24

 

Morse ließ sich ungewöhnlich viel Zeit, und es war Lewis, der sein Glas zuerst geleert hatte.

«Alles in Ordnung, Sir?»

Morse steckte die Gottesdienstordnung wieder ein und leerte sein Glas in drei oder vier Riesenschlucken.

«Bestens, Lewis. Noch mal dasselbe.»

«Ihre Runde, wenn ich nicht irre, Sir.»

«Ach so.»

Morse stützte die Ellbogen auf den Tisch. «Die entscheidende Frage ist doch wohl die: Wer hat Harry Josephs umgebracht?» J

Lewis nickte. «Mir ist da beim Gottesdienst so eine Idee gekommen —»

«Bitte keine neuen Ideen, davon hab ich schon mehr als genug. Hören Sie zu, Lewis. Der Hauptverdächtige ist der Penner, nach dem Bell vergeblich gesucht hat, stimmt’s? Der Typ, der ein paarmal bei Lawson im Pfarrhaus übernachtet hat, der in der Kirche war, als Josephs ermordet wurde und der hinterher verschwunden ist. Wir glauben zu wissen, daß dieser Typ Lionel Lawsons Bruder Philip Lawson war. Er ist knapp bei Kasse, er trinkt. Er sieht Bargeld auf dem Kollekteteller und will es klauen. Josephs will ihn daran hindern. Alles, was er davon hat, ist ein Messer im Rücken. Einwände?»

«Wie ist Philip Lawson an das Messer gekommen?»

«Er hat’s im Pfarrhaus herumliegen sehen und eingesteckt.»

«Aber es war höchstens eine Handvoll Besucher da, und in der Kollekte können kaum mehr als zwei Pfund gewesen sein.»

«Genau.»

«Warum hat er nicht bis zum Gottesdienst am Sonntag morgen gewartet? Da hätte er mindestens fünfzig Pfund kassieren können.»

«Ja, das stimmt.»

«Und warum hat er’s nicht gemacht?»

«Das weiß ich nicht.»

«Aber niemand hat ihn in der Sakristei beobachtet.»

«Er ist entwischt, sobald er Josephs erstochen hatte.»

«Aber da hätte ihn doch bestimmt jemand gesehen — oder gehört.»

«Vielleicht hat er sich nur in der Sakristei versteckt. Hinter dem Vorhang.»

«Ausgeschlossen.»

«Na, dann hinter der Tür zum Turm. Vielleicht ist er auf den Turm gestiegen, hat sich in der Glockenstube versteckt oder auf dem Dach, was weiß ich.»

«Aber die Tür war abgeschlossen, als die Polizei kam. Das steht im Bericht.»

«Na und? Die kann er ja von innen abgeschlossen haben.»

«Sie meinen, er hatte einen Schlüssel?»

«Ich denke, Sie haben den Bericht gelesen, Lewis? Wissen Sie nicht mehr, was man in Josephs’ Taschen gefunden hat?»

Langsam ging Lewis ein Licht auf. «Keine Schlüssel», sagte er zögernd.

«Keine Schlüssel.»

«Sie meinen, er hat sie Josephs aus der Tasche genommen?»

«Warum nicht?»

«Aber — aber wenn er in Josephs Taschen herumgewühlt hat, warum hat er das Geld nicht gefunden? Die hundert Pfund?»

«Ist es nicht eine etwas vorschnelle Folgerung, daß Josephs nur hundert Pfund bei sich hatte?» fragte Morse sanft. «Wenn es nun — sagen wir — tausend waren?»

«Sie meinen — ?» Aber Lewis wußte selbst nicht recht, was Morse meinen könnte.

«Ich meine, Lewis, daß jeder — fast jeder — so denken würde wie Sie: Der Mörder kann sich gar nicht an Josephs Taschen zu schaffen gemacht haben. Dieser Punkt lockt alle auf die falsche Fährte, legt den Schluß nahe, daß es sich um einen kleinen Diebstahl gehandelt hat, ein paar Groschen vom Kollekteteller, wie Sie sagen-. Über die Ausführung des Verbrechens hat sich unser Mörder vielleicht gar keine Gedanken gemacht. Daß er es schaffen würde, stand für ihn fest. Nein, seine Angst war, daß jemand das Motiv allzu genau unter die Lupe nehmen könnte.»

Lewis wurde immer ratloser. «Moment mal, Sir. Sie sagen, daß er sich über die Ausführung des Verbrechens keine großen Gedanken gemacht hat. Aber Josephs ist ja nicht nur erstochen, sondern auch vergiftet worden.»

«Vielleicht hat er ihm einen Schluck Schnaps gegeben. Mit einem Schuß Morphium.»

