Viktor Kolupajew
Das verschiedenfarbige Glück
1
Bevor ich mich in die Testkammer begab, warf ich noch einen
Blick auf meinen Glücksindikator. Der goldig glänzende Zeiger stand
auf dem fünfunddreißigsten Teilstrich. Genug, um in guter Stimmung
zu sein.
Edik Grosset schlug mir mit der Handfläche zwischen die
Schulterblätter und sagte: »Tut mir leid, daß ich dir diese Minuten
bereiten muß.«
»Schon gut, Ed. Dazu ist das Experiment ja da. Du hast
keine Wahl, es ist nun mal deine Pflicht. Laß dir ja nicht
einfallen zu mogeln. Dann war alles umsonst!«
Die Bemerkung über das Mogeln war natürlich überflüssig.
Grosset konnte gar nicht mogeln, nie und unter keinen Umständen. Um
so schwerer aber war es für ihn, an diesem Experiment
teilzunehmen.
»Du weißt ja selbst«, meinte Edik. »Es ist, als
krempelten sie einem das innerste nach außen. Widerlich.«
»Hör auf zu jammern.« Ich faßte nach dem Türgriff. Ediks
Gesicht schien eingefallen und gealtert. »Und bring auch Inga
dazu.«
»Was soll die Turtelei?« brummte Sergej Iwanow. »Das ist
nun mal unsere, Arbeit. Macht bloß nicht so 'n Theater…«
Noch immer drängten sich etwa zehn Leute vor der
Testkammer. Unter ihnen stach Anton Semigailo mit seinem mächtigen
Körperbau und seiner erstaunlichen Ruhe hervor.
Ich hatte immer den Eindruck, als wäre er speziell
geschaffen, um den Spruch vom gesunden Geist im gesunden Körper zu
illustrieren. Beim Anblick Antons konnte man sogar von einem
außerordentlich gesunden Geist in einem einfach verblüffend
gesunden Körper sprechen. Jedenfalls lag sein Glückspegel stets
über der mittleren Norm und überstieg oft sogar siebzig
Prozent.
Anton drückte mir die Hand und zwinkerte mir zu. Ich
hatte mich eigentlich von niemandem verabschieden wollen, aber es
ergab sich so. Nach Semigailo reichten mir auch alle anderen die
Hände.
»Ihr seid wohl alle verrückt geworden!« ertönte da die
Stimme unseres Leiters Karminski. »Das Experiment fangt in zehn
Minuten an, und ihr macht ihn noch extra kribbelig! Er muß sich
doch erst wieder beruhigen!«
Niemand aber rührte sich von der Stelle. Schließlich
kannten alle den Kandidaten der technischen Wissenschaften Vitali
Karminski gut genug, um nicht gleich vor Schreck
auseinanderzulaufen.
»Wie steht's mit dem Glück?« fragte unser
Leiter.
»Wir haben von jeder Farbe hundertachtzig Tüten«,
erwiderte Iwanow.
»Reicht das?«
»Ist er vielleicht ein Faß ohne Boden?«
»Na gut«, meinte Karminski zustimmend. »Wenn uns bloß
die Apparatur nicht im Stich läßt.«
»Aber nein«, brummte Semigailo seelenruhig. »Alles in
bester Ordnung.«
»Diese Ordnung kenne ich. Und wie sieht's mit der
Reduzierung des Glücks aus?«
»Schlecht«, erwiderte Grosset.
»Wieso?«
»Sie sollten mich davon entbinden, Vitali Petrowitsch.
Schikken Sie mich lieber zu Erdarbeiten an die Wärmestraße. Sie
müssen doch sowieso einen schicken. Und ich würde freiwillig
gehen.«
»Schuster, bleib bei deinem Leisten«, gab Karminski
tiefsinnig von sich. »Alles ist eingeteilt und bestätigt. Daran
wird nichts verändert.«
In diesem Augenblick klingelte im Laboratorium das
Telefon. Inga nahm den Hörer ab, lauschte und sagte, mir zunickend:
»Sascha! Du wirst am Telefon verlangt. Marina möchte mit dir
sprechen.«
Ich sah Karminski fragend an.
Der winkte resigniert ab. »Nun sprich schon. Was soll
man bloß mit euch machen? Wir verkorksen das Experiment. Weiß
Gott, wir verkorksen es noch…«
Ich nahm den Hörer auf.
»Marina?«
»Ich bin's, Sascha. Hörst du? Ich liebe dich!«
Ich schwieg. Viele, viele Jahre hatte ich diese Worte
von ihr nicht mehr gehört.
»Hörst du, was ich sage? Sascha!«
»Ich höre.«
»Ich liebe dich!«
»Das glaube ich nicht.«
»Sagst du das wegen des Experiments?«
»Marina, ich weiß es genau.«
»Na gut, dann wagt es!« Es schien ihr die Kehle
zuzuschnüren. »Ich werde nur noch Schlechtes von dir denken.
Ende.«
Hatte sie Angst bekommen? Oder war ihr etwas
klargeworden? Seit zehn Jahren lebten wir zusammen. Seit zehn
Jahren… War das viel oder wenig?
»Na, ist jetzt Schluß mit der Gefühlsduselei?« fragte
Karminski streng. »Gestattest du, daß wir mit dem Experiment
beginnen?«
Ich öffnete die Tür zur Testkammer, überschritt die
Schwelle und drehte den Türgriff herum. Nun war die Tür fest
verschlossen. Und im selben Augenblick überfiel mich die Stille,
eine unangenehme, kalte, prüfende Stille. Ich tat ein paar
Schritte, fand mich neben einem Sessel wieder und setzte mich
bequem darin zurecht. Wer weiß, wie lange ich darin würde ausharren
müssen. Jetzt brauchte ich nur noch den Helm aufzusetzen, doch ich
ließ mir Zeit. Mochten sie ruhig warten. Vor Beginn wartet man
immer. Ich wollte mich beruhigen und versuchen, an nichts zu
denken, statt dessen aber bastelte ich an logischen Hypothesen
darüber, warum Marina mich angerufen hatte. Von dem heutigen
Experiment wußte sie natürlich, mir aber half das nicht weiter…
»Ich liebe dich.« Wollte sie mich trösten, oder… Ich verstand
überhaupt nichts mehr!
Auf dem Pult vor dem Sessel leuchtete ein Lämpchen auf.
Aha, sie wollen nicht länger warten und bitten mich, mein Telefon
anzuschließen. Ich schnipste mit dem Kippschalter.
»Na, was ist?« fragte Sergej Iwanow ärgerlich. »Können
wir anfangen?«
»Gleich…« Ich setzte den Helm auf und klopfte, um ihn
zurechtzurücken, mit der Hand dagegen. Nur gut, daß die
Konstruktion des Helms es heute nicht mehr erforderte, daß man sich
kahlscheren ließ. Wie viele kuriose Situationen hatten sich daraus
ergeben…
»Fertig«, sagte ich und verspürte zu meiner eigenen
Verwunderung weder Angst noch den Wunsch, den ganzen Kram
hinzuwerfen. Mochte kommen, was wollte! Schließlich war das sogar
interessant!
»Saschka, ich bleibe in telefonischer Verbindung mit
dir«, sagte Grosset. »Schrei, wenn was ist.«
»Fangt an«, erwiderte ich.
Irgendeine Stimme sagte: »Ich überprüfe seinen
Glückspegel. Fünfunddreißig Prozent. Normal.«
Ich schaltete das Licht aus. Im Dunkeln zu sitzen
erschien mir angenehmer. Jetzt würde man meinen Glückspegel
künstlich senken. Sie würden ihn auf den Nullpunkt bringen und dann
versuchen, ihn auf hundert hochzutreiben.
Man begann mein Innerstes »nach außen zu
krempeln«.
Zuerst warf man mich aus der Wohnung, dann kündigte man
mir die Arbeitsstelle – mit der Begründung, daß ich meinem Posten
nicht gewachsen sei. Sie experimentierten, für mich aber spielte
sich das alles in Wirklichkeit ab. Marina sagte vorwurfsvoll zu
mir: »Hast du's endlich soweit gebracht!« Ich war selbst ziemlich
niedergeschlagen. Teufel auch, nie hätte ich gedacht, dem Posten
eines leitenden Ingenieurs nicht gewachsen zu sein. Hatte ich in
den zehn Jahren tatsächlich mein ganzes Wissen eingebüßt, oder
hatte ich nie welches besessen, und es war nur keinem aufgefallen?
Na gut, Arbeit zu finden ist bei uns kein Problem…
»Tjaaa«, meinte Karminski bedauernd. »Und ich dachte
immer, die Arbeit wäre für ihn alles.«
»Sie dürfen nicht nach den Zahlen gehen«, sagte Edik.
»Wir wissen noch nicht, wieviel Prozent die Arbeit bei uns
ausmacht. Das läßt sich übrigens nachprüfen!«
Das mit der Wohnung war schon schlimmer. Wie viele Jahre
hatten wir in einer kleinen, stickigen Kammer gehaust. Dann
erhielten wir dreißig Quadratmeter – und jetzt verloren wir wieder
alles…
»Nur null Komma zwei«, meldete Grosset.
