dem Gericht zu erläutern, warum seiner Ansicht nach Pfarrer Lawson — angenommen, er trägt die Schuld am Tod seines Bruders — an diese Sache nicht sehr viel unkomplizierter herangegangen ist.

Morse: Meiner Meinung nach war für Pfarrer Lawson zweierlei wichtig. Erstens der Tod seines Bruders — und den hätte er, wie Sie sagen, vielleicht auch allein herbeiführen können. Der zweite Punkt war viel heikler, und damit wäre er allein nie fertiggeworden. Er brauchte jemanden, der bereit war, sich als der Tote identifizieren zu lassen und unverzüglich aus Oxford zu verschwinden. Philip Lawson hatte sich etlichen Leuten, unter anderem auch der Angeklagten gegenüber als Lionel Lawsons Bruder zu erkennen gegeben. Hätte man ihn nach dem Mord als den Mann identifiziert, der häufig im Pfarrhaus und in der Kirche gesehen worden war, wäre es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis die Polizei seine wahre Identität ermittelt hätte. Und danach wäre prompt auch anderes heraus gekommen. Sein älterer Bruder hatte schon einmal versucht, ihn umzubringen — mit einem Messer. Die Ermittlungen der Polizei hätten sehr bald in eine bestimmte Richtung geführt, und der Verdacht hätte sich auf Pfarrer Lawson konzentriert. Philip Lawson mußte, wie gesagt, nicht nur sterben, sondern er mußte auch falsch identifiziert werden. Wie das Gericht weiß, ist dies geschehen. Der Tote wurde als Harry Josephs identifiziert, und Harry Josephs verschwand von der Bildfläche. Noch in der gleichen Nacht bezog er die Manning Terrace 14 B, wo er bis zu seinem Tod gewohnt hat. Er hatte Philip Lawsons Sachen mitgenommen, vermutlich hatte man ihm gesagt, er solle sie vernichten. Aber aus verschiedenen Gründen wurde Josephs nervös —»

Marshall: Ehe Sie fortfahren, Inspector, muß ich Sie fragen, ob Ihrer Meinung nach die Beziehung der Angeklagten zu Josephs — nun, sagen wir über die Versorgung mit dem täglichen Bedarf hinausging.

Morse: Nein.

Marshall: Sie kennen die dem Gericht vorliegenden Aussagen einer Zeugin über mehrere Besuche, die Josephs letzten Sommer in der Manning Terrace abgestattet hat?

Morse: Jawohl, Sir.

Marshall: Und Sie glauben, daß diese Besuche nur — äh — gesellschaftlicher Art waren?

Morse: So ist es.

Marshall: Bitte fahren Sie fort, Inspector.

Morse: Ich nehme an — es ist allerdings nur eine Vermutung meinerseits — daß Josephs ab warten sollte, bis sich die Wogen geglättet hatten, um dann Oxford endgültig zu verlassen. Fest steht, daß er von Lionel Lawsons Selbstmord erfuhr und —

Marshall: Es tut mir leid, wenn ich sie schon wieder unterbrechen muß, aber sind Sie der Meinung, daß zumindest bei diesem Unglücksfall Josephs seine Hand nicht im Spiel gehabt haben kann?

Morse: So ist es, Sir. Die Nachricht von Lawsons Tod muß für Josephs ein großer Schock gewesen sein. Er wird sich gefragt haben, was da wohl schiefgelaufen war. Besonders wird ihm die Frage nachgegangen sein, ob Lawson einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte und falls ja, ob er und die anderen darin belastet wurden. Überdies hatte sich Josephs ganz auf Lawsons Regie verlassen. Lawson hatte ihm sein Versteck besorgt, Lawson hatte versprochen, die Abreise aus Oxford zu organisieren. Jetzt war er allein auf sich gestellt, und er muß sich sehr ausgeschlossen vorgekommen sein. Anfang des Winters begann er, sich auf die Straße zu wagen. Zur Tarnung benutzte er Philip Lawsons alte Sachen, den langen, schmutzigen, bis zum Hals zugeknöpften Mantel und eine Sonnenbrille. Er ließ sich auch einen Bart wachsen. Es zeigte sich, daß er in diesem Aufzug überhaupt nicht auffiel. Um diese Zeit muß ihm klargeworden sein, daß es jetzt nur noch einen Menschen gab, der genau wußte, was sich an jenem Septemberabend in der Sakristei abgespielt hatte, nämlich Paul Morris. Den Mann, der ihm seine Frau weggenommen hatte, der sich vermutlich nach Ende des Schuljahres mit ihr zusammentun würde und der an der ganzen Sache recht hübsch verdient hatte, ohne sich allzusehr ins Zeug zu legen. Übrigens habe ich den Eindruck, daß Paul Morris jetzt gar nicht mehr so sehr an einer festen Bindung mit Mrs. Josephs interessiert war, aber das konnte Josephs nicht wissen. Sein Haß auf Morris verstärkte sich, ebenso sein Allmachtsgefühl und die Befriedigung darüber, daß er die Fertigkeiten, die er als Hauptmann einer Kommandoeinheit gelernt hatte, noch beherrschte. Unter einem Vorwand verabredete sich Josephs mit Morris in St. Frideswide’s, tötete ihn und versteckte die Leiche. Bei dem Ermordeten in der Sakristei waren keine Schlüssel gefunden worden. Josephs hatte sie behalten und konnte die Kirche für den Mord an Paul Morris und seinem Sohn Peter nutzen. Den Führerschein hatten sie ihm abgenommen, er konnte also nicht mal einen Wagen mieten. Sonst hätte er vermutlich versucht, die Leichen an anderer Stelle zu deponieren. Am gleichen Abend verabredete er sich mit Peter Morris, den er ebenfalls in der Kirche ermordet haben dürfte. Sicher hatte er zunächst vor, beide Leichen in die Krypta zu schaffen. Nach Anbruch der Dunkelheit steckte er den Jungen in einen Sack und öffnete die Tür am Südportal. Als die Luft rein war, ging er zum Eingang der Krypta im südlichen Teil des Friedhofes — von der Kirche aus rund fünfzehn Meter Fußweg. Doch beim Abstieg brach eine Leitersprosse, und Josephs muß gestürzt sein. Mit einer größeren, schwereren Last konnte oder wollte er dieses Risiko nicht noch einmal auf sich nehmen. Deshalb disponierte er um und transportierte den toten Paul Morris auf den Kirchturm.

