Ilja Warschawski
Die Flucht
»Hau-ruck! Hau-ruck!«
Eine primitive Vorrichtung: ein Brett, zwei Stricke –
und schon liegt der schwere Gesteinsbrocken im Karren.
»Vorwärts!«
Die Last ist nicht größer als sonst, doch das Menschlein
in gestreifter Kluft, das seine Brust gegen den Querbalken des
Gefährts stemmt, bringt sie nicht von der Stelle.
»Vorwärts!«
Einer der Gefangenen versucht mit der Schulter
nachzuhelfen. Zu spät. Der Aufseher kommt heran.
»Was ist?«
»Nichts.«
»Dann mach schon, vorwärts!«
Das Menschlein ruckt wieder an. Vergebens. Die
Anstrengung übersteigt seine Kräfte und es muß husten, hält dabei
die Hand vor den Mund.
Der Aufseher wartet, bis der Anfall vorüber
ist.
»Zeig deine Hand.«
Die Faust öffnet sich. Blut.
»So… Dreh dich um.«
Auf dem Rücken des Häftlingskittels steht eine Nummer.
Der Aufseher schreibt sie in sein Buch.
»Zum Arzt!«
Ein anderer Gefangener tritt an die Stelle des
Kranken.
»Vorwärts!«
Das gilt beiden, dem, der von jetzt an die Lasten
schiebt, und dem, der es nicht mehr kann.
Der Karren setzt sich in Bewegung.
»Entschuldigen Sie, Herr, dürfte ich nicht…«
»Ich sagte, zum Arzt!«
Der Aufseher schaut dem gekrümmten Rücken nach und
überprüft noch einmal seine Notiz, ? ? 15/13264. Alles klar. Ein
Dreieck, also Fahnenflucht, das Quadrat für lebenslängliche Haft,
Baracke fünfzehn, Gefangener Nummer
dreizehntausendzweihundertvierundsechzig. Lebenslänglich. Ganz
richtig. Nur geht für den die Zeit hier schon zu Ende. Die
Baumwollfelder.
»Hau-ruck.«
Poliertes, blitzendes Metall, Glas, diffuses Licht aus
Leuchtstoffröhren, eine irgendwie besondere, greifbare, sterile
Sauberkeit.
Die grauen, etwas müden Augen des Mannes im weißen
Kittel blicken aufmerksam durch dicke Brillengläser. Hier, in den
unterirdischen Lagern der Medena, schätzt man menschliches Leben
sehr. Wie auch nicht! Jeder Gefangene hat schließlich, bevor seine
Seele vor das oberste Gericht tritt, seine Schuld denen gegenüber
zu sühnen, die in den Tiefen des Kosmos eine in der Geschichte
beispiellose Schlacht für die führende Rolle ihres Heimatplaneten
schlagen. Die Heimat braucht Uran, und jeder Häftling muß ein
bestimmtes Soll bringen; deshalb ist sein Leben genausoviel wert
wie das kostbare Erz. Leider ist das hier so ein Fall…
»Zieh dich an!«
Die langen, mageren Arme zerren hastig den Kittel über
den ausgezehrten Körper.
»Stell dich her!«
Ein leichter Hebeldruck, und die vordem unantastbare
Häftlingsnummer ist von einem roten Kreuz überdeckt. Von jetzt an
darf sich der Gefangene ? ? 15/13264 wieder Arp Sumbi nennen. Eine
selbstverständliche humanitäre Geste denen gegenüber, die auf die
Baumwollfelder müssen.
Die Felder. Über sie weiß niemand Genaues. Bekannt ist
nur, daß man von dort nicht zurückkommt. Gerüchte gehen um, in dem
glühendheißen, trockenen Klima werde der menschliche Körper binnen
zwanzig Tagen wie dürres Reisig – ein ausgezeichneter Brennstoff
für die Öfen des Krematoriums.
»Da ist deine Arbeitsbefreiung. Geh!«
Arp Sumbi zeigt die Freistellung dem Posten an der Tür,
zur Baracke. Wenig später umgibt ihn der vertraute Karbolgeruch.
Die Baracke erinnert an einen Gemeinschaftsabort: überall dieser
stechende Karbolgeruch und Kacheln. Die Eintönigkeit der weißen
Wände ist nur von einem großformatigen Anschlag unterbrochen: »Auf
Flucht steht Tod unter der Folter«. Noch ein Beweis dafür, daß man
menschliches Leben hier schätzt, selbst zerstören will man es mit
größtmöglicher Wirkung.