»Seltsam, seltsam«, sagte Karminski.
»Daran ist gar nichts Seltsames«, verteidigte mich Inga.
»Jeder hat seine eigenen moralischen Werte.«
Mir die Anrichte, die Couch, die Stühle und den
Fernseher zu nehmen hatte keinen Sinn. Das schienen alle zu
begreifen.
Und doch nahmen sie es mir. Alles verbrannte.
»Aha! Vier Prozent!« meinte Anton Semigailo aufgeregt.
Er freute sich, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. (Ich aber
pfiff auf den ganzen Plunder. Man hat doch einen Kopf, um Geld zu
verdienen und sich Neues anzuschaffen.)
»Die Multivox ist ja auch verbrannt!«
»Wir probieren es noch mal, alles einzeln«, sagte
Karminski. »Couch, Anrichte, Tisch. Was noch?«
»Küchentisch«, ergänzte Sergej.
»Wieso gerade der Küchentisch?«
»Darin bewahrt er doch seine Noten auf«, erläuterte
Sergej grinsend.
Er machte sich ganz offensichtlich über unseren Leiter
lustig. Denn es war Karminski, der die Noten seiner
Maschinensymphonien im Küchentisch aufbewahrte. Jener Symphonien,
die unter seiner Leitung und nach seinen Programmen von einem
Computer unserer Abteilung komponiert wurden. Das war Vitali
Petrowitschs Hobby.
Karminski aber leitete jetzt ein Experiment und war
nicht zum Scherzen aufgelegt.
»Küchentisch«, sagte er. »Fernseher. Diese… diese Anzüge
und Kleider…«
»Null Prozent«, stellte Edik fest.
»Hat denn von seinem ganzen Hausrat nur die Multivox
einen Wert?« fragte Karminski. »Das müssen wir überprüfen. Die
Multivox.«
»Vier Prozent.«
Die Multivox hatte ich zusammen mit Grosset gebaut. Vier
Jahre hatten wir uns damit geplagt. Und ein halbes Jahr später
tauchten diese Instrumente in den Geschäften auf.
Unseres aber war besser! Besser in dem Sinne, daß es
speziell für uns geschaffen war. Wir verstanden es, und es verstand
uns ohne viele Worte, genauer, ohne viele Gedanken, denn die
Multivox gab musikalische Gedanken wieder, jene seltsame,
unbegreifliche, unfaßbare Musik, die einem so oft im Kopf
herumgeht. Mitunter war es zum Heulen, daß man sie nicht ausdrücken
konnte. Erstens fehlte es uns an der musikalischen Bildung.
Zweitens brauchte man, selbst wenn man diese besaß, ein Bindeglied
zwischen Gedanken und Notenzeichen. Ein Komponist kommt auch ohne
eine Multivox aus. Wir aber waren keine Komponisten und nicht
einmal Menschen mit hervorragenden musikalischen Fähigkeiten.
Jedenfalls vertrat Marina diese Ansicht. Grosset komponierte
Symphonien, und sie wurden sogar aufgeführt, wenn auch nur in
unserer Stadt. Ich verfaßte symphonische Etüden und Impromptus, die
von den Musikwissenschaftlern allerdings nicht anerkannt wurden.
Sie behaupteten, es gäbe keine symphonischen Impromptus! Wieso soll
es keine geben? Hier sind doch welche! Hören Sie nur zu! Aber nicht
einmal Marina glaubte, daß es so etwas geben könne. Da es bisher
keine gegeben hat, kann es auch in Zukunft keine geben.
»Und doch werde ich welche komponieren«, sagte ich.
»Wenn man Sie nicht hören will, dann läßt man's eben bleiben.
Einige Leute verstehen sie trotzdem.«
»Du solltest mit diesem Unsinn aufhören. Es wird längst
Zeit, daß du eine Dissertation schreibst.«
Diese verfluchte Dissertation. Brauchte ich sie? Ich gab
ehrlich zu, von der Arbeit nicht so gepackt zu sein, daß ich
imstande gewesen wäre, einen selbständigen Gedanken oder eine Idee
hervorzubringen. Ich war es zufrieden, ein mittelmäßiger Ingenieur
zu sein.
»Alle, auch die Mittelmäßigen und Unscheinbaren,
schreiben Dissertationen«, suchte Marina mir klarzumachen. »Werden
etwa nur Genies Doktoren und Kandidaten?«
»Leider nicht«, erwiderte ich. »Soll ich, ein
mittelmäßiger Ingenieur, zu einem mittelmäßigen Kandidaten werden?
Nein, daraus wird nichts. Auch ohne mich gibt's genug
davon.«
»Aber zu einem Komponisten wirst du?«
»Das weiß ich noch nicht. Wenn mir klar wird, daß nichts
draus wird, gebe ich das Komponieren auf.«
»Vielleicht wird dir das erst auf deine alten Tage
klar?«
»Dann gebe ich's eben auf meine alten Tage auf.
Vorläufig aber interessiert mich die Sache noch…«
Das Experiment dauerte schon eine halbe
Stunde.
»Na, was ist, gehen wir zur Persönlichkeit über?« meinte
Karminski fragend.
Grosset seufzte tief.
»Ich schalte Marina aus«, sagte Edik mit seltsamer
Stimme.
Marina liebt mich nicht! Ein Schlag? Nein. Ich habe es
schon früher vermutet, jetzt weiß ich es genau.
Es handelt sich nicht darum, daß sie einen anderen
liebt.
Nein. Das zwischen uns ist einfach eine Standardliebe,
wie sie Nachbarn und Bekannten gefällt. Wir zeigen uns den Leuten
oft zusammen, mit Ausnahme jener Gelegenheiten, bei denen ich das
ablehne. Für sie ist das nur eine Erleichterung, und doch sagt sie
immer wieder: »Du unterhältst dich nicht mit mir, gehst nicht mit
mir ins Kino, schweigst und interessierst dich für nichts. Alle
Leute führen ein normales Leben, du aber?«
Worüber soll man sich jedoch unterhalten? Ein Gespräch
kommt sowieso nicht zustande. Es kommt nicht zustande! Vielleicht
ist es ganz gut, daß ich zu schweigen verstehe?
Liebe ist das nicht. Was aber ist es? Sympathie.
Gewohnheit. Alles hat sich eingespielt und abgeschliffen. Man
möchte, nichts verändern.
»Ein Prozent. Fast eins«, sagte Edik verwirrt.
»Wieviel genau?« fragte Karminski.
»Mein Gott!« sagte Alla, eine junge Ingenieurin. Sie war
höchstens zwanzig Jahre alt. »Da ist ein Mensch, den seine Frau
nicht liebt, er aber fragt: Wieviel Prozent!«
»Kollegen, disputieren wir hier über die Liebe, oder
führen wir ein wichtiges, im Themenplan vorgesehenes Experiment
durch?« fragte Karminski streng. »Was sind das für
Kindereien?«
»Mein Gott! Was geht hier nur vor sich?« ließ Alla sich
wieder vernehmen.
»Null Komma neun null eins«, sagte Edik
ergrimmt.
»Machst du schon wieder Faxen? Die Skale zeigt doch nur
zwei Stellen hinter dem Komma an.«
»Verzeihung. Null Komma neun null.«
»Kollegen! Ich bitte, die Sache ernst zu
nehmen.«
»Vielleicht ziehen wir das Tempo ein bißchen an?« schlug
Iwanow vor. »Die Zeit vergeht, und wir diskutieren.«
»Eine gute Idee, Sergej«, sagte Karminski. »Zeit ist
Geld. Wer ist der nächste auf der Liste? Grosset? Wir schalten
Grosset aus.«
Wir kannten uns schon seit fünfzehn Jahren. Er war ein
sonderbarer Kerl. Es kam vor, daß er wie ein Wasserfall redete und
schrie, wild gestikulierte, sich sein Lockenhaar raufte und etwas
zu beweisen suchte. Plötzlich aber sagte er: »Nein, die Argumente
reichen nicht aus« und verstummte. Wenn er etwas nicht beweisen
konnte, gab er sich auf der Stelle geschlagen. Sogar in Prüfungen.
Dann sagte er: »Ich bin mir nicht sicher, geben Sie mir gleich die
nächste Frage.«
Was brachte uns zusammen?
Die Liebe zur Musik? Ja. Anfangs war es nur das.
Obgleich jeder ein anderes Verhältnis zur Musik hatte. Ich schätzte
an der Musik nur die Improvisation und den Flug der Phantasie. Er
die strenge, peinlich genaue Arbeit. Wenn ich mich an die Multivox
setzte, dachte ich nie darüber nach, was ich spielen würde. Das kam
erst während des Spiels. Edik dagegen rührte das Instrument
wochenlang nicht an und brütete alles erst gründlich im Kopf aus.
Und oft, sehr oft mußte ich zugeben, daß seine Symphonien
gehaltvoller waren als meine Improvisationen.
Aber die Musik war nicht die Hauptsache. Wir verstanden
einander einfach ohne Worte. Mir gefiel, daß er ein ehrlicher,
immer wieder anderer Mensch war, der sich niemals wiederholte.
