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Am gleichen Nachmittag gingen gegen halb fünf zwei Männer, von der Carfax her kommend, langsam über die Queen Street. Dem Älteren, etwas Größeren, dessen langgezogenes, ausdrucksloses Gesicht mit grauen Stoppeln bedeckt war, schlotterte ein alter blauer Nadelstreifenanzug um die hagere Gestalt. In der rechten Hand hatte er eine bauchige Flasche Woodpecker-Apfelwein. Der Jüngere, bärtig und ungepflegt, der zwischen Mitte Vierzig und Mitte Fünfzig sein mochte, trug einen langen, bis zum Hals zugeknöpften Uniformmantel. Die Rangabzeichen waren längst abhanden gekommen.

Am Bonn Square gingen sie über den Rasen, der das steinerne Ehrenmal umgibt, und setzten sich auf eine der grün gestrichenen Bänke unter den alten Bäumen. Neben der Bank stand ein Papierkorb aus Draht, aus dem der Jüngere die Oxford Mail vom Vortag angelte. Der Ältere schraubte gemächlich die Apfelweinflasche auf, nahm einen kurzen Schluck, wischte mit dem Jackenärmel über den Flaschenhals und reichte sie seinem Begleiter. «Steht was drin?»

«Nee.»

In der Fußgängerzone vor dem Park herrschte lebhafter Betrieb. Passanten strömten durch die Arkaden zwischen dem hellgelben Backsteinbau von Selfridges und dem stumpfgelben Gebäude der Stadtbücherei. Ein paar flüchtige Blicke streiften die beiden auf der Parkbank — Blicke ohne Interesse oder Mitgefühl. In den Büroblocks ging unvermittelt das Licht an. Der Abend hatte begonnen.

«Gib mal her, wenn du fertig bist.»

Wortlos wurde die Zeitung weitergereicht. Die Flasche wechselte in regelmäßigem Rhythmus hin und her. Jeder trank immer nur einen Schluck.

«Das ist das Ding, über das sie in der Penne geredet haben.» Der Ältere deutete mit einem hageren, schmutzigen Finger auf die erste Seite. Sein Begleiter antwortete nicht, sondern sah starr zu Boden.

«Sie haben da einen Typ auf dem Turm gefunden, direkt gegenüber von...» Aber dann hatte er den Faden verloren. «Armes Schwein», sagte er schließlich.

«Wir sind alle arme Schweine», bestätigte der andere. So offen äußerte er sich selten und hüllte sich danach auch gleich wieder in Schweigen. Stumm nahm er eine Dose Tabak aus einer der großen Taschen des Uniformmantels und begann sich eine Zigarette zu rollen.

«Du warst vielleicht damals noch nicht hier, aber da ist doch einer ermordet worden, wann war das... letztes Jahr irgendwann... ach Mann, mein Gedächtnis... Jedenfalls ist ein paar Tage später der Pfarrer vom Kirchturm gehüpft. Komisch, nicht?»

Der Jüngere schien die Geschichte nicht weiter bemerkenswert zu finden. Er fuhr von links nach rechts mit der Zunge über das weiße Zigarettenpapier, wiederholte den Vorgang und schob das windschiefe Stäbchen zwischen die Lippen.

«Wie hieß er doch gleich... Herrgott, wenn man älter wird, ist das Gedächtnis... Wie hieß er doch gleich...» Er wischte wieder über den Flaschenhals und reichte die Flasche weiter. «Er hat den Pfarrer gekannt, war ein Verwandter oder so. Hat manchmal im Pfarrhaus gewohnt. Erinnerst du dich nicht an ihn?»

«Nee, ich war doch damals gar nicht hier.»

«Er war immer im Gottesdienst.» Er schüttelte fast ungläubig den Kopf. «Gehst du zur Kirche?»

«Ich? Nee.»

«Und als Kind?»

«Auch nicht.»

Ein gut gekleideter Mann mit Aktentasche und Schirm kam auf dem Weg vom Bahnhof an ihnen vorbei.

«Haben Sie ’n bißchen Knete für ’ne Tasse Tee, Mister?» Für den Jüngeren war es ein langer Satz. Er hätte sich die Mühe sparen können.

«Hab ihn lange nicht mehr gesehen», fuhr der Ältere fort. «Nicht mehr, seit der Pfarrer sich runtergeschmissen hat. Warst du da, als die Bullen in die Penne gekommen sind?»

«Nee.»

Der Ältere hustete rasselnd und spuckte einen Klumpen gelben Auswurf aufs Pflaster. Er fühlte sich müde und krank und dachte an sein Zuhause, die Hoffnung seiner frühen Jahre.

«Nichts drin in der Zeitung», sagte sein Begleiter.

Durch schmale, bläulich verfärbte Lippen pfiff der Ältere jetzt mit der Rührseligkeit des Angetrunkenen leise die Melodie von «Old Folks at Home». Dann sang er: «Wa-a-ay down upon the—» Plötzlich unterbrach er sich. «Irgendwas mit Swan. Swanpole, ja, so hat er geheißen. Komischer Name. Swanny haben wir ihn immer genannt. Hast du ihn gekannt?»

«Nee.» Der Jüngere faltete die Oxford Mail sorgsam zusammen und steckte sie in den Mantel. «Da mußte aber aufpassen, mit deinem Husten», sagte er mit einer für ihn ungewohnten Redseligkeit.

Der Alte stand auf. «Ich will mal wieder los. Kommste mit?»

«Nee.» Die Flasche war leer, aber der Mann, der auf der Bank sitzen blieb, hatte Geld in der Tasche, und in seinen Augen stand eine boshafte Genugtuung, nur sah man das nicht, weil sie hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen waren.

Es war kälter geworden, aber daran hatte der Mann auf der Bank sich mittlerweile gewöhnt. Es war mit die erste Lektion gewesen, die er gelernt hatte. Nach einiger Zeit vergißt man, wie kalt einem ist, man akzeptiert es, und dieses Akzeptieren ist wie eine zusätzliche Isolierung. Abgesehen von den Füßen. Ja, abgesehen von den Füßen. Er stand auf und ging über den Rasen, um die Inschriften auf dem steinernen Obelisken zu lesen. Unter den Hornisten und Gemeinen, deren Taten dort verewigt waren, fiel ihm der eigenartige Familienname eines jungen Soldaten auf, der 1897 von den Aufständischen umgebracht worden war. Der Mann hieß Death.