Eine der Wände ähnelt einer riesigen Bienenwabe: die
Schlafstätte, unterteilt in einzelne Zellen. Bequem und hygienisch,
denn auf dem weißen Platz sieht man den kleinsten Fleck. Komfort
bieten die Zellen natürlich nicht. Dies ist ein Zuchthaus und kein
Sanatorium, wie die Stimme gern sagt, die die tägliche
Psychomassage verabreicht. Die Unterteilung in Zellen läßt auch
nachts, wenn die Aufmerksamkeit der Wache geringer ist, keine
Möglichkeit für persönliche Kontakte.
Tagsüber dürfen die Schlafplätze nicht benutzt werden,
und Arp Sumbi verbringt die Zeit auf einer Bank. Er denkt an die
Baumwollfelder. Gewöhnlich wird alle zwei Wochen ein Transport
dorthin zusammengestellt, der Häftlinge aus sämtlichen Lagern
mitnimmt. Zwei Tage danach bringt man die Treuen hierher. Das
letzte Mal war es vor etwa fünf Tagen, als neben Arps Zelle dieser
merkwürdige Typ auftauchte. Irgend so ein Schwachkopf Gestern beim
Mittagessen gab er Arp die Hälfte seines Brotes. »Da«, sagte er,
»sonst verlierst du noch deine Hosen.« So ein Unikum! Daß einer
sein Brot verschenkt, hat Arp bisher von keinem gehört. Der Kerl
muß verrückt sein. Abends vorm Schlafen singt er immer. Da hat er
den richtigen Platz gefunden!
Arps Gedanken wandern zurück zu den Feldern. Ihm ist
klar, daß sie das Ende bedeuten, doch Irgendwie bedrückt ihn das
kaum. In zehn Jahren Bergwerk gewöhnt man sich an den Tod. Dennoch
interessiert es Arp, wie es sein mag, dort, in der
Baumwolle.
In seiner ganzen Haftzeit ist das der erste Tag ohne
Arbeit. Sicher dehnt er sich deshalb so lang. Arp würde sich gern
hinlegen und schlafen, doch das geht nicht, selbst mit Attest. Dies
ist ein Zuchthaus und kein Sanatorium.
Seine Mitgefangenen kommen aus dem Stollen, und in den
Karbolgeruch mischt sich das süßliche Aroma der
Desaktivierungsflüssigkeit. Jeder, der mit Uranerz umgeht, duscht
vorbeugend. Eine der Maßnahmen, die die Lebenserwartung der
Inhaftierten erhöhen.
Arp findet seinen Platz in der Kolonne und geht mit den
anderen zum Essen.
Beim Frühstück und Mittag drücken die Posten ein Auge
zu, was das Redeverbot betrifft. Mit vollem Mund spricht man
sowieso nicht viel.
Arp löffelt schweigend seine Portion und wartet auf das
Kommando zum Aufstehn.
»Nimm!«
Wieder reicht ihm dieser Irre seine halbe
Brotration.
»Ich will nicht.«
Das Kommando zum Antreten. Erst jetzt merkt Arp, daß
alle ihn anstarren. Bestimmt wegen des roten Kreuzes auf seinem
Rücken. Ein Todeskandidat weckt immer Neugier.
»Na los, Beeilung!«
Damit ist Arps Nachbar gemeint. Seine Reihe steht schon,
er aber sitzt immer noch am Tisch. Arp rafft sich gleichzeitig mit
ihm auf, und als er an seinen Platz geht, dringt kaum vernehmbar an
sein Ohr: »Es gibt eine Möglichkeit zur Flucht.«
Arp tut, als hätte er nichts gehört. Im Lager wimmelt es
von Spitzeln, und ihm ist ganz und gar nicht nach Folter. Dann
schon lieber die Baumwollfelder.
Bisweilen schwillt die Stimme zum Schrei, von dem die Schläfen
schmerzen, dann wieder ebbt sie ab zu leisestem Flüstern, das einen
zwingt, das Gehör anzuspannen. Sie dringt aus dem Lautsprecher am
Kopfende der Pritsche. Die abendliche Psychomassage.