Einmal, noch im Institut, bezog er für mich Prügel. Ich wußte
nicht, daß man mich verprügeln wollte. Er aber wußte es und ging
allein… Erst einen Monat später erfuhr ich davon. Edik aber verlor
kein Wort darüber…
Jetzt gibt es ihn nicht mehr. Da ist zwar noch jemand
mit dem Namen Grosset, mit seinem Gesicht und seiner Gestalt. Aber
das ist nicht Edik. Ich spüre es, ich weiß es genau. Und meine
Seele ist völlig leer. Wie soll man ohne Freunde leben?
»Zehn«, sagte Edik.
»Was zehn?« fragte Karminski zurück.
»Prozent.«
»Oho! Ausgezeichnet! Wir sind schon ziemlich weit. Bald
können wir Schluß machen. Die nächste – Inga Grosset.«
Oh, mein Glück! Natürlich nicht meins, sondern Ediks.
Allein schon der Anblick der beiden macht einen glücklich. An einem
der Abende im Institut tanzte sie einen spanischen Tanz. Und wie
sie tanzte… Die beiden lernten sich kennen. Nach einer Woche
beschlossen sie zu heiraten. Ich selbst sprach im Auftrag des
Fakultätsbüros mit ihnen darüber, ob eine so übereilte Heirat nicht
leichtfertig sei. Was für eine Dummheit! Als ob die Zeit eine Rolle
spielte. Bei ihnen war das ganze Leben ein ständiger Wechsel.
Nichts Eingespieltes, nichts Abgeschliffenes, jeder Tag neu und
anders.
»Vier Prozent«, sagte Edik.
»Ausgezeichnet.« Karminski freute sich. »Wer ist der
nächste?«
»Aber warum mehr als bei Marina?« fragte Inga aus
weiblicher Solidarität.
»Das könnt ihr später klären. Sergej Iwanow.«
»Null zwei. Fünf. Drei. Null fünf. Der Zeiger
hüpft.«
»Häschen hüpfen!« brüllte Karminski. »Semigailo! Warum
pfuscht die Apparatur?«
Meine Beziehungen zu Sergej waren kompliziert. Mit ihm
zusammenzuarbeiten war eine reine Freude. Alles ging ihm leicht von
der Hand. Als wir noch dabei waren, die Glücksindikatoren zu
erarbeiten, konnte er an einem einzigen Tag ein rundes Dutzend
Schaltungen entwerfen, verbinden und aufeinander abstimmen. Und sie
funktionierten. Allerdings gelang es gewöhnlich keinem mehr, sie zu
wiederholen. Sie funktionierten nur, wenn er sie mit eigenen Händen
schuf. So war er zu Hause, im Wald und auch auf Dienstreisen. Wenn
irgend etwas allen völlig unmöglich erschien, stürzte er sich, ohne
lange zu überlegen, Hals über Kopf darauf. Und ihm gelang es. Mit
dem Motorrad brachte er es fertig, Wege zu befahren, auf denen
sogar Traktoren steckenblieben. Beim Schachspiel gewann er in
hoffnungslosen Positionen. Er hatte eine leichte Hand und das
seltene Talent, daß ihm alles glückte.
Zehn Jahre lang waren er, Edik und ich unzertrennlich.
Dann zog er sich etwas von uns zurück. Das geschah, als mir klar
wurde, daß ich seine Nina liebte.
Die Zeiger der Indikatoren tanzten, und Karminski
schimpfte ohne jeden Grund mit Semigailo, den überhaupt keine
Schuld traf.
»Alle Geräte arbeiten normal, Vitali Fetrowitsch.«
»Normal, normal. Dann integriere zeitlich.«
»Über welchen Zeitabschnitt?«
»Woher soll ich das wissen! Eine Minute.«
»Gut… Zwei sieben.«
»Anton Semigailo!«
»Null.«
»Alla Kuprina!«
»Null zwei.«
»Karminski!«
»Null.«
»Filatow! – Skripkin! – Der Präsident der USA! – Der
Institutsdirektor! – Der diensthabende Klempner!…«
»Null, null, null…«
»Wo liegt der Fehler?« fragte Karminski. »Bleiben noch
zwölf Prozent. Anscheinend haben wir doch alle genannt. Sowohl
Bekannte als auch Unbekannte.«
»Die Gesundheit haben wir vergessen!« heulte Anton auf.
»Mit der Gesundheit ist's so eine Sache!«
»Die Gesundheit!«
»Null.«
»Er will doch ein berühmter Komponist werden«, sagte
Sergej.
»Wie kannst du nur, Sergej?« flüsterte Inga.
»Ruhm! Anerkennung! Talent!«
»Null, null, null.«
Müde ließ Karminski sich auf einen Stuhl
fallen.
»Was haben wir vergessen?«
»Vielleicht sollten wir ein Wörterbuch nehmen und alles
der Reihe nach durchgehen?« schlug Sergej vor.
»Folgendes, Grosset. Frag ihn selbst. Er weiß es doch am
besten.«
Sie hatten mir alles genommen. Außer Nina hatte ich
nichts und niemanden mehr. Edik wußte es natürlich. Kann man so
etwas verheimlichen? Auch Sergej wußte es, aber er ließ sich nichts
anmerken. Oder wußte er es nicht?
Die kleine Frau mit den kurzen, schwarzen Haaren, die
ich nicht einmal in Gedanken zu küssen wagte, weil ich hinterher
Sergej in die Augen blicken müßte.
»Saschka«, rief Ed.
Ich spannte meinen ganzen Willen an. Ich habe nichts
rund niemanden! Niemanden! Ich bin allein! In dieser grauen,
eintönigen, öden Welt.
»Zwölf Prozent«, sagte Edik kaum hörbar.
»Ergibt also null«, schlußfolgerte Karminski. »Die erste
Hälfte des Experiments wäre geschafft. Iwanow, hol die Container
mit dem Glück!«
Sergej stieß die Kiste mit dem Fuß vor sich her.
Schweigend ließ er auf seiner Handfläche einen Plastbeutel mit
rosafarbenem Glück tanzen und schlug damit nach einer über das
Fensterbrett kriechenden Fliege. Eine Fliege mit Glück zu
erschlagen!
»Welch ein Frevel!« Karminski schüttelte vorwurfsvoll
den Kopf.
»Ziehen Sie's mir vom Gehalt ab«, erwiderte Sergej
leise.
»Es ist doch merkwürdig«, sagte Karminski, plötzlich
auffahrend. »Das fällt mir jetzt erst auf… Jeder Mensch hat
schließlich eine Beziehung zum Leben, irgendeine Überzeugung und
Ziele… Nichts davon haben wir Alexander genommen, aber er ist
absolut unglücklich!«
»Erstens ist es nicht so einfach, einem Menschen die
Überzeugung zu nehmen«, widersprach Edik.
»Ja, ja«, gab Karminski sofort zu. »In diesem Punkt ist
die Methodik unseres Experiments eindeutig unvollkommen. Darüber
müssen wir noch nachdenken…«
»Dabei kommt sowieso nichts 'raus. Die Beziehung zum
Leben und eine Multivox sind nicht ein und dasselbe. Mehr noch,
wenn es uns gelingt, ihm seine Überzeugungen zu nehmen, so ist der,
der die Testkammer verläßt, bereits kein Mensch mehr… Denken Sie an
den Narodowolzen Nikolai Morosow. Er verbrachte fünfundzwanzig
Jahre in der Kasematte, aber das Gefängnis zerbrach ihn
nicht.«
»Ja, aber bei Alexander stehts jetzt auf
Null!«
»Jetzt ja. Das kommt daher, daß das alles viel zu
schnell auf ihn eingestürmt ist. Nach einiger Zeit wird er von
selbst anfangen, einen Ausweg zu suchen, das heißt, er wird diesen
Zustand der absoluten Leere ohne alle Glückstüten überwinden. Eben
die Überzeugungen ermöglichen es dem Menschen, in solchen
Situationen zu überleben. Aber auch ohne das ist unser Experiment
grausam genug.«
»Die Methodik, die Methodik…«, murmelte
Karminski.
Ich aber schwebte zwischen Leid und Glück, und niemand
brauchte mich. Auch ich brauchte keinen. Herz und Kopf waren leer.
Absolut leer! Ein seltsamer Zustand. So mag sich ein Stein fühlen.
Der Fluß schleift ihn von Ort zu Ort – es ist ihm recht. Schleift
er ihn nicht mit, bleibt er eben tausend Jahre liegen. Aber ich bin
doch kein Stein! Der klarste Gedanke war wohl der von der
Nutzlosigkeit der eigenen Existenz… Ich stellte mir vor, wie sie
dort alle im Laboratorium saßen, Diagramme kritzelten, die
Ergebnisse erörterten und sich auf die Fortsetzung des Experiments
vorbereiteten. Armes, Unglückliches Versuchskaninchen!
