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Aussage von Miss Ruth Rawlinson, Manning Terrace 14 A, Oxford, diktiert von Miss Rawlinson, von ihr unterschrieben, beglaubigt von Sergeant Lewis, Thames Valley Constabulary,

 

 

Es ist vielleicht einfacher, wenn ich vor zwanzig Jahren anfange. Damals war ich im ersten Jahr der Oberstufe an der Oxford High School und bereitete mich auf den Abschluß in Englisch, Geschichte und Wirtschaftskunde vor. Eines Morgens kam die Direktorin in die Klasse und bat mich heraus. Ich müsse jetzt sehr tapfer sein, sagte sie, sie habe eine traurige Nachricht für mich. Mein Vater, der als Drucker bei der Oxford University Press arbeitete, hatte einen Herzinfarkt erlitten und war eine Stunde nach seiner Einlieferung ins Radcliffe Infirmary gestorben. Ich weiß noch, daß ich eigentlich nur betäubt und nicht richtig traurig war. In den nächsten Tagen war ich fast ein bißchen stolz, weil die Lehrerinnen und die anderen Mädchen mich so nett behandelten wie sonst nie, als wäre ich eine Heldin, die ihr Mißgeschick mit großer Seelenstärke trägt. Dabei stimmte das im Grunde gar nicht. Ich hatte nichts gegen meinen Vater, aber wir waren uns nie sehr nahe gewesen. Ein flüchtiger Kuß vor dem Schlafengehen, und manchmal eine Pfundnote, wenn ich eine gute Arbeit geschrieben hatte — aber er hatte nie erkennen lassen, daß er sich für mich interessierte oder mich gar liebte. Vielleicht konnte er nichts dafür. Bei meiner Mutter war Multiple Sklerose festgestellt worden, und obgleich sie damals noch recht beweglich war, galt meines Vaters erste Sorge ihrem Wohlergehen und ihrer Zufriedenheit. Er muß sie sehr geliebt haben, und sein Tod war ein furchtbarer Schlag für sie. Fast über Nacht schien sie sich verändert zu haben. Es war, als könne die Frau, die sie gewesen war, einen so schmerzlichen Verlust nicht verkraften und müsse deshalb zu einem anderen Menschen werden. Auch ich veränderte mich. Ich hatte plötzlich keine Freude mehr an der Schule und konnte für meine Mutter keinerlei Zuneigung mehr aufbringen. Ich hatte den Verdacht, daß sie ihre körperliche Behinderung übertrieb. Daß ich für sie kochte und wusch und putzte und einkaufte, nahm sie immer mehr als Selbstverständlichkeit hin. Ich blieb zwar an der Schule und machte im Jahr darauf meinen Abschluß, bewarb mich aber nicht um einen Studienplatz, obgleich das sonderbarerweise meine Mutter gern gesehen hätte. Statt dessen ging ich ein Jahr auf ein Sekretärinnenseminar und stellte bald fest, daß ich für diesen Beruf ausgesprochen geeignet war. Noch vor der Prüfung hatte ich drei Stellen in Aussicht und nahm schließlich das Angebot der Oxford University Press an, Sekretärin bei einem der Verlagsmitarbeiter zu werden, der meinen Vater flüchtig gekannt hatte. Er war ein sehr netter Chef und ein sehr gescheiter Mann, und die fünf Jahre, die ich bei ihm verbrachte, waren die glücklichsten meines Lebens. Er war Junggeselle, und nach einem Jahr lud er mich gelegentlich zum Essen oder ins Theater ein. Er hat nie versucht, mich auszunutzen. Körperliche Kontakte hatten wir nur, wenn er mich einhakte, um mich zu seinem Wagen zu führen. Trotzdem verliebte ich mich in ihn — völlig hoffnungslos, wie ich dachte. Dann geschah zweierlei innerhalb weniger Tage. Mein Chef machte mir einen Heiratsantrag, und der Zustand meiner Mutter verschlechterte sich. Ob da ein Zusammenhang bestand, kann ich nicht sagen. Ich hatte ihr von dem Heiratsantrag erzählt, und sie hatte mir in ihrer typischen, unverblümten Art gesagt, was sie davon hielt. Er sei nur ein geiler alter Bock auf der Suche nach risikolosem Sex. Und dann der Altersunterschied... lächerlich! Ich solle mir einen netten jungen Mann in meinem Alter suchen — falls ich mich tatsächlich entschlossen hätte, sie in einem Heim für chronisch Kranke verkümmern zu lassen. Sie steigerte sich in Hysterie hinein. Im Rückblick ist mir klar, daß es vielleicht nicht fair war, daran zu zweifeln, daß die Nachricht ihr einen echten Schock versetzt hatte. Jedenfalls sagte mir der Arzt, es ginge ihr sehr schlecht, und sie müsse sofort ins Krankenhaus. Als meine Mutter entlassen wurde, brauchte sie täglich intensive Pflege. Ich sagte meinem Chef, ich könnte seinen Antrag nicht annehmen, und es sei unter diesen Umständen wohl besser, wenn ich kündigte. Ich sehe noch den Ausdruck kindlichen Kummers und tiefer Enttäuschung in seinen Augen. Drei Wochen später, an meinem letzten Arbeitstag, lud er mich zu einem phantastischen Essen im Elizabeth ein und plauderte den ganzen Abend sehr vergnügt. Als er mich nach Hause brachte und wir uns im Wagen recht befangen voneinander verabschiedeten, wandte ich mich zu ihm um und gab ihm einen langen, liebevollen Kuß auf den Mund. Von da ab zog ich mich in mein Schneckenhaus zurück, so wie es meine Mutter getan hatte. Sicher bin ich meiner Mutter sehr viel ähnlicher, als mir lieb ist. Außerdem hatte Mutter wohl recht gehabt. Als ich meine Stellung aufgab, war ich vierundzwanzig, mein Chef neunundvierzig. Wir liefen uns danach noch ein- oder zweimal zufällig über den Weg, stellten uns die üblichen höflichen Fragen und trennten uns wieder. Er hat nicht geheiratet. Zwei Jahre später starb er an einer Gehirnblutung, ich war auf seiner Beerdigung. Wenn ich zurückblicke, bedaure ich es gar nicht einmal so sehr, daß ich ihn nicht geheiratet habe, aber es wird mir immer leid tun, daß ich ihm nicht den Vorschlag gemacht habe, seine Geliebte zu werden. Das mag irrelevant erscheinen, aber ich erwähne es, weil ich hoffe, daß vielleicht doch jemand versteht, warum alles so schiefgegangen ist —nicht etwa, weil ich meine Rolle in der bösen Geschichte, die nun ihren Anfang nahm, rechtfertigen will.

