26
«Es heißt ja, daß man diese industriell hergestellte Wurst als Grundlage für Fibroblasten hernehmen kann», sagte Morse und rieb sich hocherfreut die Hände, als er den mit Würstchen, Eiern und Pommes frites beladenen Teller sah, den Mrs. Lewis ihm hingestellt hatte. Es war Sonntag abend um halb neun.
«Was sind Fibroblasten?»
«Es hat etwas damit zu tun, daß man ein Stück Gewebe abnimmt und am Leben erhält. Ziemlich gruselige Geschichte eigentlich. Wahrscheinlich könnte man auch vom Menschen so ein Stück abnehmen und auf unbestimmte Zeit am Leben erhalten. Unsterblichkeit des Körpers sozusagen.» Er stippte eine goldbraune Fritte in das blaß gelbe Dotter.
«Macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich den Fernseher anstelle?» Mrs. Lewis setzte sich mit einer Tasse Tee zu ihnen und schaltete das Gerät ein. «Mir ist es egal, was sie mit mir machen, wenn ich tot bin, Inspector. Hauptsache, ich bin wirklich hinüber.»
Das waren alte Ängste. Reiche Viktorianer hatten in ihren Särgen komplizierte Apparaturen installieren lassen, damit eine entgegen den Erwartungen der Ärzte wieder zum Leben erwachte Leiche die Kunde vom wiederkehrenden Bewußtsein aus dem Untergrund unverzüglich nach oben melden konnte. Solchen Ängsten entsprangen auch Poes grausig-faszinierende Geschichten über diese Dinge. Und Morse unterdrückte die Bemerkung, daß Leute, deren größte Sorge es war, lebendig begraben zu werden, sich gar nicht aufzuregen brauchten. Die bittere medizinische Wahrheit war, daß dies ohnehin mit ihnen geschehen würde.
«Was bringen sie denn?» fragte Morse mit vollem Munde. Aber Mrs. Lewis hörte ihn nicht. Schon hatte der Fernseher sie — einem modernen Zauberer gleich — in Trance versetzt.
Zehn Minuten später verglich Lewis seinen Totoschein mit den Ergebnissen aus dem Sunday Express, und Morse lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloß die Augen, in Gedanken beschäftigt mit dem Tod und mit Leuten, die in ihr Grab... in ihr Grab gesenkt wurden...
Wo war er nur? Morse zuckte zusammen, blinzelte und war wach. Lewis las noch die letzte Seite des Sunday Express, und auf dem Fernsehschirm stieg ein Butler gemessenen Schrittes die Treppe zum Weinkeller hinunter.
Da war die Lösung. Noch heute vormittag hatte er sie vor Augen gehabt. Lautlos verfluchte Morse seine Blindheit. «In der Gruft sind die irdischen Überreste...» Erregung rann kribbelnd durch seinen ganzen Körper. Er stand auf und zog den Vorhang ein Stück zurück. Es war dunkel, an der Scheibe hingen feine Tröpfchen. Hatte das nicht Zeit? Was war mit einem weiteren nächtlichen Besuch in einer dunklen, verlassenen Kirche gewonnen? Aber Morse wußte, daß er nicht warten konnte, und er wollte es auch gar nicht.
«Tut mir leid, Mrs. Lewis, ich muß Ihnen Ihren Mann noch mal entführen. Aber es dauert nicht lange. Und herzlichen Dank für das gute Abendessen.»
Mrs. Lewis holte schweigend die Schuhe ihres Mannes aus der Küche. Auch Lewis sagte nichts. Er legte die Zeitung zusammen und fand sich damit ab, daß sein System ihm wieder nicht das große Geld gebracht hatte. Immer waren es die angeblich todsicheren Tips, über die er stolperte. Wie in diesem Fall auch, dachte er, während er sich die Schuhe anzog. Und wo, zum Teufel, sollte es jetzt wieder hingehen?