»Schlagt mich tot!« schrie ich ins Mikrofon. »Schlagt
mich tot!«
Schließlich hätte jeder von ihnen ohne weiteres in die
Testkammer kommen und mir einen Hocker oder irgend etwas anderes
über den Schädel hauen können. Und Schluß… Aber nein. Sie blieben
sitzen. Keiner machte auch nur einen Finger krumm, um einen Hocker
aufzuheben! Schöne Kollegen… »Ich kann nicht! Ich kann nicht
mehr!«
2
Vor etwa vier Jahren schlug man uns ein neues Thema vor. Wir
sollten Glücksindikatoren entwickeln. Was gab es für ein Gelächter
in den ersten Tagen, als wir die technische Aufgabe studierten! War
das wirklich ernst gemeint? Wie sich herausstellte, war es ein
völlig seriöser Auftrag.
Wir brachten ein paar unzuverlässige und ungefüge
experimentelle Geber heraus, die die allgemeine Stimmung des
Menschen anzeigten. Für den Transport des ersten Indikators
brauchte man noch einen Lastwagen. Die technische Seite der
Angelegenheit nahmen wir schon ernst, über die Idee aber mußten wir
noch immer grinsen.
Dann erhielt unser Laboratorium eine Kiste mit
Polyäthylentüten undefinierbarer Farbe. Darin befand sich irgendein
Gas, dessen Einatmen zur Verbesserung der allgemeinen Stimmung
führte. Einige Tüten waren eingeschrumpft, weil das Gas aus ihnen
entwichen war oder sich in ein Pulver verwandelt hatte.
Karminski, damals noch leitender Ingenieur, studierte
sorgfältig die Gebrauchsanweisung und schnitt eine Tüte auf. Ich
weiß noch es war vor dem Mittagessen und wir alle waren hungrig wie
die Teufel. Und plötzlich… Ich spürte, daß ich satt war. Und nicht
einfach satt, sondern auf eine angenehme, glückliche Art satt Nie
zuvor hatte das Essen selbst mir ein solches Vergnügen bereitet.
Anton strahlte geradezu vor Wonne. Dabei aß er für sein Leben gern!
Offensichtlich aber war eine Tüte des sättigenden Glücks für alle
zuwenig, und Semigailo forderte, noch eine aufzumachen. Ich
erschrak. Schließlich war ich bis oben hin satt, damit verdarben
wir nur alles.
»Na gut… Experiment ist Experiment«, sagte Karminski und
öffnete noch eine Tüte.
Nichts geschah. Anton stülpte die Tüte um. Seine
verstörte Miene ließ erkennen, daß er noch immer nichts begriff.
»Was ist das, meine Lieben?« fragte er. »Ein Betrug?«
Eins der Mädchen aber, die Technikerin Lena, auf die das
»sättigende« Glück anscheinend nicht gewirkt hatte, sah sich
plötzlich erstaunt um, blühte geradezu auf und hob stolz und
glücklich den Kopf.
»Und ihr habt's nicht geglaubt! Dabei liebt er
mich!«
Wie sich herausstellte, hatte Karminski eine Tüte mit
Gas geöffnet, dem wir später den Namen »Liebesglück« gaben. Und
tatsächlich heiratete Lena bald darauf. Sie kündigte, aber noch
etwa ein Jahr lang begegnete ich ihr mitunter in der Stadt zusammen
mit einem semmelblonden, dicklichen jungen Mann, und jedesmal
strahlte sie vor Glück. Ich aber glaubte, daß jene geöffnete Tüte
keinen Einfluß auf ihr Leben hatte. Das war einfach ein zufälliges
Zusammentreffen. Hätten wir damals diese Kiste nicht bekommen, wäre
sie trotzdem stolz und glücklich geworden.
»Halten wir das fest. Ein anderer Typ des Glücks«, sagte
Karminski. Er neigte schön immer zur Systematisierung und zur
Einrichtung von Fächern, obwohl diese Fächer oft schief
hingen.
»Warum sind keine Etiketts drauf?« fragte Anton
aufgebracht.
»Nur Geduld«, besänftigte ihn Sergej. »Es ist bald
Mittag. Nur noch zehn Minuten.«
»Musterproben des Glücks«, stellte Karminski wichtig
fest. »Was verlangst du davon? Wenn das alles erst mal in Serie
produziert wird…«
Irgend jemand kam auf die Idee, unseren tausend Kilo
schweren Indikator anzuschließen und der Reihe nach an jedem von
uns auszuprobieren. Was man auch sagen mochte, die Glücksprozente
lagen bei allen höher als gewöhnlich.
Allmählich freundeten wir uns mit unserem Thema an. In
der Tat, man mißt doch auch die Körpertemperatur des Menschen. Also
braucht die Medizin das. Warum soll man nicht auch den Glückspegel
des Menschen messen? Vielleicht ist er noch wichtiger als die
Temperatur.
Niemand in der Abteilung machte sich mehr über unsere
Indikatoren lustig. Wir arbeiteten unermüdlich. Man trieb uns
ständig zur Eile an, aber man half uns auch nach Kräften. Die
neuesten Ausrüstungen, Apparate und Material, die erforderlichen
Planstellen – das alles tauchte im Handumdrehen bei uns auf. Die
Modellwerkstatt führte unsere Bestellungen blitzartig
aus.
Bequem zu handhabende Indikatoren mußten um jeden Preis
geschaffen werden. Und wir schufen sie. Mit einem Gewicht von
dreißig Gramm und der Größe eines winzigen Fieberthermometers.
Unser Indikator sah natürlich nicht berühmt aus. Na, was soll das
auch? Da geht ein Mensch die Straße entlang, und aus seiner
Jackentasche lugt ein Glasthermometer. Da kann man doch nur lachen!
Uns und unseren Vorgesetzten war das völlig klar. Und nach dem
großzügig gewährten Sommerurlaub – diesmal hatten alle Glück! –
machten wir uns wieder an die Arbeit. Nach einem Jahr legten wir
bereits elegantere Lösungen vor. Da gab es Indikatoren in Form
einer Uhr mit Zeigern, die die Prozente und sogar die Bruchteile
von Prozenten anzeigten, Indikatoren in Form von Manschettenknöpfen
und Broschen, wo die Glücksprozente nach Farben und Tönen bestimmt
wurden, in Form von Ringen und Armbändern, Babynuckeln und
Kugelschreibern.
Mitunter ging meine Phantasie mit mir durch, und ich
malte mir aus, daß man eines Tages das Glück in reiner Form in
Geschäften, an Kiosken und Blumenständen verkaufen würde.
Rosafarbenes, festes, unzerbrechliches, gediegenes
Familienglück. Hellblaues Glück für Träumer, Sucher und nach dem
Ungewöhnlichen Strebende. Das gelbe Glück der Unbesonnenheit, die
weder Maß noch Grenzen kennt. Braunes, sättigendes, angenehm den
Bauch füllendes Glück. Das rote Glück der Entschlossenheit,
Kompromißlosigkeit, Geradlinigkeit und Ehrlichkeit.
Graubraun-himbeerfarbenes Glück für lustige Geburtstagsgeschenke,
das alles durcheinanderbringt, ein fröhliches, leichtes und schnell
wieder vergessenes Glück. Dunkelblaues Glück, scharf pfeifend wie
der Wind der Meere und der weiten Fahrten.
Oh! Wer könnte alle Farben und Schattierungen des Glücks
aufzählen! Wer kennt sie? Mag sein, daß sie irgendwo in Listen und
Kalkulationen mit genauer Preisangabe und Wirkungsfrist genannt
werden. Mag sein. Dann aber umfaßt dieses Verzeichnis sicherlich
Tausende von Seiten.
Nur schwarzes Glück wird es nicht geben. Im Prinzip ist
auch dieses durchaus möglich. Das Glück der Lüge, der Gemeinheit,
des Betrugs und der Verleumdung. Aber selbst wenn man eine solche
Art des Glücks zu wissenschaftlichen Zwecken ausbrüten sollte,
würde man das Geheimnis seiner Produktion wahrscheinlich weit, weit
hinter sieben Siegeln verbergen. Vielleicht ist ein solches Glück
doch nicht möglich? Schließlich bedeuten Lüge, Verleumdung und
Gemeinheit ein ewiges Grauen. Wie kann von Glück die Rede sein, wo
das Grauen herrscht? Selbst ein Schuft ist nur dann wirklich
glücklich, wenn man ihn für einen edlen Menschen hält.
Ich malte mir aus, wie sich in den ersten Wochen und
Monaten vor Geschäften und Verkaufsständen lange Schlangen bilden.
Frauen in mittleren Jahren stürzen sich auf das rosafarbene
Familienglück. Und das zu Recht. Gewisse Liebhaber geistiger
Getränke kommen plötzlich zur Vernunft. Sonderlinge erstehen
hellblaues Glück und werden noch wunderlicher, machen seltsame
Entdeckungen, die oft an Heldentaten grenzen. Wenn die Leute zur
Versammlung gehen, nehmen sie rote Tüten, kritisieren sich selbst
und ihre Vorgesetzten gnadenlos und aufrichtig und verspüren dabei
das gewaltige Glück, die Wahrheit zu sagen.