Lewis hatte das Gefühl, daß Morse mal wieder Katz und Maus mit ihm spielte. Hinter dem einen oder anderen Argument witterte er einen jener Geistesblitze, die er inzwischen von Morse schon kannte. Aber genial war die Lösung bisher noch nicht. Da konnte er es ja selber besser.

«Josephs könnte beim Abendmahl vergiftet worden sein.»

«Und wie kommen Sie darauf?»

«Der Kirchenälteste geht wohl meist als letzter zur Kommunion...»

«Wie heute vormittag, ja.»

«...und da kniet sich dieser Penner neben ihn und tut ihm was in den Wein.»

«Und wie hat er das Gift bei sich gehabt?»

«Vielleicht in einem dieser Ringe, die braucht man bloß aufzuschrauben und —»

«Sie sitzen zuviel vor dem Fernseher», sagte Morse.

«— und streut das Zeug in den Wein.»

«Es wäre dann ein weißliches Pulver gewesen, Lewis, das sich nicht sofort auflöst. Der Pfarrer hätte es auf der Oberfläche schwimmen sehen.»

«Vielleicht hatte er die Augen geschlossen. Der ist doch ständig am Beten und so weiter, wenn —»

«Und Josephs? War der auch ständig am Beten und so weiter?»

«Könnte doch sein.»

«Warum ist dann nicht Lawson vergiftet worden? Es ist Sache des Pfarrers, den Wein auszutrinken, der noch im Kelch ist, und Josephs war, wie gesagt, mit ziemlicher Sicherheit der letzte Kommunikant.»

«Vielleicht hatte Josephs alles ausgetrunken», meinte Lewis hoffnungsvoll. Dann blitzte es plötzlich erregt in seinen Augen auf. «Oder vielleicht, Sir... vielleicht haben die beiden Lawson-Brüder unter einer Decke gesteckt. Damit wären gleich ein paar Fragen auf einmal beantwortet.»

Morse lächelte zufrieden. «Sie werden mit jedem Tag gescheiter, Lewis. Macht wohl der Umgang mit mir.» Er schob sein Glas über den Tisch. «Ihre Runde, nicht?»

Er sah sich in dem Pub um, während Lewis geduldig am Tresen wartete. Es war halb zwei, und der sonntägliche Mittagstrubel war auf seinem Höhepunkt angelangt. Ein Mann mit struppigem Bart und langem Uniformmantel schlurfte herein und blieb etwas ängstlich am Tresen stehen. Ein Mann mittleren Alters, wieder mit dieser Sonnenbrille, die nicht so recht in die Landschaft paßte, eine leere Apfelweinflasche in der Hand. Morse stand auf und ging zu ihm hinüber.

«Wir kennen uns doch?»

Der Mann sah Morse nachdenklich an und schüttelte den Kopf. «Tut mir leid, Chef.»

«Das Leben meint’s nicht gut mit dir, was?»

«Nee.»

«Schon lange auf Achse?»

«Ziemlich am Ende.»

«Kanntest du einen Mann, der sich Swanpole nannte?»

«Wüßt ich nicht.»

«Macht nichts. Ich frag nur, weil ich ihn gekannt habe.»

«Ich kannte jemanden, der ihn gekannt hat», sagte der Penner leise.

«Ja?» Morse kramte in seinen Taschen und drückte dem Mann ein Fünfzig-Pence-Stück in die Hand.

«Der alte Knacker, mit dem ich neulich rumgezogen bin, der hat den Namen mal erwähnt. Swanny, so haben sie ihn genannt. Aber der ist nicht mehr hier.»

«Und der alte Knacker?»

«Der ist gestorben. Gestern. Lungenentzündung.»

«Ach so.»

Morse ging nachdenklich an seinen Tisch zurück und beobachtete ein paar Minuten später mit einigem Bedauern, wie der Wirt dem Penner die Tür wies. An diesem Nachmittag würde es keinen Apfelwein geben, den man langsam auf einer Parkbank trinken konnte. Jedenfalls nicht aus diesem Pub.

«Freund von Ihnen?» fragte Lewis grinsend, als er die frisch gefüllten Gläser auf den Tisch stellte.

«Ich glaube, dieser Mann hat keine Freunde.»

«Vielleicht, wenn Lawson noch am Leben wäre...»

«Über den wollte ich gerade mit Ihnen sprechen. Unser Verdächtiger Nummer Zwei.»

«Sie meinen, er ist schnell mal vom Altar weg, hat Josephs umgebracht und dann ungerührt den Gottesdienst fortgesetzt?»

«So in der Art.»

Das Bier war gut, und Lewis lehnte sich zufrieden zurück. «Schießen Sie los, Sir. Ich weiß doch, daß Sie mir’s erzählen wollen.»

