Ilja Warschawski
Jane
An jenem Morgen erwachte Modest Fomitsch mit einem Gefühl der
Unruhe. Er lag mit geschlossenen Augen da und versuchte zu
begreifen, warum der Wecker nicht geklingelt hatte und er, Modest
Fomitsch Nikulin, nicht auf Arbeit war, sondern im Bett faulenzte,
obwohl doch die Strahlen der Morgensonne längst sein Kopfkissen
erreicht hatten. Es mußte also schon spät sein, mindestens zehn
Uhr.
Modest Fomitsch richtete sich im Bett auf und öffnete
die Augen.
»Grüß dich, Fomitsch!« rief der Papagei im Käfig, der
seit langem auf das Erwachen seines Herrn gewartet hatte.
Nikulin trat mit bloßen Füßen auf den Bettvorleger und
lächelte. Nun hat es also begonnen, das neue Leben, dachte
er.
Die letzten fünf Tage waren bis zum Rand mit dem Trubel
angefüllt gewesen, den der Eintritt ins Rentenalter mit sich
brachte. Auf dem Abschiedsabend allerdings, den die Kollegen
gestern ihm zu Ehren veranstaltet hätten, mußte er wohl ein wenig
zu tief ins Glas geschaut haben.
Heute war der erste Tag des Rentners Nikulin, der sich
nun endlich vollends seiner alten Leidenschaft zu widmen
gedachte.
Modest Fomitsch zog die Hosen an, fuhr in die Hausschuhe
und trat an das Aquarium mit den Goldfischen. Er nahm eine Handvoll
Futter und klopfte mit dem Finger ans Glas. Die fünf Goldfische
formierten sich in einer Reihe hintereinander, führ Bomberstaffel
erinnerte, und verharrten in Erwartung des Futters in einem
Halbkreis. Nikulin allein wußte, welch gigantische Mühe es gekostet
hatte, den Fischen diesen simplen Trick beizubringen.
Seine Lieblingskatze Jane, die mit halbgeschlossenen
Augen auf dem Sofa lag, beobachtete ihren Herrn aufmerksam. Nur ein
leichtes Zucken der Schwanzspitze ließ erkennen, daß sie auf etwas
wartete.
»Guten Morgen, Jane!«
Die Katze streckte sich träge, sprang weich vom Sofa,
kam zu Nikulin und gab ihm widerwillig die Pfote.
Nikulin trank rasch einen Schluck Tee, brachte einen
neuen Ballon für die Luftzufuhr im Aquarium an und wandte sich Jane
zu, die wieder auf dem Sofa lag. »Schluß mit dem faulen Leben,
Jane«, sagte er, »jetzt geht die Arbeit richtig los!« Er winkte
Jane mit dem Finger, sie sprang ihm auf die Schulter, und sie
verließen das Haus.
Die Tierdressur war Modest Fomitschs einzige Schwäche
und gab des öfteren Anlaß zu Scherzen seiner Kollegen. Hinter dem
Rücken nannte man ihn sogar »den Dompteur«. Jedes Quentchen
Freizeit widmete er dem Studium von Büchern über Zoopsychologie und
den Experimenten mit Haustieren.
Heute wollte er sein seit langem geplantes Vorhaben in
Angriff nehmen, Jane das Tanzen beizubringen.
Modest Fomitsch ging bis zu einem kleinen Platz am Ende
der Allee, der »Klub der Rentner« hieß, und setzte sich auf seine
Lieblingsbank. Um diese Zeit waren noch nicht viele Leute im
»Klub«, und Nikulin machte sich an die Arbeit mit Jane, ohne zu
befürchten, daß neugierige Zuschauer die Katze ablenken könnten.
Bald jedoch erschien auf dem Platz ein kleiner dicker Mann, der
interessiert verfolgte, wie Jane auf den Hinterpfoten ging. Er
lungerte den ganzen Vormittag in ihrer Nähe herum und entfernte
sich erst, als Nikulin mit Jane zu Mittag essen ging.
So geschah es mehrere Tage lang. Jedesmal fand Nikulin
morgens auf dem Platz den Dicken vor, der offensichtlich auf den
Beginn der Übungen mit Jane wartete.
Eines Morgens schließlich setzte sich der Dicke zu
Modest Fomitsch auf die Bank und sagte kurz und bündig: »Machen wir
uns bekannt. Doktor Garber, Rentner.«
Nikulin druckte die dargebotene fleischige, behaarte
Hand und nannte seinen Namen.
»Ich muß gestehen«, sagte Garber, »daß mich Ihre
Versuche mit der Katze sehr interessieren.«
»Sie haben Tiere gern?« erkundigte sich Nikulin und warf
dem Doktor unter den Augenbrauen hervor einen Blick zu.