Anfangs geniert man sich natürlich, braunes, sättigendes
Glück zu kaufen. Aber auch hier finden sich einfallsreiche
Kantinen-, Café- und Restaurantleiter. Die braunen Tüten verkauft
man direkt an der Essenausgabe, und wer eine davon erwirbt,
empfindet bei einem faden, standardmäßigen Mittagessen oder
Abendbrot ein deutliches Glück, wenn sein Magen sich
füllt.
Die Gören legen, statt fünfzehn Kopeken für das
Schulessen zu bezahlen, ihr Geld zusammen, kaufen sich dunkelblaues
Glück und fühlen sich als Kapitäne auf weiter Fahrt, als
Kosmonauten, kühne Entdeckungsreisende und Forscher. Die Leistungen
an Schulen und Instituten steigen erheblich, besonders in
Geographie, Physik und Geschichte.
Mit einem Wort, der Handel mit dem Glück hatte in meiner
Vorstellung nur positive Folgen. Jeder Mensch würde es von nun an
als seine Pflicht ansehen, einen Indikator bei sich zu tragen,
stets sorgfältig auf seinen Glückspegel zu achten und nicht
zuzulassen, daß er unter eine bestimmte Grenze fiel. Neue
Wissenschaften würden entstehen: Eudämonik, Felizitologie und
Glückstechnik. In den Polikliniken würde man spezielle. Abteilungen
für Eudämonopädie einrichten.
In unserer Freizeit, abends, experimentierten Gosset und
ich ab und zu. Dabei stellten wir eines Tages fest, daß sich,
mischte man beispielsweise zehn Prozent rosafarbenen Glücks mit
zehn Prozent hellblauen Glücks, einmal zehn- Komma-eins und ein
andermal zweiunddreißig Prozent ergaben. Und es kam, wenn auch nur
selten, vor, daß es nur fünf Prozent waren.
Wahrscheinlich kämen auch andere dahinter. Schließlich
kann es durchaus angenehmer sein, einen Blumenstrauß auf leeren
Magen geschenkt zu bekommen als auf einen vollen. Und das zufällige
Lächeln eines bestimmten Menschen kann das Herz mit einem weitaus
größeren Glücksgefühl erfüllen als der Kauf eines neuen
Autos.
Dann aber erhielten wir ein anderes Thema. Wir sollten
untersuchen, worin das Glück besteht.
Nun hieß es arbeiten, und wir krempelten wieder die
Ärmel hoch, um den Plan zu erfüllen. Wir entwickelten eine
Apparatur zur Glücksreduzierung und eine Methodik der Sättigung mit
Glück. Für den Anfang mußten wir nun klären, ob man den Glückspegel
des Menschen auf hundert Prozent bringen kann und wie das zu
bewerkstelligen ist.
3
Ich sitze in der Testkammer und ersticke fast an der Leere,
die meine Seele und mein Bewußtsein füllt. Nichts auf der Welt
könnte mir Glück bringen, und auch ich kann es niemandem
schenken.
»So kann ich nicht länger leben! Hört ihr?«
»Ich höre es, Saschka«, sagte Edik. Er weinte
fast.
»Fangen wir an!« kommandierte Karminski. »Rosafarbenes!
Eine Tüte.«
Sergej griff hastig nach einer Tüte, stopfte sie in das
pneumatische Rohr, drückte auf einen Knopf, und die Tüte flog in
die Testkammer. Dann drückte er auf einen anderen Knopf. Eine
scharfe Messerklinge schlitzte die Tüte auf.
Ich lächelte kaum merklich. Es lohnte sich doch noch, zu
leben.
Nun fingen sie an, mich mit Glück
vollzupumpen:
Man hörte nur noch: »Zwei Tüten grünes!«
»Null-Komma-ein Prozent.«
»Ausgezeichnet! Fünfzehnmal
graubraun-himbeerfarbenes!«
»Null zwei.«
»Wunderbar! Braunes! Dunkelblaues! Gesprenkeltes!
Violettes! Noch zwei! Noch mal achtzehn! Herrlich! Ein
Wunder!«
»Null. Null eins. Es fällt. Nur noch null
vier.«
Die Ärmsten. Sie waren in Fahrt gekommen. Das Glück zu
erforschen ist keine leichte Aufgabe. Alles hastete hin und her.
Bald mußte eine neue Papierrolle in den Selbstschreiber eingelegt
werden, bald endete der Film im Schleifenoszillographen. Die
Magnettrommeln des Computers füllten sich mit Daten. Plötzlich
schlugen die Zeiger wie rasend über den Skalenrand. Eine
blitzartige Umschaltung mußte vorgenommen werden.
»Prima, alter Junge«, sagte Edik. »Du heizt ihnen
tüchtig ein!«
Grosset wurde wieder fröhlicher. Kaum ließen sie mir
hellblaues Glück zukommen, da schloß ich Edik wieder ins Herz. Er
spürte das und freute sich. Ich glaube, er wünschte jetzt dieses
ganze Experiment zum Teufel. Er saß da, las mechanisch die Werte
ab, stellte ein Diagramm auf und war heilfroh, daß das Schlimmste,
Unangenehmste – der Verrat an dem Freund, wenn auch nur für wenige
Minuten und im Namen der Wissenschaft – hinter ihm lag.
Ich gewann sie alle zurück. Auch Marina. Wie glücklich
war ich, daß es Marina gab. All das Gute, das uns vor langer,
langer Zeit verbunden hatte, stand wieder vor meinen Augen. Jene
rein sachlichen, einfachen, verständlichen und gewöhnlichen
Beziehungen zwischen uns waren ja erst später entstanden.
Reicht euer Glück nur 'rüber! Ich kann es gebrauchen.
Schneide die Tüten auf, Sergej, immer zu, lerne mit dem Glück
umzugehen!
Ich gewann alles zurück. Auch Inga und Sergej und meine
Multivox.
Mir wurde froh ums Herz. Meine Kollegen aber kamen nicht
von der Stelle, sie kamen einfach nicht von der Stelle!
»Vielleicht sollten wir aufhören?« meinte Sergej. »Dabei
kommt ja doch nichts raus.«
»Das kann nicht sein!« sagte Karminski aufgeregt.
»Wieviel?«
»Fünfundzwanzig«, erwiderte Edik.
»Ist was mit der Apparatur?«
»Unsinn!« brummte Semigailo. »Die Apparatur arbeitet wie
ein Uhrwerk.«
»Ist er vielleicht ein Faß ohne Boden? Gebt mal her, ich
spreche selbst mit ihm.«
Karminski packte den Telefonhörer und brüllte: »Sascha,
mein Lieber! Was willst du denn haben? Sag es! Eine Jacht?
Berühmtheit? Na, nimm's dir doch, nimm es! Mein Gott, das
Experiment ist in Gefahr… Aha, endlich klappt es!«
Ich hatte mein Herz für Nina geöffnet.
»Welche Farbe hatte die Tüte?« brüllte Karminski. »Habt
ihr's festgehalten?«
»Gar keine.« Sergej zuckte mit den Schultern. »Er hat
keine bekommen.«
»Woher dann das Aufflackern? Um fünfzehn Prozent! Habt
ihr was verwechselt?«
»Wir haben ihm überhaupt kein Glück geschickt!«
erwiderte Sergej gekränkt.
»Merkwürdig. Erkläre uns, was passiert ist, Sascha!
Bring's wenigstens auf neunzig Prozent! Ich gebe dir alles, was du
willst. Wer ist der Tür am nächsten? Flitzt mal zum Lager 'rüber
und laßt euch noch ein paar Kisten geben!«
»Nicht nötig, Vitali Petrowitsch.«
»Wieso nicht nötig?« fragte Karminski
verdutzt.
»Es hat keinen Sinn«, erläuterte Edik.
»Eure ganzen Experimente hängen mir zum Halse 'raus«,
sagte ich. »Steckt doch Semigailo in die Testkammer. Sein
Glückspegel liegt sowieso über der Norm. Mit dem könnt ihr
experimentieren.«
»Aber Sascha! Bist du verrückt geworden? Wir haben den
Plan!«
»Schluß! Ich nehme diese blöde Haube ab. Im Plan steht,
daß man das Experiment durchführen muß. Seine Ergebnisse aber
lassen sich nicht planen. Mag das Ergebnis doch beim ersten Mal
negativ sein.«
»Das lasse ich nicht zu!« schrie Karminski und schnipste
mit den Kippschaltern am Pult. Ich riß mir den Helm so hastig
herunter, daß ich mit dem Kopf gegen die Wand stieß. Mir wurde
schwarz vor Augen.
»Na, ausgezeichnet.« Karminski freute sich plötzlich
über irgend etwas. Etwa darüber, daß ich mich gestoßen hatte? Das
tat doch weh. Was gab's da zu freuen?
Ich schleuderte den Helm auf den Fußboden, öffnete die
Tür der Testkammer und trat ins Licht.
»Jungs!« sagte ich, obwohl unter meinen Kollegen auch
viele Frauen waren. »Jungs, ich kann nicht mehr. Auf so was muß man
sich anders vorbereiten. Ihr müßt schon entschuldigen.«
Ich spürte, daß ihnen nicht wohl in ihrer Haut war.