Der bis zum Überdruß bekannte Bariton legt den
Gefangenen dar, wie tief sie gesunken sind. Vor dieser Stimme kann
man weder davonlaufen noch sich verstecken. Sie läßt sich nicht aus
dem Bewußtsein drängen wie das Geschrei der Aufseher. Auch wenn es
scheinbar gelungen ist, an etwas anderes als das Lagerleben zu
denken, zwingt plötzlich die veränderte Lautstärke erneut zur
Aufmerksamkeit. Und das dreimal täglich: abends vor dem
Einschlafen, nachts im Schlaf und früh, fünf Minuten vor dem
Wecken. Dreimal, denn dies ist ein Zuchthaus und kein
Sanatorium.
Arp liegt mit geschlossenen Augen und will noch einmal
über die Baumwollfelder nachdenken. Die Massage ist zu Ende, doch
nun stört ihn rhythmisches Klopfen an die Trennwand zur
Nachbarzelle. Wieder dieser Psychopath.
»Was willst du?« raunt Arp in seine zum Rohr geformten
Hände, die er gegen die Wand drückt.
»Geh aufs Klo.«
Arp versteht selbst nicht, was ihn dazu bringt,
hinunterzusteigen zu der Pforte, hinter der er die Spülung rauschen
hört.
In der Toilette ist es heiß, so heiß, daß man es nicht
länger als zwei Minuten aushält. Arp ist schweißgebadet, noch ehe
der Neue auftaucht.
»Möchtest du fliehen?«
»Hau ab!«
Arp Sumbi ist ein alter Hase, er kennt die Tricks der
Schnüffler.
»Hab keine Angst«, flüstert der andere schnell, »ich bin
vom Befreiungskomitee. Morgen versuchen wir, eine erste Gruppe von
Gefangenen hinauszuschmuggeln und an einen sicheren Ort zu bringen.
Du kannst dabei nichts verlieren, ihr bekommt Gift. Mißlingt die
Flucht…«
»Was dann?«
»… schluckst du das Gift. Das ist immerhin besser als
der Tod auf den Feldern. Einverstanden?«
Zu seiner eigenen Überraschung nickt Arp.
»Instruktionen kriegst du früh, im Brot. Sei
vorsichtig.«
Arp nickt wieder und geht hinaus.
Das erste Mal seit zehn Jahren ist er so in Träume
vertieft, daß die zweite und dritte Massage ihn nicht
erreichen.
Arp Sumbi steht als letzter in der Frühstücksschlange. Er muß an ihrem Ende stehen. Diejenigen, die von der Arbeit befreit sind, erhalten ihr Essen zuletzt. Der langaufgeschossene Kriminelle, der die Suppe ausgibt, mustert Arp und wirft ihm grinsend ein Stück Brot hin, das etwas abseits gelegen hat.
Nachdem Arp seine Suppe gegessen hat, zerkaut er
vorsichtig das Brot. Da ist sie. Er schiebt die Papierkugel in
seine hohle Wange.
Nun muß er warten, bis die Männer zur Arbeit
gehen.
Das Kommando zum Aufstehen. Arp verläßt den Speiseraum
am Schluß der Kolonne. Beim Quergang wendet er sich nach links. Die
anderen marschieren geradeaus.
Hier, hinter der Biegung, ist Arp verhältnismäßig
sicher. Der Tagesdienst macht die Baracken sauber, für die Ablösung
der Wache ist es noch zu früh.
Die Instruktion ist sehr kurz. Arp liest sie dreimal,
und als er überzeugt ist, sich alles gemerkt zu haben, knüllt er
das Papier wieder zusammen und verschluckt es.
Jetzt, da er handeln soll, packt ihn Angst. Er wird
unschlüssig. Der Tod auf den Feldern scheint ihm willkommen im
Vergleich zur drohenden Folter.
Das Gift!
Die Erinnerung an das Gift beruhigt ihn sofort.
Tatsächlich, was hat er letztlich zu verlieren?
Doch die Angst, eine eindringliche, ekelhafte, zähe
Angst, greift ihn erneut, als er dem Posten an der Zonengrenze
seine Arbeitsbefreiung vorweist.
»Wohin?«
»Zum Arzt.«
»Geh!«
Arps Knie werden weich. Mühsam schleppt er sich den Gang
entlang, spürt im Rücken die Gefahr. Gleich wird man ihn anrufen,
ihm eine MPi-Garbe nachschicken. In solchen Fällen zielt man auf
die Beine, denn auf Flucht steht Tod unter der Folter. So eine
Lehrvorführung darf man den Gefangenen nicht ersparen, dies ist ein
Zuchthaus und kein Sanatorium.
