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Lewis hatte einen geschäftigen Vormittag hinter sich. Er hatte mit dem Büro des Coroner die Einzelheiten über die Leichenschau Morris — Vater und Sohn — abgesprochen. Er hatte einen ausführlichen Bericht über die Fahrt nach Shrewsbury geschrieben. Und er hatte gerade den fast wieder genesenen Bell über die neuesten Entwicklungen informiert, als Morse von St. Frideswide’s zurückkam. Er schien abgespannt, aber in gehobener Stimmung zu sein.
«Wann geht die Oxford Mail in Druck, Lewis?»
«Die erste Ausgabe etwa jetzt, glaube ich.»
«Verbinden Sie mich mit dem Redakteur, aber rasch, ich habe was für ihn.»
Morse begann hastig zu kritzeln, und als Lewis ihm den Hörer reichte, war er fertig.
«Bringen Sie das in der heutigen Mail, ja? Und zwar auf der ersten Seite. Kann’s losgehen? Überschrift: VERHAFTUNG IM MORDFALL ST. FRIDESWIDE’S STEHT KURZ BEVOR. Haben Sie das? Gut. Jetzt der Text. Ich will ihn wörtlich haben, nicht daß noch irgendein Schlußredakteur daran herumpfuscht. <Wie die Polizei heute berichtet, sind die langwierigen Ermittlungen im Mordfall Harry Josephs jetzt praktisch abgeschlossen. Es wurde festgestellt, daß ein eindeutiger Zusammenhang zwischen diesem Fall und den Toten besteht, die auf dem Turm bzw. in der Krypta der Kirche gefunden wurden (die Mail berichtete darüber). Sie sind zweifelsfrei als Paul Morris, früher Musiklehrer an der Roger Bacon School in Kidlington, und dessen Sohn Peter Morris, früher Schüler an derselben Schule und Mitglied des Kirchenchores, identifiziert worden. Die Polizei bestätigte auch, daß es sich bei der letzte Woche in einem Schwesternheim in Shrewsbury ermordet aufgefundenen Frau um Brenda Josephs, die Ehefrau von Harry Josephs, handelte. Chief Inspector Morse von der Thames Valley Constabulary teilte Reportern heute mit, daß die Reaktion der Öffentlichkeit auf den Appell der Polizei sehr ermutigend war und daß die Beweise jetzt fast vollständig vorliegen.> Nein, das ändern Sie bitte: <...und daß das Beweismaterial mit Ausnahme einer entscheidenden Zeugenaussage, die in Kürze erwartet wird, lückenlos vorliegt. Auf jeden Fall rechnet man fest mit einer Verhaftung innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden.> Ende des Textes. Alles klar? Erste Seite, und eine fette Schlagzeile, etwa so, als wenn Oxford United gewonnen hätte.»
«Schön wär’s ja», seufzte der Redakteur.
Morse legte auf und wandte sich an Lewis. «Ich habe einen kleinen Auftrag für Sie. Tippen Sie das und bringen Sie’s am Südportal von St. Frideswide’s an.»
Lewis las: «Da mit dem Abbröckeln von Mauerwerk direkt über dem Portal gerechnet werden muß, darf diese Tür bis auf weiteres keinesfalls geöffnet werden.»
«Kommen Sie wieder her, sobald Sie das erledigt haben, Lewis, ich habe Ihnen etwas zu sagen.»
Lewis stand auf und tippte auf den Zettel. «Warum schließen wir die Tür nicht einfach ab?»
«Weil sie nur ein Schloß hat.»
Ausnahmsweise verzichtete Lewis darauf, den Köder zu schlucken. Er spannte einen weißen Bogen ein und stellte das Farbband auf Rot.
Der bucklige Polizeiarzt schaute kurz nach drei in Bells Büro vorbei, wo Morse und Lewis in ernsthaftem Gespräch zusammensaßen.
«Lassen Sie sich nicht stören, Morse. Wollte Ihnen nur sagen, daß wir mit dem Mann, den Sie auf dem Turm gefunden haben, nicht viel weitergekommen sind. Mit Bestimmtheit läßt sich da nicht mehr viel sagen, furchte ich.»
Morse schien weder überrascht noch besonders interessiert. «Vielleicht werden Sie allmählich zu alt für den Job?»
«Sollte mich nicht wundern, Morse. Wir altern alle täglich um vierundzwanzig Stunden.»
Ehe Morse sich zu einer Antwort hatte aufraffen können, war er weg, und Lewis war froh, daß die Unterbrechung so kurz gewesen war. Ausnahmsweise wußte er einmal ganz genau (ziemlich genau jedenfalls), was lief und warum es lief.
Kurz nach halb fünf bog ein Zeitungsjunge auf seinem Rennrad mit nach oben gebogenem Lenker (eine der verrückteren Modeerscheinungen) in die Manning Terrace ein. Ohne abzusteigen, nahm er eine Oxford Mail aus der Leinentasche, die er sich über die Schulter gehängt hatte, faltete sie geschickt mit einer Hand, radelte zur Tür von Nummer 7 und steckte sie durch den Briefkastenschlitz. Die nächsten vier Kunden waren alle auf der rechten Seite, beginnend mit 14 A, wo Ruth Rawlinson gerade vom Einkäufen zurückkam und den Sicherheitsschlüssel ins Schloß steckte.
Sie nahm dem Jungen die Zeitung ab, klemmte sie sich unter den rechten Arm und ging mit den zwei schweren Einkaufstüten ins Haus.
«Bist du das, Ruthie?»
«Ja, Mutter.»
«Ist die Zeitung gekommen?»
«Ja, Mutter.»
«Bring sie mit, Liebes.»
Ruth stellte ihre Einkaufstüten auf den Küchentisch, hängte ihren Regenmantel über einen Stuhl, ging ins Wohnzimmer, beugte sich vor und küßte ihre Mutter auf die Wange, legte ihr die Zeitung in den Schoß, stellte die Gasheizung höher, hätte um ein Haar eine Bemerkung über das Wetter gemacht, fragte sich, warum sie noch nicht verrückt geworden war, dachte daran, daß morgen Mittwoch war... Mein Gott, wie lange hielt sie das alles noch aus? Ihre Mutter — und ihn? Besonders ihn. Gegen ihre Mutter war kaum etwas zu machen, aber gegen ihn... Sie würde nicht hingehen, sehr einfach.
«Ruth! Komm mal her und lies», sagte ihre Mutter.
Ruth las den Artikel auf der ersten Seite. Nein, das durfte nicht wahr sein...
Der Mann auf dem bequemen Sofa mit dem Chintzbezug war nicht überrascht von den Fakten, die der Artikel auf der ersten Seite enthielt. Was ihm zu schaffen machte, waren die Folgerungen. Er las den Artikel viele, viele Male, und immer wieder blieb sein Blick an den Worten hängen «...und daß mit Ausnahme einer entscheidenden Zeugenaussage, die in Kürze erwartet wird, das Beweismaterial vorliegt. Auf jeden Fall rechnet man mit einer Verhaftung innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden.» Am meisten beunruhigte ihn der Hinweis auf die wichtige Zeugenaussage. Er selbst schlug sich schon durch, er brauchte keine Hilfe, aber... Die Entscheidung fiel, wie immer, spontan. Ja, es mußte morgen geschehen. Morgen vormittag.
Und so war es nicht nur Ruth Rawlinson, die entschied, den Mittwochtreff ausfallen zu lassen. Jemand hatte genau die gleiche Entscheidung für sie getroffen.