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Als Ruth fünf vor eins noch nicht zu Hause war, begann Mrs. Rawlinson sich ernstlich Sorgen zu machen. Sie ahnte - nein, sie wußte — daß Ruths mittägliche Einkehr im Randolph inzwischen zur Gewohnheit geworden war, und es wurde höchste Zeit, daß sie ihr wieder einmal klarmachte, wo ihre Pflichten lagen. Im Augenblick aber überwog der nackte Mutterinstinkt, besonders, als zehn Minuten nach eins die Nachrichten zu Ende waren, ohne daß ihre Tochter sich hatte blicken lassen. Um Viertel nach eins läutete das Telefon. Mrs. Rawlinsons Hand zitterte, als sie abnahm, und Panik stieg in ihr auf, als der Anrufer seinen Namen nannte.

«Mrs. Rawlinson? Hier Chief Inspector Morse.»

«Mein Gott, was ist passiert?» stieß sie hervor.

«Ist Ihnen was, Mrs. Rawlinson?»

«Nein, gar nichts. Ich... ich dachte nur...»

«Kein Grund zur Sorge.» (Aber klang nicht seine Stimme doch etwas besorgt?) «Ich möchte nur ganz kurz mit Ihrer Tochter sprechen.»

«Tut mir leid, sie ist nicht zu Hause. Sie—» Jetzt drehte sich ein Schlüssel in der Haustür. «Moment bitte, Inspector.»

Ruth erschien vergnügt und mit frischem Gesicht auf der Schwelle.

«Hier, für dich.» Die Mutter drückte ihr den Hörer in die Hand, lehnte sich in ihrem Rollstuhl zurück und überließ sich einer befreienden Aufwallung der Wut.

«Miss. Rawlinson? Hier Morse. Ich habe nur eine Routinefrage. Können Sie mir sagen, ob Pfarrer Lawson eine Brille trug?»

«Ja. Warum?»

«Hatte er sie nur zum Lesen, oder trug er sie ständig?»

«Er hatte sie immer auf. Jedenfalls immer, wenn ich ihn gesehen habe. Eine Brille mit Goldrand.»

«Sehr interessant. Erinnern Sie sich — äh — noch an diesen Stadtstreicher, der manchmal in die Kirche kam?»

«Ja, an den erinnere ich mich», sagte Ruth langsam.

«Hatte er eine Brille?»

«Ich glaube nicht.»

«Das dachte ich mir. Ja, das wär’s zunächst. Wie geht’s Ihnen sonst?»

«Danke, gut.»

«Und Sie tun immer noch Ihr gutes Werk? In der Kirche, meine ich.»

«Ja.»

«Montags und mittwochs, nicht?»

«Ja.» Schon zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit hörte sie diese Frage. Jetzt würde er gleich wissen wollen, um welche Zeit sie hinging. Es war wie eine Wiederholungssendung im Radio.

«Meist so gegen zehn, stimmt’s?»

«Ja. Warum fragen Sie?»

Und warum bekam sie es plötzlich mit der Angst zu tun?

«Nur so. Ich — ähem — dachte nur, daß wir uns vielleicht wieder mal dort sehen.»

«Kann schon sein.»

«Passen Sie schön auf sich auf.»

Warum konnte er nicht auf sie aufpassen? «Mach ich», hörte sie sich sagen.

«Wiederhören.» Morse legte auf und blickte abwesend durch das Fenster auf den asphaltierten Innenhof. Warum war sie immer so gehemmt ihm gegenüber? Warum konnte sie sich nicht zumindest telefonisch ein bißchen gehenlassen?

«Sie stellen aber komische Fragen», sagte Lewis.

«Es waren sehr signifikante Fragen», gab Morse ziemlich hochtrabend zurück. «Lawsons Brille steckte in seiner Manteltasche, als sie ihn fanden. Eine Brille mit Goldrand. Da steht’s.» Er tippte auf die Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. «Und Miss Rawlinson sagt, daß er immer eine Brille trug. Interessant, wie?»

«Sie meinen... Sie meinen, daß es nicht Lionel Lawson war, der —»

«Ich meine ganz im Gegenteil, Lewis, daß es tatsächlich Lionel Lawson war, der sich vom Turm gestürzt hat.»

«Kapiere ich nicht.»

«Nein? Die Sache ist so, Lewis. Kurzsichtige nehmen unweigerlich die Brille ab und stecken sie in die Tasche, ehe sie springen. Spuren von Glas im Gesicht eines Selbstmörders sind deshalb ein sicheres Zeichen dafür, daß es kein Selbstmord, sondern Mord war.»

«Aber woher wissen Sie, daß Lawson kurzsichtig war? Wenn er nun—»

«Ob kurzsichtig, ob weitsichtig — das spielt keine Rolle.»

«Ist das Ihr Ernst?»

«Andere Leute nehmen ja auch die Hörhilfe oder das Gebiß raus, ehe sie in die Badewanne beziehungsweise ins Bett steigen.»

«Meine Frau nimmt ihr Gebiß nie raus, wenn sie ins Bett geht.»

«Was hat Ihre Frau damit zu tun?»

Lewis war drauf und dran, gegen die Ungerechtigkeit einer so albernen Logik zu protestieren, aber dann sah er, daß Morse griente.

«Woher wissen Sie das überhaupt? Das mit den Selbstmördern, meine ich.»

Morse machte ein nachdenkliches Gesicht. «Ich glaube, ich hab’s auf einer Streichholzschachtel gelesen.»

«Und das genügt Ihnen?»

«Es ist besser als nichts. Wir haben es mit einem sehr gerissenen Täter zu tun. Aber daß er Lawson ermordet, ihm dann die Brille abnimmt und sie ins Etui steckt — das kann ich mir einfach nicht vorstellen.»

Lewis konnte es sich auch nicht vorstellen, aber seine Vorstellungen waren, was diesen Fall betraf, ohnehin noch recht nebulös.

«Kommen wir voran, Sir?»

«Gute Frage. Und wie einer meiner Lehrer zu sagen pflegte: <Wir haben dem Problem von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, jetzt laßt uns weiterziehen.> Zeit zum Essen, was?»

Die beiden verließen den langgestreckten, dreigeschossigen Bau, in dem das Präsidium untergebracht war, und gingen vorbei an Christ Church und Carfax zum Golden Cross, da Morse entschieden hatte, daß er für sein Teil nur eine Stärkung in flüssiger Form zu sich nehmen würde. Bier, fand er, regte seine Denktätigkeit an. Ihm war durchaus klar, daß er eigentlich jetzt schon unterwegs nach Shrewsbury sein müßte. Aber die Aussicht, Krankenhauspförtner, Schwestern und Ärzte nach Ort und Zeit, Alibi und Motiv zu befragen, erfüllte ihn mit Widerwillen. Außerdem gab es in Oxford eine Menge Routinearbeit.

Lewis führte sich ein Bier zu Gemüte und ging dann wieder, während Morse sich zurücklehnte, um nachzudenken. Ein fleißiges Schiffchen webte die verschiedensten Muster in seinem Kopf, die er aber alle wieder verwarf. Nach dem dritten Bier stand als Ergebnis dieser Herumdenkerei lediglich fest, daß seine phantasievollen Theorien alle miteinander nichtig und seine Überlegungen undurchsichtig waren. Mit einem Wort: Fortschritt gleich Null. Dabei hatte er das bestimmte Gefühl, etwas übersehen zu haben, einen Schlüssel zu diesem Labyrinth. Schlüssel? Er hatte noch die Schlüssel zur Kirche. War vielleicht dort der entscheidende Hinweis zu finden?