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Aussage von Ruth Rawlinson (Fortsetzung)
An einem Mittwoch vormittag Anfang September hatte meine Mutter einen schlimmen Anfall, und ich beschloß, erst abends in die Kirche zum Putzen zu gehen. Ich hatte einen Schlüssel, es spielte also keine Rolle, wenn ich einmal von meinem Zeitplan abwich. Ich schloß die Tür hinter mir zu (ich benützte fast immer die Tür am Südportal, weil ich dort mein Fahrrad abstellen konnte) und war gerade beim Beichtstuhl, als ich hörte, wie die Tür am Nordportal aufgeschlossen wurde. Paul Morris und Lionel Lawsons Bruder Philip kamen herein. Mir wurde ein bißchen umheimlich, und ich blieb, wo ich war. Von dem Gespräch verstand ich kaum mehr als einzelne Worte, aber soviel war mir klar, daß Paul erpreßt wurde und nicht bereit war, sich das noch länger bieten zu lassen. Wenige Minuten später schien es mir, daß Paul gegangen war und daß Lionel die Kirche betreten hatte, denn jetzt hörte ich die beiden Brüder miteinander reden. Wieder bekam ich nicht viel von dem mit, was sie sagten, aber das wenige, was ich aufschnappte, traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie sprachen davon, Harry Josephs umzubringen. Ich war so geschockt, daß mir die Scheuerbürste aus der Hand fiel, und da fanden sie mich. Philip Lawson verließ uns, und dann sprach Lionel lange mit mir. Ich bin auch jetzt noch nicht bereit, alles preiszugeben, was er mir sagte, aber es lief darauf hinaus, daß er mich um Hilfe bat. Er erinnerte mich an mein Versprechen und bot mir an, mir sofort einen Scheck über 5000 Pfund auszustellen, wenn ich tun würde, was er verlangte. Er sagte, ich solle die obere Wohnung in unserem Haus freihalten, weil er seinen Bruder Philip dort unterbringen wollte. Es würde sich höchstens um einen Monat handeln. Ich war wie betäubt und wußte nicht recht, was das alles zu bedeuten hatte. Zu Hause wurde die Lage immer prekärer. Die 500 Pfund von Lionel waren verbraucht. Die abgeteilte Wohnung war jetzt zwar fast fertig, aber in unserem Teil des Hauses sah es schlimm aus. Die Baufirma meinte, die Elektroinstallation müsse dringend erneuert werden, und der Wassertank sei durchgerostet und könne jeden Tag ein Leck bekommen. Zu allem Überfluß war die Gaszentralheizung, nachdem sie schon tagelang nur noch notdürftig funktioniert hatte, in dieser Woche total ausgefallen. Ich hatte bei meiner Kalkulation auch das Tapezieren der umgebauten Küche im Obergeschoß nicht berücksichtigt, und der Kostenvoranschlag, den ich eingeholt hatte, belief sich auf 200 Pfund — eine horrende Summe. Da war noch etwas. Ich hätte schon früher darauf zu sprechen kommen sollen, aber da es das einzige ist, was mich in diesem Fall wirklich belastet, haben Sie vielleicht Verständnis dafür, daß ich gezögert habe. Lionel sagte, ich könne mich jetzt bei ihm revanchieren, und zwar müsse ich — einmal nur — die Unwahrheit sagen. Er ließ mich feierlich schwören, daß ich dieses eine Mal lügen würde. Mehr brauchte ich nicht zu tun, betonte er, es sei für mich eine ganz einfache Sache. Ich war sehr froh, daß ich ihm helfen konnte, und willigte sofort ein. Ich war völlig durcheinander, als ich an diesem Abend die Kirche verließ. Ich versuchte nicht an Harry Josephs zu denken, versuchte mir wohl sogar einzureden, ich hätte die ganze Geschichte mißverstanden — was natürlich