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Aussage von Ruth Rawlinson (Fortsetzung)

 

Als ich zum erstenmal in St. Frideswide’s war, ging ich noch zur Schule. Unser Chor wirkte bei der Kreuzigung von Stainer mit. Einige von uns halfen auch später ab und zu aus, wenn der Kirchenchor zu wenig Sopran- und Altstimmen für die Palestrina-Messen hatte. Ich lernte nach und nach die Leute dort näher kennen und fühlte mich bald ganz zu Hause. Es dauerte nicht lange, bis ich reguläres Chormitglied wurde- nicht, weil ich eine besondere Neigung zur Hochkirche gehabt hätte, sondern weil mir das Umfeld und der neue Bekanntenkreis gefielen. Eine alte Frau kam jede Woche in die Kirche, um Ordnung zu schaffen und sauberzumachen. Sie war von einer schweren Arthritis so gebeugt, daß sie schon mit dem Herumschleppen von Schrubber und Eimer Zeugnis für ihre Glaubenskraft und ihre Willensstärke ablegte. Im Lauf der Zeit lernte ich sie recht gut kennen und stellte ihr auch die eine oder andere persönliche Frage. Sie erklärte schlicht und ganz glücklich, daß sie hoffte, Gott würde sie eines Tages belohnen, aber auch wenn er sie nicht für würdig befinden sollte, würde sie ihm für die Segnungen, die sie von ihm empfangen habe, Lob und Dank sagen. Ich hörte mir das nicht etwa staunend oder zynisch, sondern sehr bewegt an, und als sie gestorben war, nahm ich mir vor, ihr gutes Werk wenigstens teilweise weiterzuführen. Und so fing ich an zu scheuern und zu putzen und fand ein wenig von jener Erfüllung, die jene alte Frau erfahren hatte. Durch diese freiwillige Buße kam ich natürlich häufig mit Lionel Lawson zusammen, und so lag es nahe, daß ich mich an ihn wandte, als ich in unserer finanziellen Krise Rat und Hilfe brauchte. Er bereitete mir die größte Überraschung meines Lebens. Geld, meinte er, sei nun wirklich kein Grund zur Sorge. Er fragte mich, was ich brauchte, setzte sich an den Schreibtisch (wo mir ein Papiermesser in Form eines Kruzifixes auffiel) und schrieb einen Scheck über 500 Pfund aus. Es war wie ein Wunder, und als ich ihm sagte, ich sei ihm unendlich dankbar, wüßte aber nicht, wann ich ihm das Geld zurückzahlen könnte, sagte er nur, vielleicht sei er eines Tages ja auch mal in Schwierigkeiten, und dann wäre es schön zu wissen, daß er mit meiner Hilfe rechnen könne. Natürlich versprach ich ihm, daß ich alles in meiner Macht Stehende für ihn tun würde. Ich erinnere mich noch, wie sehr ich mir damals wünschte, mich eines Tages mit einem wirklich großen Gefallen zu revanchieren. Als ich an jenem Tag das Pfarrhaus verließ, begegnete ich unten w einem Mann, der gerade aus der Küche kam. Zunächst erkannte ich ihn nicht. Er war ziemlich ärmlich gekleidet, aber frisch rasiert, und das Haar war ordentlich geschnitten. Ich wußte, daß Lionel manchmal auf ein paar Tage Leute aus dem Obdachlosenasyl zu sich nahm, und dann und wann überredete er sie dazu, zum Gottesdienst zu kommen. Dann fiel mir ein, wer er war. Er war etwa ebenso alt und ebenso groß wie Lionel, aber bei unserer letzten Begegnung hatte er einen Stoppelbart und langes, schmutziges Haar gehabt. Erst später erfuhr ich, daß es Lionels Bruder Philip war.