Es zeigte sich, daß die Kirche weder dunkel noch verlassen war. Als sich die Tür am Nordportal knarrend öffnete, sahen sie in gedämpftes Licht.
«Glauben Sie, daß der Mörder hier ist, Sir, und seine Sünden beichtet?»
«Irgendjemand beichtet jedenfalls», sagte Morse halblaut.
Er hatte leises Murmeln gehört und deutete auf die geschlossenen Vorhänge des Beichtstuhls.
Gleich darauf kam eine ihrer Sünden vermutlich ledige, attraktive junge Frau heraus und verließ mit klappernden Absätzen die Kirche, ohne die beiden Männer anzusehen.
«Hübsches Ding.»
«Hm. Mag sein, daß sie was zu bieten hat, Lewis, aber ob Ihnen das so richtig schmecken würde...»
«Wie war das, Sir?»
Kanonikus Meiklejohn kam ihnen auf leisen Gummisohlen entgegen und nahm die lange, grün bestickte Stola vom Hals.
«Welcher von Ihnen möchte den Anfang machen?»
«Bedaure, aber mein Sündenregister ist heute noch nicht lang genug», sagte Morse.
«Wir sind allzumal Sünder», sagte Meiklejohn ernst. «Leider ist nun mal die Sünde der natürliche Zustand der verderbten Menschheit.»
«Hat die Kirche eine Krypta?» fragte Morse.
Meiklejohn kniff ein wenig die Augen zusammen. «Ja, aber — äh — die kann nicht besichtigt werden. Man hat mir gesagt, daß seit zehn Jahren niemand mehr unten war. Die Stufen sind morsch und —»
Wieder fiel ihm Morse ins Wort. «Wie kommen wir hinein?»
Meiklejohn, der diese Tonart nicht gewöhnt war, runzelte verstimmt die Stirn. «Sie können nicht hinein. Jedenfalls nicht jetzt. Ich muß zu einer Sitzung, um —»
«Es dürfte Ihnen bekannt sein, Sir, daß wir nicht hier sind, um Ihr normannisches Taufbecken zu besichtigen. Die Polizei ermittelt in einem Mordfall — in einer Serie von Mordfällen — und erwartet ein gewisses Maß an Unterstützung von der Öffentlichkeit. Und im Augenblick sind Sie die Öffentlichkeit. Wie kommen wir hinein?»
Meiklejohn holte tief Luft. Es war ein langer Tag gewesen, und er war abgespannt. «Sie brauchen mit mir nicht zu reden wie mit einem bockigen Kind, Inspector. Warten Sie, ich hole nur meinen Mantel.»
Er verschwand kurz in der Sakristei. Morse sah, wie abgetragen der dicke dunkle Mantel war. Die schwarzen Schuhe waren alt und rissig.
«Die werden wir brauchen.» Meiklejohn deutete auf eine sechs Meter lange Leiter, die am Südportal lehnte.
Ziemlich umständlich manövrierten Morse und Lewis die lange Leiter auf den Friedhof. Dort folgten sie Meiklejohn über das nasse Gras. Eine Straßenlampe warf mattes Licht auf die unregelmäßigen Gräberreihen zu ihrer Rechten, aber die Kirchenmauer lag in tiefem Dunkel.
«Hier wären wir», sagte Meiklejohn. Seine Gestalt hob sich schwarz über einem etwa eineinhalb mal zwei Meter großen Eisengitter ab, das auf den Rändern eines rechteckigen gemauerten Schachtes lag. Durch die ursprünglich schwarz angestrichenen und jetzt rostfleckigen Gitterstäbe fiel der Strahl der Taschenlampe auf den Schachtboden etwa vier Meter unter ihnen, der mit Papiertüten und Zigarettenschachteln bedeckt war. An der Seite des Schachtes, gegenüber der Kirchenmauer, war eine gebrechlich aussehende hölzerne Leiter, parallel dazu verlief ein metallener Handlauf steil nach unten. Direkt unterhalb der Kirchenmauer war eine kleine Tür zu erkennen, der Eingang zur Gruft.