Ich muß nun über Geld sprechen. Nachdem mein hübsches Gehalt wegfiel, mußten wir unsere finanzielle Situation ernsthaft überdenken, und meine Mutter meinte, ich hätte ja Wirtschaftskunde gelernt und müsse daher eine Expertin, ja ein Zauberkünstler in Gelddingen sein. Bald hatte ich einen genauen Überblick über unsere Lage, und nicht lange danach gab meine Mutter bereitwillig die ganze Verantwortung an mich ab. Das Haus war keine Belastung, denn mein Vater hatte eine kombinierte Hypothek und Lebensversicherung darauf aufgenommen. Es war für zwei Personen viel zu groß, aber der Marktwert lag jetzt etwa zehnmal höher als vor fünfundzwanzig Jahren, als Vater es gekauft hatte, und nach seinem Tod gehörte es uns. Zu dem Zeitpunkt, von dem ich spreche, besaß meine Mutter außerdem Aktien im Wert von etwa 2000 Pfund, und ich hatte ungefähr 800 Pfund auf einem Sparkonto bei Lloyds. Außerdem bezog meine Mutter eine kleine Witwenpension, und ich bekam einen staatlichen Unterhaltszuschuß. In den nächsten zehn Jahren erledigte ich Schreibarbeiten zu Hause, meist Dissertationen, Manuskripte hoffnungsvoller Schriftsteller und dergleichen. Wir lebten also in recht angenehmen und vor allem gesicherten Verhältnissen. Und dann kam vor zwei Jahren die Wirtschaftskrise, und ich ließ mich überreden, die Aktien für noch nicht einmal 500 Pfund loszuschlagen. Hätte ich die Papiere nur noch ein halbes Jahr länger behalten, wäre alles gut oder zumindest lange nicht so schlimm geworden, aber damals fürchtete man überall einen neuen Schwarzen Freitag. Da die Kurse in den folgenden Wochen immer weiter sanken, sah es zunächst so aus, als hätte ich es besonders schlau gemacht, in Wirklichkeit aber war ich schlecht beraten worden und steuerte auf eine Katastrophe zu. All das verschwieg ich meiner Mutter, was nicht schwierig war. Sie hatte keinerlei Durchblick in Gelddingen. Mein Vater hatte sein kleines Vermögen umsichtig verwaltet, er hätte meine Mutter nie damit belastet, es wäre ihm wohl auch gar nicht recht gewesen, wenn sie zu genau Bescheid gewußt hätte. Nach seinem Tod lag die Verantwortung auf meinen lange nicht so starken Schultern, und meine Mutter glaubte, es sei alles in Ordnung. Ich schämte mich meines Versagens zu sehr, um sie eines Besseren — oder Schlechteren — zu belehren. Damals — ist das tatsächlich erst zwei Jahre her? — beschloß ich, unser restliches Geld in eine meiner Meinung nach wirklich sichere Investition zu stecken. Unser Haus war, wie gesagt, für zwei Personen zu groß. Ich hatte mir nun ausgedacht, daß wir das Haus teilen sollten. Meine Mutter und ich würden das Erdgeschoß behalten, den ersten Stock würden wir einer anderen Familie überlassen. Die Diele konnte man so umbauen, daß die Treppe zum Obergeschoß zu einer abgeschlossenen Wohneinheit führte. Badezimmer und Toilette waren ohnehin im Obergeschoß, und so brauchten oben nur noch eine Küche, unten ein kleines Bad und eine zweite Haustür eingebaut zu werden, damit keine gemeinsamen Schlüssel und keine gemeinsame Klingel nötig waren und die Post nichts durcheinanderbringen konnte. Ein Bekannter aus St. Frideswide’s (ja, darauf komme ich jetzt gleich zu sprechen) zeichnete mir einen hübschen Plan, und nachdem ich mich vergewissert hatte, daß keine Baugenehmigung erforderlich war, ließ ich mir Kostenvoranschläge machen. Sie erschienen mir alle erstaunlich hoch. Aber ich rechnete noch einmal nach und kam zu dem Schluß, daß wir es mit dem niedrigsten, der bei 1500 Pfund lag, gerade schaffen würden. Ich traf also alle Vorbereitungen, und wenige Monate später begannen die Bauarbeiten. Zunächst ging alles gut. Und dann erhielt im Februar letzten Jahres meine Mutter einen Brief von einer alten Bekannten, die von einer auf die Behandlung und Pflege von Multipler Sklerose spezialisierten Klinik in der Schweiz gehört hatte. Die Klinik versprach keine Wunderheilungen, aber zufriedene Patienten berichteten begeistert über ihren Aufenthalt dort, und der Prospekt, der dem Brief beilag, enthielt genaue Angaben über die dreiwöchige Kur und schöne bunte Bilder der Klinik mit Blick auf den Thuner See, schneebedeckte Alpengipfel und Steinbrech und Edelweiß an den Hängen. Die drei Wochen kosteten 630 Pfund, einschließlich Hin- und Rückflug von Heathrow nach Basel und Fahrt zur Klinik und zurück. Noch nie zuvor hatte ich begriffen, was für ein Tyrann das Geld sein kann. Wenn ich es hatte, konnte meine Mutter reisen, wenn nicht, mußte sie zu Hause bleiben.