»Eigentlich nicht. Nicht weil ich Tiere gern habe,
interessieren mich Ihre Versuche, sondern weil mich die Zukunft der
Menschheit beunruhigt.«
Nikulin blickte ihn verständnislos an. »Verzeihen Sie,
aber was hat die Katze mit der Zukunft der Menschheit zu
tun?«
»Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Wie alt sind
Sie?«
»Sechzig, aber was tut das zur Sache?«
»Und wie lange hat Ihre Ausbildung gedauert?«
»Ungefähr sechzehn Jahre.«
»Nicht gerechnet die Zeit, in der man Sie laufen gelehrt
hat und zu sprechen, Brei mit; dem Löffel zu essen, sich unter
Menschen zu benehmen. Wenn Sie das alles zusammenzählen, dann zeigt
sich, daß Sie über ein Drittel Ihres Lebens gebraucht haben, um
Dinge zu erlernen, die die Menschen vor Ihnen längst kannten. Ihre
Katze hier jedoch könnte blendend ohne jede Belehrung auskommen.
Was sie im Leben braucht – die Fähigkeit, Futter zu finden, sich in
der Umwelt zu orientieren, eine nahende Gefahr zu spüren, ihre
Jungen aufzuziehen –, all das vermag sie von selbst. Sie gebraucht
einfach, was ihr ihre Vorfahren vererbt haben.«
»Aber das ist doch ein blinder Instinkt, und dem
Menschen wird das beigebracht, was die bewußte Tätigkeit betrifft.
Die Erziehung des Menschen erfordert immer, die tierischen
Instinkte zu unterdrücken, die in unserer Natur liegen.«
»Das ist ja das Unglück! Die Natur hat durch genaueste
Analyse die nützlichen Erfahrungen ausgewählt, die von den
Einzelwesen der Art angehäuft wurden, und das Wertvollste davon der
gesamten biologischen Spezies zu eigen gemacht. Wenn Ihre Katze
krank ist, findet sie unfehlbar das richtige Heilkraut, der Mensch
jedoch braucht Jahrzehnte, um die Heilkunst zu erlernen.«
»Aber die Katze kann sich selbst höchstens von ein, zwei
Krankheiten kurieren, der Mensch hingegen hat die Medizin als
wissenschaftliche Disziplin geschaffen und nicht nur für die
Heilung, sondern auch für die Prophylaxe allgemeine Gesetze
festgestellt.«
»Gemach, das ist noch nicht alles. Wenn ein Wolfsjunges
seine Mutter verliert, kommt es nicht um, sondern lernt sehr rasch,
all das zu tun, was seine Vorfahren getan haben; wenn jedoch ein
kleines Kind von der Gesellschaft isoliert wird und durch ein
Wunder nicht zugrunde geht, so erwirbt es doch niemals die Sprache,
durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Biber, Bienen und
Ameisen errichten, nur vom Instinkt geleitet, erstaunlich
zweckmäßige Bauten. Und nun lassen Sie mal einen Menschen, der nie
gesehen hat, wie man das macht, ein Haus bauen. Sie können sich
leicht vorstellen, was dabei herauskommt!«
»Aber der Mensch ist zur schöpferischen Tätigkeit fähig,
wozu weder Ameisen noch Bienen imstande sind«, entgegnete
Nikulin.
»Sehr richtig! Um so betrüblicher ist es, daß die
bemerkenswerten Errungenschaften der menschlichen Vernunft, die sie
im Kampf mit der Natur erworben hat, nicht vererbt werden.
Schließlich gehen bei den Tieren bedingte Reflexe in unbedingte
über, wenn sie der Arterhaltung förderlich sind. Warum sollte die
Menschheit diese Eigenschaft nicht benutzen, um ihr angehäuftes
Wissen weiterzuvererben?«
»Man kann doch nicht die Fähigkeit vererben,
Differentialgleichungen zu lösen«, sagte Nikulin gereizt. »Das ist
ja pure Phantasie!«
»Aber warum denn nicht? Dazu braucht die im
individuellen Gedächtnis in der Großhirnrinde gespeicherte
Fähigkeit nur in das Erbgedächtnis übertragen zu werden, das in den
tieferen Hirnabschnitten lokalisiert ist. Das Gehirn verfügt über
ein äußerst genaues Analysezentrum zur Bewertung der erworbenen
bedingten Reflexe, das als Ventil die Auswahl der bedingten Reflexe
für ihre Umwandlung in erbliche Instinkte regelt. Für dieses
Zentrum gibt es nur ein Kriterium: die biologische Zweckmäßigkeit.
Wir können es jedoch veranlassen, weniger wählerisch zu sein, und
so mit einem Trick jeden beliebigen bedingten Reflex unter die
Instinkte schmuggeln. Dazu braucht man nur die funktionellen
Möglichkeiten dieses Zentrums zeitweilig zu
unterdrücken.«
»Sie meinen also, wenn ich Jane beibringen würde, auf
den Vorderbeinen zu laufen, dann könnte sie diese Fähigkeit ihren
Nachkommen vererben?« fragte Nikulin lächelnd.