«Betrachten wir erst mal die Möglichkeit, daß das Gift in dem Abendmahlskelch war. So wie Sie es darstellen, ist es zu unwahrscheinlich. Aber wenn nun Hochwürden Lionel das Morphium selber in den Wein getan hat? Nachdem sein Bruder getrunken hat, kann er so tun, als sei der Kelch leer, kann sich zum Altar umdrehen, das Zeug hineingeben, noch einen Schuß Wein nachgießen — kein Problem. Oder er hatte zwei Kelche und hat sie schnell aus getauscht. Wenn einer der Brüder Josephs vergiftet hat, tippe ich auf Hochwürden Lionel.»

«Jetzt will ich doch mal wissen, ob ich das richtig mitgekriegt habe. Sie sagen, Lionel Lawson hätte versucht, Josephs umzubringen, und muß wenig später feststellen, daß jemand die Sache noch gründlicher besorgt hat. Mit einem Messer.» Lewis schüttelte den Kopf. «Das ist doch nicht drin, Sir.»

«Warum nicht? Hochwürden Lionel weiß, daß Josephs zur Sakristei gegangen ist und in wenigen Minuten mausetot sein wird. Er wird ganz friedlich hinübergehen, denn eine Morphiumvergiftung ist kein schmerzhafter Tod. Hochwürden wird man den Mord nicht anhängen. Der Kelch ist ausgewaschen und abgetrocknet, streng nach kirchlicher Etikette. Ein Paradebeispiel für eine hundertprozentig sichere Spurenbeseitigung. Interessante Methode! Aber so glatt läuft die Sache nicht. Josephs muß gemerkt haben, daß irgendwas mit ihm nicht in Ordnung ist, und ehe er in der Sakristei zusammenbricht, kann er sich noch zum Vorhang schleppen und um Hilfe rufen. Einige Gottesdienstbesucher haben ihn gehört. Aber da ist jemand, der die Sakristei nicht aus dem Auge gelassen hat, nämlich Hochwürden Lionel. Sobald er Josephs sieht, saust er wie von Furien gehetzt hin, ehe sich sonst jemand rühren kann. Er stößt Josephs ein Messer in den Rücken, dreht sich zu seinen Schäflein um und berichtet ihnen, daß Josephs in seinem Blut liegt.» Morse beglückwünschte sich innerlich zu einem Bericht, der sehr viel farbiger und dramatischer war als Bells prosaische Rekonstruktion.

«Er wäre überall voller Blut gewesen», wandte Lewis ein.

«Bei dem Zeug, das er heute anhatte, wäre das nicht weiter aufgefallen.»

Lewis dachte an das Rot der Meßgewänder. Rot wie Blut. «Aber warum hat er Josephs mit einem Messer den Rest gegeben? Der Mann muß doch schon fast hinüber gewesen sein.»

«Weil er Angst hatte, Josephs könnte ihn beschuldigen. Das mit dem Gift hätte er sich bestimmt zusammengereimt.»

«Aber die anderen doch wohl auch.»

«Ja, aber wenn sie ein Messer in Josephs Rücken sehen, fragen sie sich automatisch, wer das wohl angestellt hat.»

«Und müßten dabei auf Lawson kommen. Schließlich war es Lawsons Messer.»

«Das wußte damals niemand», sagte Morse, in die Defensive gedrängt.

«Glaubt Bell, daß es sich so abgespielt hat?»

Morse nickte.

«Und Sie, Sir?»

Morse schien ernsthaft über die Frage nachzudenken. «Nein», sagte er schließlich.

Lewis lehnte sich zurück. «Genaugenommen ist es doch ziemlich unwahrscheinlich, daß ein Pfarrer ein Mitglied der eigenen Gemeinde ermordet, wie? Im wirklichen Leben passiert so was nicht.»

«Hoffentlich doch», sagte Morse leise.

«Wie meinen Sie, Sir?»

«Ich hoffe sehr, daß so was im wirklichen Leben doch passiert. Sie haben mich gefragt, ob meiner Meinung nach Lionel Lawson Josephs auf eine bestimmte Art und Weise umgebracht hat, und ich habe nein gesagt. Allerdings glaube ich nach wie vor, daß Lawson der Täter war. Meiner Ansicht nach hat sich aber die Tat weit unkomplizierter abgespielt. Er geht in die Sakristei, ersticht Harry Josephs —»

«— und geht wieder zurück.»

«Genau.»

Lewis richtete den Blick zur tabakgeschwärzten Decke. War es denkbar, daß das Bier dem Inspector auf den Verstand geschlagen war?

«Vor der versammelten Gemeinde, ja?»

«Nein, das nicht.»

«Ach nein?»