Marshall: Und dann beschloß er, seine Frau umzubringen?

Morse: Ganz recht. Ob er zu diesem Zeitpunkt schon genau wußte, wo sie war, ob er mit ihr in Verbindung stand, ob er Paul Morris die Adresse entlockt hat — das alles weiß ich nicht. Aber nachdem die Leiche auf dem Kirchturm entdeckt worden war, stand für ihn fest, daß er Brenda zum Schweigen bringen mußte. Außerdem richteten sich jetzt, nachdem Paul Morris aus dem Weg war, sein Haß und seine Eifersucht voll auf seine Frau. Vorher aber mußte er noch eine gefährliche Aufgabe erledigen. Er mußte zum Haus von Vater und Sohn Morris nach Kidlington fahren und dort den Eindruck erwecken, daß die beiden ausgezogen waren und den Ort verlassen hatten. Ins Haus zu kommen war kein Problem. Bei den Toten wurden keine Schlüssel gefunden, beide müssen aber zumindest einen Hausschlüssel gehabt haben. Als er drin war-

Marshall: Ja, danke. Würden Sie jetzt bitte dem Gericht erklären, welche Rolle die Angeklagte in dem Fall gespielt hat?

Morse: Für mich stand fest, daß Miss Rawlinson nur so lange nichts zu befürchten hatte, wie sie über die Identität der in St. Frideswide’s gefundenen Toten im unklaren war.

Marshall: Und als bekannt wurde, um wen es sich bei den beiden Toten handelte, beschloß Josephs, auch die Angeklagte zu ermorden?

Morse: Jawohl, Sir. Wie Sie wissen, habe ich den Mordversuch miterlebt. Erst in diesem Augenblick begriff ich, wer der Mörder war — und zwar, als ich den Schlips erkannte, mit dem er versuchte, sie zu erwürgen. Es waren die Farben der Kommandoeinheiten der Königlichen Marine.

Marshall: Ja, sehr interessant, Inspector. Aber mußte nicht der Mörder die Angeklagte von Anfang an ebenso furchten wie Brenda Josephs? Und warum, glauben Sie, hat er die beiden Frauen dann unterschiedlich behandelt?

Morse: Ich glaube, daß Josephs seine Frau zum Schluß gehaßt hat, Sir, das sagte ich bereits.

Marshall: Und der Angeklagten gegenüber hat er diesen Haß nicht empfunden?

Morse: Das weiß ich nicht, Sir.

Marshall: Sie behaupten nach wie vor, daß zwischen der Angeklagten und Harry Josephs keine engere Beziehung bestand?

Morse: Ich habe meiner Antwort nichts hinzuzufugen, Sir.

Marshall: Nun gut. Bitte weiter, Inspector.

Morse: Für mich stand fest, wie gesagt, fest, daß Josephs versuchen würde, Miss Rawlinson so bald wie möglich zu töten. Es mußte ihm klar sein, daß jetzt alles sehr schnell gehen würde und daß Miss Rawlinson außer ihm die einzige war, die etwas davon wußte, was sich in Wirklichkeit abgespielt hatte. Deshalb beschlossen mein Kollege, Sergeant Lewis, und ich, den Mörder zum Handeln zu zwingen. Wir ließen einen etwas ungenauen Bericht über den Fall an auffälliger Stelle in der Oxford Mail veröffentlichen, der ihm den Eindruck vermitteln mußte, daß sich das Netz schon um ihn zu schließen begann. Ich dachte mir, daß er vermutlich wieder in St. Frideswide’s zuschlagen würde. Er mußte wissen, wann Miss Rawlinson dort putzte und hatte sich seinen Plan zurechtgelegt. Er ist an diesem Tag sehr früh in die Kirche gegangen und hat sich dadurch der Falle entzogen, die wir ihm gestellt hatten.

Marshall: Aber zum Glück ist es ja noch einmal gutgegangen, Inspector.

Morse: Allerdings. Dank Sergeant Lewis.

Marshall: Ich habe keine weiteren Fragen.

Johns: Soviel ich weiß, haben Sie das Gespräch zwischen meiner Klientin und Josephs vor dem Mordversuch mitangehört, Inspector?

Morse: Jawohl, Sir.

Johns: Ist Ihnen in diesem Gespräch irgend etwas zu Ohren gekommen, was vom Gericht als mildernder Umstand für meine Klientin gewertet werden könnte?

Morse: Ja, ich hörte, wie Miss Rawlinson sagte, daß —

Richter: Ich darf den Zeugen bitten lauter zu sprechen, damit das Gericht ihn verstehen kann.

Morse: Ich hörte Miss Rawlinson sagen, sie habe sich entschlossen, zur Polizei zu gehen und ein rückhaltloses Geständnis abzulegen.

Richter: Danke, Inspector, das wäre alles.