»Genau. Eben darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Es
ist mir gelungen, eine Kombination von Alkaloiden
zusammenzustellen, die auf das Hirnzentrum einwirken, in dem
bedingte Reflexe für die Umwandlung in Instinkte ausgewählt werden.
Durch Injektionen kann man dieses Zentrum völlig lahmlegen. Ich
habe Versuche an Meerschweinchen durchgeführt, aber ich verstehe
nicht viel von Dressur und konnte nur die Weitergabe einfachster
Reflexe auf ein Klingelzeichen bei der Fütterung überprüfen. Die
folgenden Generationen behielten diesen Reflex, wobei unter den
Nachkommen eine Aufspaltung nach dem üblichen Schema
auftrat.«
Es dauerte über eine Woche, ehe es Garber gelang, Nikulin zu
einem Versuch an Jane, die Nachwuchs erwartete, zu überreden. Einen
Moment lang brachte Modest Fomitsch bei Garber zu Hause Jane bei,
auf den Vorderbeinen zu stehen. Vor jeder Übungsstunde spritzte
Garber der Katze eine rötliche Flüssigkeit ins
Rückenmark.
Als Nikulin eines Morgens zu Garber kam, traf er ihn an,
wie er in der Ecke kniete und Kätzchen mit der Flasche
fütterte.
»Ihre Jane«, sagte Garber, »benimmt sich sehr sonderbar.
Sie schenkt ihren Jungen nicht die mindeste Beachtung und scheint
sie nicht säugen zu wollen. Es sieht so aus, als fehlte ihr
jeglicher Mutterinstinkt. Drei hat sie während der Geburt erstickt,
die übrigen drei mußte ich von ihr isolieren. Sie saugen sehr
schlecht die Milch aus der Flasche. Ich weiß einfach nicht, was ich
mit ihnen anfangen soll.«
»Und wo ist Jane?« erkundigte sich Nikulin. »Die liegt
in der Küche und tut, als ginge sie das alles nichts an.«
Nikulin trat in die Küche. »Jane!« rief er, doch die
Katze wandte nicht einmal den Kopf.
Die Kätzchen wuchsen normal, und Garber wartete ungeduldig,
daß sie zu gehen anfangen würden.
Nach einigen Tagen teilte Garber Nikulin mit, daß Jane
aus dem Haus gelaufen war. Alle Versuche, sie zu finden, blieben
vergeblich.
Eines späten Abends kam Garber aufgeregt zu Modest
Fomitsch. »Sie stehen!« rief er atemlos. »Alle drei auf den
Vorderpfoten! Kommen Sie schnell!«
Der Anblick übertraf alle Erwartungen. Die drei Kätzchen
standen sicher auf den Vorderpfoten. Garber nahm eins davon auf die
Hand, doch es riß sich los und stellte sich wieder mit dem Kopf
nach unten hin.
»Was hab' ich Ihnen gesagt?« Garber kicherte. »Sehen
Sie's jetzt, Sie ungläubiger Thomas? Begreifen Sie, was das
bedeutet? Die Idee mit den Säuglingen, die von Geburt an
Differentialgleichungen und grammatische Regeln beherrschen, ist
also gar nicht so absurd. Heute, mein Lieber, beginnt eine neue Ära
in der Geschichte der Menschheit!«
Am nächsten Morgen lief Modest Fomitsch noch vor dem
Frühstück zu Garber.
»Ich verstehe nicht«, sagte der, »was mit ihnen los ist.
Sie haben die ganze Nacht nicht geschlafen. Stehen da wie
versteinert, mit dem Kopf nach unten. Ich habe versucht, sie mit
Gewalt ins Körbchen zu legen, aber davon bekommen sie
Schüttelkrämpfe. Sie fressen nicht und trinken nicht.«
Die Kätzchen krepierten nach drei Tagen. Garber
erzählte, daß sie die ganze Zeit auf den Vorderpfoten gestanden
hätten.
Modest Fomitsch hat seitdem das Interesse an
Tierdressuren verloren. Das Aquarium mit den Fischen und den
Papagei hat er den Nachbarskindern geschenkt.
Nachts verfolgt ihn oft derselbe Traum: Wickelkinder,
die fieberhaft bis zur Erschöpfung Differentialgleichungen
lösen.
Er geht täglich in den »Klub der Rentner«, wo er bis zum
Abend Domino spielt. Gegen Mittag erscheint für gewöhnlich Garber,
dessen Ziel die Tischchen der Schachspieler sind. Wenn die beiden
einander; erblicken, verbeugen sie sich kühl.