Minutenlang sahen sie alle drei in das schwarze Loch hinunter und dachten in etwa das gleiche: Sollte man nicht das helle Licht des Tages abwarten, ein Licht, das alle Vorstellungen von grinsenden Schädeln und grausigen Skeletten vertreiben würde? Doch da griff Morse mit den Händen unter die Eisenstäbe und hob das Gitter ohne Mühe hoch.
«Sind Sie sicher, daß seit zehn Jahren niemand mehr hier unten war?» fragte er.
Lewis beugte sich in die Dunkelheit hinunter und tastete nach den Leitersprossen.
«Fühlt sich ziemlich fest an, Sir.»
«Sicher ist sicher, Lewis. Es braucht ja nicht unbedingt noch eine Leiche zu geben.»
Meiklejohn sah zu, wie sie die Leiter nach unten schoben, und als sie fest auf der anderen lag, nahm Lewis die Taschenlampe und begann vorsichtig den Abstieg.
«Schätze, daß vor kurzem jemand hier war, Sir. Eine der Sprossen weiter unten ist kaputt, aber die Bruchstellen sind noch ziemlich frisch.»
«Wahrscheinlich wieder einer unserer Rabauken», sagte Meiklejohn zu Morse. «Sie machen alles kaputt, nur aus Daffke, wie sie es ausdrücken. Aber ich muß jetzt wirklich gehen, Inspector. Tut mir leid, wenn — äh —»
«Schon gut», sagte Morse. «Wenn wir was finden, sagen wir Ihnen Bescheid.»
«Rechnen Sie damit, etwas zu finden?»
Wäre er ehrlich gewesen, hätte er ja sagen müssen. Er rechnete damit, die Leiche eines Jungen namens Peter Morris zu finden. «Eigentlich nicht, Sir. Wir müssen nur jeder Möglichkeit nachgehen.»
«Die Tür ist abgeschlossen», klang es dumpf von unten. «Können Sie —»
Morse warf sein Schlüsselbund herunter. «Sehen Sie zu, ob einer paßt.»
«Wenn nicht, werden Sie wohl wirklich bis morgen früh warten müssen», sagte Meiklejohn. «Mein Schlüsselbund ist genau wie Ihrs, und —»
«Hat geklappt», rief Lewis aus der Tiefe.
Morse wandte sich an Meiklejohn. «Gehen Sie nur. Wie gesagt, wir sagen Ihnen Bescheid, wenn... falls...»
«Vielen Dank. Lassen Sie uns beten, daß nichts gefunden wird, Inspector. Es ist auch jetzt schon schlimm genug, und—»
«Gute Nacht, Sir.»
Äußerst mißtrauisch schwang sich Morse auf die Leiter und bewegte sich unter wiederholten Mahnungen an Lewis, das verdammte Ding auch ja festzuhalten, mit den tastenden Schritten eines Seiltänzerlehrlings nach unten. Auch er sah jetzt, daß auf der Holzleiter die dritte Sprosse von unten in der Mitte durchgebrochen war. Die linke Seite hing in einem Winkel von 45 Grad herunter. Die Splitter waren noch ganz hell. Hier war offensichtlich eine schwere Person heruntergestiegen. Oder jemand, der eine zusätzliche Last auf dem Rücken getragen hatte.
«Glauben Sie, daß hier Ratten sind?» fragte Morse.
«Kann ich mir nicht vorstellen. Hier haben sie ja nichts zu fressen.»
«Leichen vielleicht?» Morse erwog erneut, seine unheimliche Mission bis zum Morgen aufzuschieben. Ein leiser Schauer überlief ihn, als er zu dem hellen Rechteck über sich aufsah, und halb und halb erwartete er jeden Augenblick, dort eine teuflisch grinsende Fratze zu sehen. Er holte tief Luft. «Auf geht’s, Lewis.»