«Nein. Der Gottesdienst, bei dem Josephs ermordet wurde, war in der Marienkapelle. Sie erinnern sich sicher, daß in der Trennwand zwischen Kapelle und Chor ein Bogengang ist. Ich nehme nur an, daß Lawson nach der Kommunion ein paar Sachen vom Altar in der Marienkapelle zum Hauptaltar gebracht hat — das machte er wahrscheinlich häufig, also fiel es gar nicht auf.»

Lewis hörte kaum mehr hin. Der Wirt putzte die Tische, räumte Gläser ab und leerte die Aschenbecher.

«Ausgeheckt haben den Plan Hochwürden Lionel und sein Bruder. An dem fraglichen Abend steckten sie beide in Priestergewändern. Hochwürden Lionel verläßt kurz die Marienkapelle, aber der Mann, der zurückkommt, ist nicht Hochwürden Lionel. Nur eine Handvoll alter Mütterlein nehmen an der Messe teil. Der Mann, der in den entscheidenden Minuten vor dem Altar steht, kniet und betet, ohne sich der Gemeinde zuzuwenden, ist Lawsons Bruder Philip. Was meinen Sie, Lewis? Ob ihn jemand durchschaut hätte?»

«Und wenn nun Philip Lawson eine Glatze hatte?»

«Kaum, ob man eine Glatze kriegt, hängt vom Großvater ab.»

«Wenn Sie meinen, Sir.» Lewis wurde dieser Hokuspokus um gedoppelte Kelche und gedoppelte Priester langsam unheimlich. Außerdem zog es ihn nach Hause. Er stand auf und verabschiedete sich.

Morse blieb, wo er war, und führte mit dem Zeigefinger der Linken versprengte Biertröpfchen auf der Tischplatte zu einem See zusammen. Seine Rekonstruktion des Mordes an Josephs befriedigte ihn ebensowenig wie Lewis. Aber eins stand für ihn fest: Hier mußten etliche Leute unter einer Decke gesteckt haben, und höchstwahrscheinlich waren die beiden Brüder an dem faulen Zauber beteiligt. Aber wie? Minutenlang drehten Morses Gedanken sich im Kreis. Zum tausendstenmal fragte er sich, wo er anfangen sollte, zum tausendstenmal sagte er sich, daß er zunächst feststellen mußte, wer Harry Josephs umgebracht hatte. Gut, mal angenommen, es war Hochwürden Lionel — unter der Voraussetzung, daß irgend etwas ihn ja zum Selbstmord getrieben haben mußte. Aber wenn es nicht Lionel war, der sich vom Turm gestürzt hatte? Wenn Philip unfreiwillig den Weg in die Tiefe gegangen war? Das hörte sich zwar recht überzeugend an, die Argumente, die dagegen sprachen, wogen aber entschieden schwerer. Hochwürden Lionel hätte der Leiche seines Bruders die eigenen Sachen anziehen müssen, bis hin zum schwarzen Priesterrock und weißen Kragen. Und das war in so kurzer Zeit nach dem Gottesdienst rein physisch unmöglich. Aber wenn... Ja, wenn es nun Lionel irgendwie gelungen war, Philip zum Kleidertausch zu überreden? War das denkbar? Natürlich war es denkbar. Nicht nur denkbar, sondern sehr wahrscheinlich. Und warum? Weil Philip Lawson das nicht zum erstenmal machte. Er hatte sich einverstanden erklärt, das Priestergewand des Bruders zu tragen, um am Altar zu stehen, während Josephs ermordet wurde. Da er für diesen Einsatz bestimmt ein hübsches Sümmchen kassiert hatte, war er vermutlich zu einer Wiederholungsvorstellung gern bereit gewesen. Daß er damit sozusagen seine eigene Beerdigung vorbereitete, ahnte er ja nicht. Aber kaum hatte Morse dieses Problem gelöst, kam schon das nächste. Zwei Zeugen hatten den Mann, der vom Turm gefallen War, zweifelsfrei identifiziert. Allerdings war dieser Einwand relativ leicht zu widerlegen. Hatte es Mrs. Walsh-Atkins wirklich fertiggebracht, das blutige, zerschmetterte Gesicht genau zu betrachten? War es nur ein Zufall gewesen, daß sie vor der Kirche gestanden hatte? Denn da war noch jemand gewesen. Jemand, der sofort bereit war, die falsche Identität der Leiche zu bezeugen: Paul Morris. Und Paul Morris war hinterher ermordet worden, weil er zu viel wußte, weil er insbesondere wußte, daß Hochwürden Lionel noch unter den Lebenden weilte und obendrein noch ein Mörder war. Ein Doppelmörder, ein Dreifachmörder...

«Bitte trinken Sie aus, Sir», sagte der Wirt. «Am Sonntagvormittag schaut oft die Polizei bei uns vorbei.»