Schließlich hatten sie meine Seele, mein verborgenstes Ich,
umgekrempelt.
Sie alle wußten nicht recht, wie sie sich verhalten
sollten. Nicht einmal Edik kam mir entgegen. Übrigens nahm ich sie
auch nur wie im Nebel währ.
»Gut, Alexander«, sagte Karminski. »Du bist für heute
frei. Wir aber müssen noch die Ergebnisse des Experiments
auswerten.«
4
Das Menü in der Institutskantine bestand aus kalter Kwaßsuppe,
einem Stück Schmorfleisch und einem Glas Kompott. An der
Essenausgabe war es stickig, und die Töpfe und Kessel strömten
Hitze und den Geruch einer raffinierten, scharfen Soße aus. Trotz
aller Anstrengungen der Küchenkräfte war es sehr voll, und die
Schlange schob sich nur langsam vorwärts.
Anton Semigailo, Edik Grosset, Sergej Iwanow und ich
verließen die Essenausgabe mit unseren Tabletts in den Händen erst
nach zwanzig Minuten. Anton hatte wie immer zwei Portionen vom
Hauptgericht genommen. Er hätte auch drei verputzt, aber er
genierte sich. Ich war schon immer der Meinung, daß man Menschen
wie ihm eine Gehaltszulage geben müßte. Wir bekommen dasselbe
Gehalt, er aber ißt mindestens doppelt soviel wie ich. Wo bleibt da
die Gerechtigkeit?
Wir kauten konzentriert.
»Ach«, sagte Anton. »Man müßte als Revisor die
Restaurants abklappern können wie in dem Film ›Gangster und
Philanthropen‹!«
Jedesmal brachte er beim Mittagessen das Gespräch
darauf, daß er nie satt wurde. Wir hörten schon gar nicht mehr hin,
und doch fand sich immer jemand, der sich eine giftige Bemerkung
nicht verkneifen konnte. Anton aber nahm so etwas nicht übel.
Überhaupt gehörte er nicht zu den Leuten, die es übelnehmen, wenn
man ihnen sagt, daß sie dumm und gefräßig sind. Er lächelte darin
nur breit: Ist doch toll – dumm und stumpfsinnig und doch etwas
erreicht! Er hat etwas erreicht! Das ist die Hauptsache. Wie er es
erreicht hat, ist schon nebensächlich. Es ist doppelt angenehm,
dumm und stumpfsinnig zu sein und doch etwas erreicht zu haben.
Was? Na, beispielsweise den Posten eines leitenden Ingenieurs wie
Anton Semigailo.
»Ha-ha-ha!« Das war gewöhnlich Antons Antwort. »Euer
Humor hilft mir, Magensaft abzusondern. Und das ist
angenehm!«
Wenn Magensaft abgesondert wird, ist das angenehm, und
man fühlt sich glücklich. Das ist ein Gesetz. Semigailo beherrschte
dieses Gesetz mit Perfektion.
»Hör zu, Anton«, sagte ich. »Flitz doch gleich mal in
die Testkammer. In dem Fall wird das Experiment garantiert ein
voller Erfolg.«
»Laßt gut sein«, erwiderte Anton. »Gutes Essen ist auch
ohne Experimente schon das halbe Glück.«
Selbst Anton lügt mitunter. Denn für ihn ist gutes Essen
das ganze Glück. Ich saß neben ihm und zog wie unbeabsichtigt an
seinem Ärmel. Ich glaube, sein Handindikator zeigte neunzig
Prozent. Ein außerordentlicher, pathologischer Fall! Noch zwei
Portionen Fleisch, und der Indikator platzt.
Schließlich war das Mittagessen beendet. Wir verließen
die Kantine, kauften uns am Kiosk Zeitungen und kehrten in unser
Laboratorium zurück.
Karminski notierte die Ergebnisse des Experiments. Als
er mich erblickte, fragte er: »Was war das zum Schluß für ein
Aufflackern? Wer oder was war es? Erklär mir das bitte.«
»Ach, ihr könnt mich alle mal…«, erwiderte ich und ließ
ihn sitzen.
Sie hockten da und werteten die Ergebnisse des
Experiments aus. Schweigend. Die in solchen Fällen übliche
Begeisterung fehlte. Für mich aber gab es nichts zu tun. Man
genierte sich vor mir.
Am liebsten wäre ich gegangen, aber das war leider nicht
möglich.
»Fährst du mit zum Fischen?« fragte mich Sergej. »Wir
haben noch einen Platz frei. Ich fahre gar nicht erst nach Hause.
Anton kommt auch mit. Bist du dabei?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Und du solltest auch
nicht fahren. Nina hat heute Geburtstag. Ihren
einunddreißigsten.«
»Ach, Unsinn. Ob der achtzehnte oder der
einunddreißigste…«
»Sie würde sich freuen, wenn du dran denkst.«
»Du kommst also nicht mit?«
»Nein. Überhaupt muß ich dir sagen, daß ich ihr zum
Geburtstag gratulieren möchte. Und ihr Blumen schenken.«
»Wenn du wüßtest, wie die Fische im See jetzt beißen«,
meinte Sergej seufzend.
Dabei legten Anton und er immer Netze aus. Warum sprach
er vom Beißen? Das war doch Blödsinn.
»Sergej, ich fahre zu ihr.«
»Unfug. Wo das Fischen jetzt solchen Spaß
macht.«
Ich war davon überzeugt, daß das Fischen ihn nach dem,
was ich ihm gesagt hatte, nicht mehr sonderlich interessierte. Er
wollte sich nur nicht untreu werden.
Der Arbeitstag ging zu Ende. Sergej, Anton und Karminski
fuhren zum See. Inga kam zu mir und starrte mich schweigend
an.
»Bestell Marina«, bat ich sie, »daß ich nicht nach Hause
komme. Ich kann nicht.«
»Das verstehe ich«, sagte sie…
Ich fuhr zum Blumengeschäft und kaufte für das ganze
Geld, das ich bei mir hatte, Gladiolen. Dann setzte ich mich in den
Bus und fuhr in einen Vorort von Ust-Mansk. Dorthin, wo Nina
wohnte.
Ich mußte sie einfach sehen.
Ich fuhr ziemlich früh aus der Stadt, der Bus war nicht
voll, und es gelang mir, die Blumen heil ans Ziel zu bringen. Sie
waren für mich heute kostbarer als alles auf der Welt.
Ihr Haus war das zweite hinter der Haltestelle. Ich
stieg in den dritten Stock hinauf, läutete, und sie öffnete
mir.
Im ersten Augenblick drückten ihre Augen Erstaunen aus.
Ein Erstaunen, daß ich mehr als alles andere an ihr liebte. Dann
fragte sie mechanisch: »Und wo ist Sergej?«
»Zum Fischen gefahren.«
Sie erlosch gleichsam. Ich reichte ihr den Strauß, den
ich bis dahin vergeblich hinter meinem Rücken zu verbergen gesucht
hatte.
»Für dich, Nina! Ich gratuliere zum
Geburtstag!«
»Danke«, sagte sie. »Komm 'rein.«
Ich ging ins Zimmer. Ihre Tochter, Nataschenka, spielte
auf dem Fußboden mit Puppen. Sie war vier Jahre alt.
Nina ging auf der Stelle, als wäre ich überhaupt nicht
vorhanden, in die Küche. Ich führte ein Gespräch mit Nataschenka,
das im wesentlichen aus Fragen bestand: »Was willst du hier? Wer
bist du? Ist Papa noch nicht da? Tanja ist der Kopf
abgefallen…«
Ich setzte mich direkt auf den Fußboden. Es spielt sich
nicht gut mit Kindern, wenn man auf einem Stuhl oder einer Couch
sitzt. Fünf, zehn Minuten vergingen. Nina kam nicht aus der Küche.
Nataschenka und ich spielten mit Puppen.
»Nina«, sagte ich leise. »Hörst du mich?«
Sie antwortete mir, obwohl ich davon überzeugt war, daß
sie den Mund nicht öffnete: »Natürlich höre ich dich. Aber komm
nicht in die Küche.«
Sie weinte. Lautlos. Stumm. Die schrecklichsten Tränen.
Ich blieb auf dem Fußboden sitzen.
»Nina«, sagte ich. Aber sie konnte mich nicht hören.
»Was soll ich tun? Ich liebe dich. Es ist nun mal so gekommen. Ich
liebe die Frau eines meiner Freunde. Nina. Kannst du das
verstehen?«
»Ja, das kann ich.« Sie antwortete mir nicht laut, aber
ich hörte sie.
»Was soll ich nur tun?«
»Ich weiß nicht…«
»Nur du kannst mir sagen, was ich tun soll.«
»Weißt du es denn nicht? Hängt dein Verhalten von meiner
Antwort ab?«
Ich rückte eine Puppe in der Schlange weiter, kaufte
Äpfel und bezahlte sie mit kleinen Papierschnipseln. Nataschenka
war hellauf begeistert.