nicht stimmte. Ich wußte, daß Harry Josephs sterben mußte und daß mein Versprechen, einmal zu lügen, etwas mit diesem mir nicht unwillkommenen Ereignis zu tun hatte. Aber welche Rolle spielte Philip Lawson dabei? Wahrscheinlich, dachte ich damals, ging es auch bei ihm um Geld. Allmählich kam ich zu der Überzeugung, daß Lionel Lawson seinen Bruder dafür bezahlt hatte, Harry Josephs zu ermorden, und daß es sich bei meiner Lüge um ein Alibi handeln mußte. Aber ich verspürte keine Gewissensbisse. Das Geld war es, das jetzt meine Handlungsweise bestimmte. Sex war nicht mehr der beherrschende Faktor in meinem Leben. Im übrigen hätte ich mich, wenn ich gewollt hätte, auch in diesem Punkt schadlos halten können. Ich traf mich ein paarmal mit einem Mann in der Bar des Randolph, der zu erkennen gab, daß ich ihm gefiel. Er war Verkaufsberater für eine renommierte Firma, und sein Hotelzimmer ließ an Bequemlichkeit bestimmt nichts zu wünschen übrig. Zu dieser Zeit wurde ich sparsam bis zum Geiz. Jetzt, da ich über weit mehr Geld verfügte als je zuvor, ertappte ich mich dabei, daß ich es nach Möglichkeit vermied, meine ' Drinks selbst zu bezahlen, daß ich es darauf anlegte, mich zu teuren Essen einladen zu lassen, daß ich zu einem ausgewachsenen Schmarotzer wurde. Ich kaufte mir keine neuen Kleider, kein Parfüm, keine Delikatessen. Aber nicht nur in Gelddingen benahm ich mich schäbig. Noch in derselben Woche rief ich Harry Josephs an und sagte ihm, mit unseren wöchentlichen Treffen sei es aus, meine Mutter sei wieder sehr krank. Solche Lügen gingen mir jetzt lächerlich leicht über die Lippen. Es war eine gute Übung. Unser Boiler ließ sich noch einmal reparieren, und ich lehnte es deshalb ab, einen neuen anzuschaffen. Weil mir der erste Voranschlag für die Erneuerung der Elektroinstallation plötzlich erschreckend hoch vorkam, holte ich mir einen Schwarzarbeiter, der den Auftrag für den halben Preis erledigte — allerdings mehr schlecht als recht. An das Tapezieren der Küche im Obergeschoß machte ich mich selbst und hatte einen Heidenspaß dabei. Jahrelang hatte ich sonntags immer 50 Pence für die Kollekte gegeben, jetzt gab ich nur 20 Pence. Nur die Kirche putzte ich nach wie vor, und ich war unheimlich stolz auf diese selbstauferlegte Buße. Das klingt, als habe sich diese Entwicklung über einen langen Zeitraum vollzogen, aber das stimmt nicht. Bis zum 26. September waren es nur ungefähr drei Wochen.
An dem Tag trafen wir uns abends um sieben zu fünft in St. Frideswide’s — Brenda Josephs und Paul Morris und Lionel Lawson und Philip Lawson und ich. Die Kirche wurde abgeschlossen, und ich bekam meine Anweisungen. In der Marienkapelle sollten die Kerzen angezündet und Gebetbücher für dreizehn Besucher ausgelegt werden, auch auf den Platz des Kirchenältesten. Ich glaube, das war eigentlich das Schlimmste. Paul spielte etwas auf der Orgel; ich fand, daß er von uns allen am beklommensten wirkte. Brenda — in einem schicken grünen Kostüm — stand am Taufstein, ihr Gesicht war ganz ausdruckslos. Lionel tat, als bereite er wie üblich die Messe vor; soweit ich es erkennen konnte, wirkte er ganz wie sonst. Lionels Bruder war ebenso gepflegt wie bei unserer letzten Begegnung. Er saß in der Sakristei und trank aus einer Flasche, die ihm wohl Lionel besorgt hatte. Gegen Viertel nach sieben bat Lionel Brenda und mich, uns vor den Altar