Die Tür knarrte und jaulte in den rostigen Angeln, als Lewis sie langsam aufstieß, und Morse ließ die Taschenlampe nervös hin und her tanzen. Es stellte sich heraus, daß die Stützpfeiler der Kirche bis in die Krypta herunterreichten. Dadurch war eine Reihe steinerner Nischen entstanden, die das unterirdische Gewölbe in kellerartige Gelasse unterteilte, an denen zumindest Lewis nichts Unheimliches finden konnte. Die zweite Nische links jedenfalls ließ keinen Gedanken an Skelette oder Gespenster aufkommen, denn dort lagerte trocken und sicher ein großer Haufen Koks (vermutlich für das frühere Heizsystem der Kirche), darauf lag eine Art Spaten mit langem Griff.
«Bißchen kostenloser Koks gefällig, Sir?» Lewis ging voran, nahm Morse die Taschenlampe ab und leuchtete den überraschend trockenen Innenraum ab. Doch je tiefer sie in die Finsternis eindrangen, um so schwieriger wurde es, sich ein zusammenhängendes Bild von der Anordnung der Gewölbe zu machen, und Morse war schon ein Stück zurückgeblieben, als Lewis den Strahl der Taschenlampe auf einen Stapel von Särgen richtete, deren Deckel krumm und schief über den geschrumpften, konkaven Seitenteilen hingen.
«Leichen gibt’s hier genug», sagte Lewis.
Aber Morse hatte sich umgewandt und starrte düster in die Finsternis. «Es ist wohl am vernünftigsten, wenn wir morgen früh wiederkommen, Lewis. War eigentlich eine blödsinnige Idee, mitten in der Nacht hier rumzukriechen.» Seine Unruhe steigerte sich, als er etwas fast greifbar Bedrückendes in der trockenen Luft witterte. Als Junge hatte er immer Angst vor der Dunkelheit gehabt, und auch jetzt wieder lief es ihm eisig den Rücken hinunter.
Sie machten kehrt. Morse hatte kalten Schweiß auf der Stirn. Er atmete ein paarmal tief durch, und die Aussicht, den Fuß auf die feste Leiter zu setzen, die ihn in die Oberwelt zurückbringen würde, bedeutete Befreiung von der Panik, die ihn zu erfassen drohte. Doch zeigte sich seine Genialität gerade darin, daß er es fertigbrachte, seine Schwächen zu beherrschen und auf wunderbare Weise in Stärken zu verwandeln. Wenn jemand hierherkam, um eine Leiche zu verstecken, konnte es gar nicht ausbleiben, daß er etwas von dieser unvernünftigen Furcht vor der Dunkelheit und vor den Toten, etwas von der Angst spürte, die immer in unserem Unterbewußten herumspukt. Niemand würde sich allein und bei Nacht allzuweit in diese hallenden Gewölbe vorwagen. Als Morse an dem Kokshaufen vorbeiging, stieß er mit dem Fuß an eine Zigarettenschachtel und bat Lewis, sie anzuleuchten. Es war eine goldene Packung Benson&Hedges. Sie war leer. An einer der Schmalseiten stand: «Das Gesundheitsministerium warnt: Zigaretten können Ihre Gesundheit ernsthaft gefährden. Mittlere Teerstufe.» Wann hatte die Regierung entschieden, diese eindringliche Warnung an Raucher vorzuschreiben? Vor drei, vier, fünf Jahren? Wie hatte Meiklejohn gesagt? Seit zehn Jahren sei niemand mehr hier unten gewesen...
«Schauen Sie mal unter dem Koks nach», sagte Morse leise.
Fünf Minuten später hatte Lewis ihn gefunden. Einjunge von elf oder zwölf Jahren, gut erhalten, etwa 1,50m groß, in Schuluniform. Der Schulschlips war so fest um den Hals zusammengezogen, daß er tief ins Fleisch schnitt. Ein Schlips in Rot-Grau. Die Farben der Roger Bacon School, Kidlington.
Im Eingangskorb des Diensthabenden der Thames Valley Constabulary lag noch immer die handgeschriebene Nachricht aus Shrewsbury.