»Sei ein Mann!«
»Heißt das ›Geh!‹?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nichts.«
Sie kam aus der Küche. In einer Wachstuchschürze, mit
vom Saft roter Rüben gefärbten Händen und völlig ruhig.
»Sei glücklich, Nina.«
»Danke, Sascha. Ich werd' mir Mühe geben…«
5
Stundenlang saß ich am Straßenrand unter einem Baum.
Allmählich wurde es dunkel. Aus einem Fenster im dritten Stock auf
der anderen Straßenseite tönte Musik, aber niemand tanzte. Wer
sollte auch? Waren dort doch nur Frauen versammelt. Ab und zu trat
eine von ihnen auf den Balkon, aber niemals war es Nina. Die
Hausfrau hatte keine Zeit dazu. In die Küche, ins Zimmer, etwas
aufwärmen, etwas kalt stellen, abwaschen, einen Augenblick bei den
Gästen sitzen, Nataschenka schlafen legen. Und ständig heiter
wirken. Auf die Frage »Wo bleibt denn Sergej?« mit einem Scherz
antworten.
An seinem Geburtstag lud Sergej alle Kollegen aus
unserem Laboratorium, die Lust hatten mitzugehen, in ein
georgisches Weingeschäft ein. Wir tranken jeder ein Gläschen,
beglückwünschten das Geburtstagskind, gingen ans Flußufer, rauchten
und plauderten. Dann kehrten wir wieder ins Geschäft zurück. Sergej
lud uns selten zu sich nach Hause ein. Vielleicht genierte er sich.
Denn Nina war kein Ingenieur und nicht einmal Techniker.
Nach ein paar solchen Rundgängen trennten wir uns,
tüchtig angeheitert, und machten uns auf den Heimweg. Sergej
schrieb für unsere Frauen spaßige Entschuldigungszettel, damit sie
nicht allzusehr über unsere verspätete Heimkehr
schimpften.
Am nächsten Tag fing alles mit der Frage an: »Na, seid
ihr gut nach Hause gekommen?« Es endete immer alles gut. Iwanow
erzählte, wie Nina ihn mit Milch kuriert und dabei fröhlich gelacht
habe.
Meine Marina war von solchen Feiern natürlich nicht
sonderlich angetan. Gewöhnlich hob sie verschlafen den Kopf vom
Kissen und sagte immer ein und dasselbe Wort: »Gelandet?« Dann
drehte sie sich zur Wand und schlief augenblicklich ein.
… In der Küche zogen sie die Vorhänge zu. Irgend jemand
legte zum drittenmal dieselbe Platte auf.
»Bist du immer noch hier?« fragte Nina. »Geh nach Hause.
Bald fahrt der letzte Bus. Marina ist bestimmt schon in Sorge. Du
hast auch kein Mitleid mit ihr.«
»Aha! Das ist gut! Erstens, warum ›auch‹? Hat Sergej
etwa kein Mitleid mit dir?«
»Meinetwegen ohne ›auch‹.«
»Gut. Aber warum ›kein Mitleid‹?«
»So nimm mich mit, so nimm mich mit in Städte fern von
hier…«,
sang die Platte.
Na schön! Dreißig Prozent Glück sind gar nicht so wenig.
Ich werde doch nicht zum Arzt gehen!
»So nimm mich mit, so nimm mich mit in Städte fern von
hier…«
»Geh«, sagte Nina. Sie sagte es mit einer solchen
Herausforderung, einem solchen Schmerz, einer so verzweifelten
Entschlossenheit, daß ich begriff: Jetzt, in diesem Augenblick,
hört sie auf, still zu sein, wirft sie die sorgfältig versteckte
Ergebenheit gegenüber einem eingebildeten Schicksal, die Angst vor
der Möglichkeit ab, ein kleines Stück des vorhandenen Glücks zu
verlieren, die Angst vor dem Unbekannten. Von nun an wird sie ihre
Probleme selbst lösen und nicht mehr warten, bis Sergej es ihr
erlaubt.
Ein stilles, ruhiges, rosafarbenes Glück. Eine nicht
allzu langweilige und nicht allzu interessante Arbeit. Bin Mann,
der pünktlich Geld nach Hause bringt. Essen kochen. Wäsche waschen.
Abends bis zur Betäubung fernsehen. Alles, wie es sich gehört,
alles in Maßen. Alles wie bei ordentlichen Leuten…
Und alles auf des Messers Schneide! Zwischen Glück und
Leid in einer zähflüssigen Leere, in der man sogar den Gedanken
entsetzt von sich weist, daß irgend etwas anders sein könnte,
weniger glatt und ruhig und ein für allemal eingerichtet.
Es heißt, man könne die Zukunft nicht vorhersagen. Bei
einigen Menschen aber kann man es. Für einen Tag, für ein Jahr,
fürs ganze Leben. Eine gerade Linie ohne Höhen und
Tiefen.
»Geh!« sagte Nina.
»Nein.«
»Dann nimm mich, nimm mich mit…«
»Nina. Liebst du mich?«
»Was geben dir diese Worte? Sind Worte so wichtig? Muß
man denn darüber sprechen? Man sollte es immer, jeden Augenblick,
auch ohne Worte spüren…«
Oft ist es so: Einem gefallen die Augen, die Art zu
tanzen, die Fähigkeit, in Gesellschaft heiter und scharfsinnig zu
sein. Und schon heißt es: »Ich liebe.« Sie aber braucht kein Wort.
Warum habe ich immer darauf gewartet, daß sie etwas sagt, mir fast
um den Hals fällt, vor Freude weint und lacht? Das rosafarbene
Glück sitzt noch immer in mir! Ich habe ihr so viele – gute und
böse – Worte gesagt. Aufgeblasen und mitunter sentimental leidend,
glaubte ich sie zu verstehen. Und wollte, daß sie es
begriff.
»Ich lauf schnell zu dir!« rief ich.
Sie hatte alles begriffen. Schon längst. Wie lange hatte
das gedauert?
»Nicht nötig. Ich komme selbst.«
Ich hob den Kopf. In den Fenstern ihrer Wohnung brannte
Licht. Die Musik spielte nicht mehr. Man hörte Stimmen. Ihre
Freundinnen verabschiedeten sich.
»Weißt du, was uns erwartet?« fragte ich.
»Ja: Trotz allem wird es auch Mittagessen und
schmutziges Geschirr, Fußböden und den Fernseher geben.«
»Und das ist alles?«
»Nein. Jeder Tag wird neu sein. Ich weiß, es wird auch
Tränen und Verstimmungen geben. Du bist so aufbrausend. Alles wird
es geben.«
»Und du hast keine Angst?«
»Nein.«
Das Licht in der Küche ging aus. Ich brauchte nicht ins
Fenster zu sehen, um zu wissen, was sie jetzt tat. Sie stand mitten
im Zimmer. Was läßt sie hier zurück? Erinnerungen, ihre Zweifel,
Angst, ein Stück ihres Herzens? Trotz allem ist es schwer.
Äußerlich war doch alle in Ordnung. »Was für eine Familie!« sagten
die Nachbarn. Sie stritten nie, nicht einmal großen Krach gab es.
Bloß das Glück fehlte…
Nina trat zu Nataschenka und strich über den Kopf des
schlafenden Mädchens. Vielleicht lag hier das
Hauptproblem?
»Nina, ich verspreche dir nur, daß wir es schwer haben
werden. Und die Nachbarn werden sagen: ›Wie leben die nur?‹ Sie
werden uns niemals verstehen. Was wäre das für ein Leben, wenn alle
außer uns es verstehen? Mag es umgekehrt sein.«
Sie trat plötzlich ans Fenster und schaute ins Dunkel.
Mich konnte sie nicht sehen. Sie wußte nicht, daß ich dort
stand.
»Und wenn es vergeht?« fragte sie. »Was wird dann aus
dir? Was wird aus uns?«
Nicht einmal jetzt fragte sie, was aus ihr würde. Was
aus uns wird? Ich weiß es nicht. Wenn wir einander nicht mehr
verstehen, ist das bedeutungslos.
Ich kann mich nicht einmal erinnern, wann ich sie zum
erstenmal gesehen habe. Das hat sich meinem Gedächtnis nicht
eingeprägt. Nur: »Oh! Sergej hat geheiratet! So ist's
richtig!«
Hundertmal sah ich sie danach. Und nichts änderte sich.
Die Welt blieb, wie sie war. Sie schwieg ständig. Auch gesungen hat
sie nie. Das war direkt seltsam. Bei Festlichkeiten fingen wir,
nach den Trinksprüchen an, zu tanzen und Faxen zu machen, und
grölten Lieder, so laut wir konnten. Für einen Außenstehenden war
das sicherlich kein schöner Anblick. Wem von uns aber wäre es in
den Sinn gekommen, sich mit den Augen eines Außenstehenden zu
sehen?
Dann fiel mir auf, daß sie ständig lächelte. Still,
unmerklich und traurig, als wüßte sie längst alles über uns. Sergej
aber genierte sich und mied sie. Er war ein fröhlicher, aber
eigensinniger Bursche. Ich weiß nicht, was mit den beiden passiert
war, mir fiel nur auf, daß ihr Verhältnis dem zwischen mir und
Marina sehr ähnelte.