Wenig später begann die Sache mit Harry Josephs. Gegen Ende des Sommers entstanden ziemliche Spannungen zwischen Mitgliedern der Gemeinde. Ein häßliches Gerücht kam mir zu Ohren. Es hieß, Lionel habe mehr für Chorknaben übrig, als gut für ihn sei. Das konnte ich einfach nicht glauben. Auch jetzt noch bin ich fest davon überzeugt, daß Lionel, falls er tatsächlich homosexuelle Neigungen hatte, sie nicht praktizierte. Aber noch etwas anderes wurde gemunkelt, daß nämlich Paul Morris, unser Organist, sich in Harry Josephs’ Frau Brenda verliebt hätte, die Harry immer zur Kirche brachte. Harry selbst besaß aus irgendeinem Grund keinen Führerschein mehr. Man sah Brenda oft im Gespräch mit Paul, allerdings blieb sie selten zu den Gottesdiensten, und eine Frau aus unserer Gemeinde sagte, sie habe die beiden beim Händchenhalten erwischt. Ich hatte zwar keine Beweise, muß aber zugeben, daß ich nach und nach zu der Überzeugung kam, an diesem Gerücht müsse schon etwas sein. Und dann erfuhr ich, daß das, was gemunkelt wurde, tatsächlich stimmte. Harry Josephs sagte es mir. Bei seinem ersten Besuch waren wir zu dritt — Mutter war zufällig an diesem Tag auf-, er war sehr höflich und aufmerksam und blieb etwa zwei Stunden. Danach kam er ziemlich regelmäßig, immer vormittags, und wenn Mutter im Bett lag, saßen wir zusammen im Wohnzimmer. Er erinnerte mich ein bißchen an meinen früheren Chef, denn er trat mir nie zu nahe. Damals jedenfalls nicht. Aber er machte kein Hehl daraus, daß er sich einsam und unzufrieden fühlte, und schließlich erzählte er mir, daß er von der Beziehung seiner Frau zu Paul Morris wußte. Zuerst kam er wohl nur, um sich ein bißchen bemitleiden zu lassen, denn er fragte mich nie, was er denn nun tun solle. Aber eines Tages, als wir zur Haustür gingen, blieb er plötzlich stehen und sagte, ich gefiele ihm und er würde gern mit mir schlafen. Ich war natürlich ein bißchen geschmeichelt. Moralische Bedenken kamen mir nicht. Wir hatten Sherry getrunken, und ich fühlte mich leichtlebiger und kühner als sonst. Was sollte ich antworten? Ich war noch Jungfrau. Ich war einundvierzig. Dem einzigen Mann, in den ich bisher verliebt gewesen war, hatte ich einen Korb gegeben. Die Jahre vergingen, und wenn ich nicht bald meine Erfahrungen mit Sex machte, würde es zu spät sein. Harry verriet ich davon natürlich nichts. Normalerweise hätte ich wohl gesagt, er sei schließlich verheiratet, und ich hätte zu viel Achtung vor seiner Frau, um an eine Beziehung zwischen uns auch nur zu denken. Aber so, wie die Dinge lagen, lächelte ich nur und meinte, er solle nicht so albern sein. Er sah so unglücklich, so gedemütigt aus, daß er mir plötzlich furchtbar leid tat. Nebenan war die neue, cambridgeblau gestrichene Tür zu 14 B. Ich hatte den Schlüssel in der Tasche und fragte, ob er sich die Wohnung mal ansehen wolle. Er liebte mich auf der Matratze des unbezogenen Betts im Hinterzimmer. Für mich war es keine besonders glückliche Initiation, aber ich bereute eigentlich nichts, empfand eher so etwas wie Befriedigung. In den nächsten Monaten schliefen wir einmal in der Woche miteinander. Mit zunehmender Vertrautheit mit der physischen Seite fand ich mehr und mehr Spaß am Sex. Aber ich spürte, daß irgend etwas nicht stimmte, denn wenn es vorbei war, kam ich mir schäbig und minderwertig vor und haßte mich, weil ich das Verlangen nach Sex hatte. Ich versuchte Schluß zu machen, aber im Rückblick glaube ich, daß es ein halbherziger Versuch war. Ich kam von Harry nicht los, wurde immer nervöser und hatte Angst, meine Mutter könne etwas merken. Auch wegen der Nachbarn machte ich mir Sorgen, was völlig überflüssig war, denn in den Häusern rechts und links von uns wohnten unzählige, ständig wechselnde Mieter, hauptsächlich Studenten. Aber vor allem machte ich mir meinetwegen Gedanken. Ich brauchte Harry inzwischen mehr als er mich, und das wußte er. Obgleich ich mich ständig mit Selbstvorwürfen quälte, wenn er fort war, dachte ich schon bald wieder an unser nächstes Treffen. Ich begann ihn wie mich zu hassen. Er war wie eine süchtig machende Droge.

Das alles könnte für Sie wichtig sein, um zu verstehen, wie es danach mit mir weiterging.