Preisnachlässe nach Verdienst oder Bedürftigkeit gab es nicht. Ich betrachtete die Chancen einer Heilung meiner Mutter ohnehin skeptisch, aber die Klinik hatte einen guten Ruf, und die Reise würde meiner Mutter guttun. Sie hatte seit fast eineinhalb Jahren nicht das Haus verlassen, und oft war sie so lustlos, daß sie sich nicht einmal die Mühe machte, aus dem Bett in ihren Rollstuhl zu wechseln. Jetzt hatte sie zum erstenmal seit Jahren selbst eine Entscheidung getroffen. Sie wollte in die Schweiz, und sie freute sich darauf. Sie reiste. Obgleich ich in den drei Wochen so intensiv und so lange ich konnte arbeitete — tagsüber als Aushilfssekretärin, abends als Bedienung — fand ich die Zeit anregend und hatte wieder ein bißchen Freude am Leben. Aber die Dinge liefen nicht gut. Die Baufirma stieß auf unerwartete Schwierigkeiten und schrieb, wenn die Arbeiten ordentlich ausgeführt werden sollten, müsse der Kostenvoranschlag um 3 50 Pfund erhöht werden. Die Rückkehr meiner Mutter machte die Sache natürlich nicht besser, und als sich herausstellte, daß die Abflußrohre im Erdgeschoß erneuert werden mußten, war ich genötigt, die Arbeiten für ein paar Wochen einstellen zu lassen, weil ich die nächste Monatsrate nicht aufbringen konnte. Mitte des Sommers wußte ich nicht mehr aus noch ein. Und da ging ich zu Pfarrer Lawson.