Und mit einemmal begriff ich, daß sie immerzu auf ein
Wunder wartete, jeden Tag, jede Sekunde. Wunder gibt es schon, nur
nimmt niemand sie wahr. Sie wartete auf ein Wunder, Sergej aber
glaubte nicht an Wunder und zwang auch sie, nicht daran zu glauben,
Sie aber wollte an Wunder glauben. Da kam er auf die Idee, daß sie
dieses vorwärtsdrängende, rationale, keinerlei Zweifel zulassende
Leben, das uns umgibt, nicht versteht. Er bedauerte sie und
überließ ihr nur die Hausarbeit. Sie versteht nichts davon, und das
ist auch gar nicht nötig. Er wird alle Entscheidungen selbst
treffen. Beispiele dafür gibt es genug, so ist es schon in Ordnung.
Sergej hatte einen eisernen Charakter und ein schroffes Wesen. Er
schwankte und zweifelte niemals, entschied sich immer sofort, und
alles gelang ihm auf Anhieb. So mußte es auch diesmal
sein.
Aber es wurde ein Reinfall.
Man brauchte sie nur einmal anzusehen, wenn sie allein
war, um alles zu verstehen. Für Sergej kam nichts dabei heraus.
Nein, ein Blick genügte da nicht. Man konnte sie eine Million Mal
ansehen und es erst beim millionsten Mal begreifen. Das liegt nicht
an der Oberfläche. Das ist sehr tief in der Seele
verborgen.
… Ein kaum sichtbarer Streifen des Abendrots leuchtete
am Horizont. Die Häuser schlummerten ein. »Was wird aus
dir?«
»Ich weiß nicht, Nina. Das weiß ich nicht. Und aus
dir?«
»Ich komme gleich 'raus. Warte. Mir ist kalt.«
Sie glitt vom Balkon ins Zimmer.
Jetzt wird gleich etwas geschehen, dachte ich. Aber was?
Nina wird gleich hier sein. Und noch etwas. Was?
Etwas begann zu schlagen wie eine riesige Uhr. Näher.
Lauter. Irgendwo in mir. An der Hausecke tauchte eine stumme
weibliche Gestalt auf. Die Hammerschläge dröhnten immer näher,
immer lauter. Außer diesem bekannten, seltsamen, schrecklichen Laut
war nichts mehr zu hören.
Nina preßte die Hände ans Gesicht, senkte den Kopf und
kam fast im Laufschritt auf mich zu.
In diesem Augenblick explodierte etwas in meiner Hand.
Dicht an meinem Ohr ertönte ein widerliches Kichern. Ich spreizte
mechanisch den Arm ab. Der Hemdsärmel war zerfetzt und mit Blut
bespritzt. Ich begriff, was das war.
»Nina!« schrie ich und stürzte ihr entgegen. »Nimm dein
Armband ab! Nimm es ab!«
Sie hatte mich hier nicht erwartet und blieb verwundert
und glücklich stehen. Glücklich, davon war ich überzeugt.
Ich hatte keine Zeit, es ihr zu erklären, und versuchte
schweigend, ihr das Armband – den Glücksindikator –
abzureißen.
»Was machst du?« fragte sie leise.
»Du darfst dieses Armband nicht tragen.«
»Was für Wunder geschehen hier! Wo kommst du denn
her?«
Ich riß ihr schließlich das Armband ab, preßte es in
meiner Faust und holte aus, um es von mir zu schleudern. Ich
schaffte es jedoch nicht: Es explodierte ebenfalls. Splitter
streiften ihre Wange und ihre Schulter.
»Schon gut, laß gut sein«, sagte sie, als ich ihr die
Blutstropfen vom Gesicht wischen wollte. »Wieso bist du hier? Oder
ist es wahr, daß du den ganzen Abend mit mir gesprochen
hast?«
»Es ist wahr.«
»Gehen wir?«
Wir gingen wie Siebzehnjährige, einander die Arme um die
Schultern legend, die Chaussee entlang.
An der Kurve leuchtete der verschwommene Lichtfleck
eines Motorradscheinwerfers auf. Wir traten zur Seite, aber der
Motorradfahrer bremste plötzlich scharf und streifte uns fast mit
dem Beiwagen. Es war Sergej.
»Wollt ihr weit weg?« fragte er.
»Sergej«, sagte Nina, »ich komme nicht zurück. Verstehst
du, ich komme nicht zurück… Dort zu Hause ist eine
Nachbarin…«
»Sergej«, erklärte ich. »Es ist passiert, und du kannst
nichts daran ändern.«
»Ist noch was zu trinken übrig?« fragte
Sergej.
»Ja.«
»Dann heben wir einen auf dieses Ereignis.«
»Nein, Sergej.«
»Dann eben nicht! Geht zum Teufel… Nataschenka überläßt
du mir wohl nicht?«
»Nein.«
Er gab Gas und brauste los.
»Tut's weh?« fragte Nina und berührte meinen zerrissenen
Ärmel.
»Nein. Alles in Ordnung. Und dir?« Ich strich über ihre
Wange.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf.
… Und ihr wolltet einen glücklichen Menschen sehen. Wo
liegt der Fehler des Experiments, Genosse Karminski?
6
Das erste, was mich verblüffte, als ich die Augen öffnete, war
das helle Sonnenlicht. Ich saß auf einer Kiste mit Glückstüten.
Inga hielt meine Schultern umfaßt. Anton verband mir die
Hand.
»Diese Indikatoren sind doch der reinste Mist«, sagte
er. »Ich schmeiße meinen gleich heute weg.«
»Mit den Indikatoren werden wir uns noch befassen
müssen.« Karminski preßte tiefsinnig die Lippen zusammen.
»Tut's weh?« fragte Inga.
»Mach dir nichts draus, alter Junge.« Edik versuchte mir
zuzulächeln. »Wir haben das nicht absichtlich getan. Wie es dazu
gekommen ist, weiß bis jetzt noch keiner.«
»Verstehst du«, sagte Inga, »es war alles wie in
Wirklichkeit. Nur zeitlich gerafft und ohne räumliche
Versetzung.«
»Wo ist Sergej?« fragte ich.
»Er wollte zu Hause anrufen. Da ist er
wieder.«
Sergej kam herein. Alle starrten ihn schweigend
an.
»Stimmt alles«, meinte Sergej grinsend. »Ihr
Glücksindikator ist auch explodiert… Nichts Ernstliches. Die
Splitter haben nur ihre Wange und die Schulter gestreift, wie du
schon vermutet hast… Wer fährt also mit zum Fischen?«
Ich stand auf und trat zu ihm.
»Sergej, ich habe dich nicht belogen.«
»Ach… geh zum Teufel!« sagte er ohne jeden Groll, wie
ein sehr müder Mensch. »Aber sie hat wirklich Charakter.«
»Wir hatten heute keine Mittagspause«, erklärte Anton.
»Berücksichtigen Sie das, Genosse Karminski.«
»Euer Tag ist nicht normiert«, meldete sich der Leiter
zu Wort. »Das Experiment ist Gott sei Dank erfolgreich verlaufen.
Und gleich beim erstenmal.«
»Worin besteht denn der Erfolg?« interessierte sich
Alla. »Was haben wir herausgefunden? Daß der Mensch glücklich sein
kann? Aber wie?«
Alle waren schrecklich niedergeschlagen und etwas böse
aufeinander. Wenn ich gegangen wäre, hätten sie sich leichter,
freier gefühlt.
»Wieviel Kisten mit Glück habt ihr verbraucht?« fragte
ich, nur um etwas zu sagen.
»Anfangs hundertachtzig Tüten von jeder Farbe«, begann
Vitali Petrowitsch. Nein; er war nur Wissenschaftler. Nur Kandidat
der technischen Wissenschaften. »Und dann kamen wir nicht mehr von
der Stelle. Kurz danach aber hat es ohne alle Tüten plötzlich
geklappt. Weißt du noch, wie du dir den, Helm heruntergerissen
hast?«
»Bei euch hat es geklappt?«
»Natürlich, bei wem denn sonst! Das Experiment hat
geklappt. Am Montag fangen wir mit der Auswertung der Ergebnisse
an. Heute sollten wir überhaupt…«
»Macht nur.«
Ich rief Marina an und sagte ihr, daß ich nicht nach
Hause käme.
»Ich weiß«, erwiderte sie. Sie weinte. »Ich kann es
nicht glauben. Alles war so schön. Sascha, was ist
passiert?«
»Verzeih mir, Marina!«
Ich konnte nicht mit ihr sprechen. Jetzt konnte ich mit
niemandem sprechen. Ich verließ das Institut, ging zu Fuß zum
Blumengeschäft und kaufte für das ganze Geld, das ich bei mir
hatte, einen riesigen Blumenstrauß.
Und plötzlich wurde mir klar, daß ich jetzt nicht zu
Nina fahren konnte. Was sollte ich ihr sagen? Das, was ich heute
schon einmal gesagt hätte? Alles war noch genauso kompliziert wie
gestern und vor einem Jahr.