in der Marienkapelle zu stellen und dort zu bleiben, bis er uns Bescheid gab. Dann hörten wir, wie an der Tür des Nordportals geschlossen wurde, und Harry Josephs betrat mit einem großen, in braunes Packpapier gewickelten Paket die Kirche. Sein Gesicht war gerötet, und er wirkte erregt. Offenbar hatte er schon ziemlich viel getrunken. Er sah uns und nickte, aber ob er mir oder Brenda zunickte, könnte ich nicht sagen. Dann verstummte die Orgel plötzlich, Paul kam zu uns, legte Brenda leicht die Hand auf die Schulter und ging zur Sakristei. Minutenlang hörten wir das Stimmengemurmel der Männer, dann ein Scharren und ein leises Stöhnen. Als Lionel uns holte, war er im Meßgewand. Er atmete schwer und sah verstört aus. Wenn die Polizei käme, sagte er, solle ich aussagen, es seien etwa ein Dutzend Besucher beim Gottesdienst gewesen, hauptsächlich amerikanische Touristen, und ich hätte Harry in der Sakristei um Hilfe rufen hören, während der letzte Choral gespielt wurde. Ob Brenda da noch neben mir stand, weiß ich nicht mehr. Benommen ging ich zur Sakristei. Ich sah ihn deutlich. Er lag ganz still da in seinem braunen Anzug und der Soutane, die er immer in der Kirche trug, und in seinem Rücken steckte Lionel Lawsons Papiermesser.
Von den anderen Toten weiß ich nichts. Aber ich bin überzeugt davon, daß Lionel Selbstmord begangen hat, weil er über seine Tat nicht hinweggekommen ist. Ich bin sehr froh, daß man ihm zumindest nicht den Mord an Brenda Josephs und Paul und Peter Morris anlasten kann. Wenn ich jetzt diesen langen Bericht schließe, denke ich an meine Mutter und bitte Sie, für sie zu sorgen, solange ich es nicht kann, und ihr zu sagen — nein, ich weiß nicht, was Sie ihr sagen könnten. Es wird wohl die Wahrheit sein müssen.
Gezeichnet Ruth Rawlinson.
Morse legte die Aussage aus der Hand und sah Lewis ziemlich ungnädig an. Er war über sechs Stunden nicht im Büro gewesen und hatte keine Adresse hinterlassen, an der man ihn hätte erreichen können. Es war jetzt acht Uhr abends, und er sah müde aus.
«Ich weiß ja nicht, wer das geschrieben hat, aber von Absätzen hält die Dame wohl nicht viel», stellte er fest.
«Dafür kann sie 130 Worte in der Minute aufnehmen. Sie ist wirklich gut, ich wünschte, wir hätten sie bei uns in Kidlington.»
«Hat Miss Rawlinson so schnell gesprochen?»
«Ziemlich schnell, ja.»
«Merkwürdig», sagte Morse.
Lewis sah seinen Chef etwas verdutzt an. «Damit dürfte einiges klar sein, nicht?»
«Sie meinen das hier?» Morse griff nach der Aussage, trennte die letzten Seiten ab, zerriß sie und warf sie in den Papierkorb.
«Aber Sie können doch nicht einfach —»
«Was soll’s? Was auf diesen Seiten an Fakten steht, ist nicht mal ein Blatt Klopapier wert. Wenn sie bei diesem Meineid bleibt, kriegt sie doppelt so lange, ist Ihnen das nicht klar?»
Lewis war überhaupt nichts mehr klar. Er war sehr zufrieden mit seinem Tagewerk gewesen und war es noch. Aber auch er war jetzt sehr müde und schüttelte nur gelassen den Kopf.
«Ich könnte ein bißchen Ruhe gebrauchen, Sir.»
«Ruhe? Ich höre wohl nicht richtig. Sie retten mir das Leben, und jetzt denken Sie nur daran, sich aufs Ohr zu legen? Wir gehen feiern, mein Freund.»
«Aber —»
«Wollen Sie nicht hören, was ich erlebt habe?» Er sah Lewis listig an, und dann lächelte er. Der Triumph, der in diesem Lächeln stand, wurde nur durch eine Spur von Trauer geschmälert.