Die Kurve!
Arp biegt um die Ecke und preßt sich an die Wand. Sein
Herz schlägt bis zum Hals, er hat das Gefühl, im nächsten Moment
diesen bebenden Klumpen zusammen mit dem Bitteren auszuspeien, das
aus seinem Magen hochsteigt. Kalter Schweiß bricht ihm aus. Die
Zähne klappern aufeinander, es klingt wie Trommelwirbel. Unter
solchen Trommelschlägen führt man die gefaßten Flüchtlinge zur
Hinrichtung.
Es dauert fast eine Ewigkeit, bis er sich entschließt
weiterzugehen.
Hier irgendwo in einer Nische müssen die Müllcontainer
sein. In Gedanken wiederholt Arp noch einmal die Instruktion.
Wieder kommen ihm Zweifel. Wenn nun alles fingiert ist und sie ihn
fertigmachen, sobald er im Container sitzt? Er war ein Idiot, er
hätte sich nicht auf die Sache einlassen sollen, solange er das
Gift nicht hat. Ein Strohkopf! Am liebsten würde er seinen Schädel
gegen die Wand schlagen. Daß er dem erstbesten Provokateur an die
Angel gehen mußte!
Da sind die Container. Neben dem linken hat jemand
Malerböcke stehenlassen. Alles wie auf dem Kassiber. Arp ist
unentschlossen. Am richtigsten wäre es wohl, umzukehren.
Plötzlich hört er laute Stimmen und Hundegebell. Die
Streife! Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Mit unerwarteter
Leichtigkeit schwingt sich Arp auf die Böcke und von dort in den
Container.
Die Stimmen kommen näher. Arp hört das Hecheln des
Hundes, der an der Leine zerrt, und den Tritt beschlagener
Stiefel.
»Kusch, Gar!«
»Im Container ist jemand.«
»Ratten, hier gibt's 'ne Menge davon.«
»Nein. Bei Ratten bellt er anders.«
»Unsinn! Gehen wir. Und beruhige ihn.«
»Still, Gar!«
Die Schritte entfernen sich.
Jetzt kann Arp sich in seinem Schlupfwinkel umsehen. Der
Container ist nur viertelvoll. Kein Gedanke, daß man hinausklettern
könnte. Bis zum oberen Rand ist es doppelt mannshoch. Arp fühlt die
Wand ab und entdeckt dabei die beiden kleinen Löcher, die auf dem
Kassiber erwähnt waren. Sie liegen in der eingestanzten Aufschrift
»Arbeitslager«, die um den Container läuft. Durch diese Löcher muß
Arp atmen, wenn der Deckel geschlossen ist.
Wenn der Deckel geschlossen ist… Auch so fühlt sich Arp
in der Falle. Wer weiß, wie dieses Abenteuer endet. Und was ist das
für ein Befreiungskomitee? Im Lager war nichts von ihm zu merken.
Vielleicht sind es die Leute, die ihm seinerzeit beim Desertieren
halfen? Es war ein Fehler, daß er ihre Warnung in den Wind schlug
und zu seiner Mutter ging. Dort schnappte man ihn dann auch. Ware
er nicht so dumm gewesen, hatte alles anders kommen
können.
Das Quietschen von Rädern und wieder Stimmen. Arp blickt
durch eine der Öffnungen und beruhigt sich. Zwei Gefangene bringen
einen Kübel Abfall. Bestimmt Diensthabende. Sie haben keine Eile,
hocken sich auf ihren Karren und rauchen einträchtig eine Kippe,
die jemand von der Wache weggeworfen hat. Arp sieht die fahlen
Rauchfaden, und ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Haben die
Leute ein Glück!
Aus dem Zigarettenstummel ist alles herausgeholt. Der
Kübel wird hochgezogen. Das Seil, an dem er hängt, läuft über einen
Block, der sich direkt über Arp befindet. Arp schützt seinen Kopf
mit den Händen. Der Kübelinhalt fällt auf ihn.
Erst als die Häftlinge fort sind, merkt er, wie es in
seinem Versteck stinkt.
Die Atemlöcher liegen etwas höher als Arps Mund. Er muß
einen Teil des Mülls unter seine Füße scharren.
Nun heißt es aufpassen. Das Revierreinigen endet um
zehn. Danach bringt man die vollen Container nach oben.
Wer weiß, woher es kam, dieses breite, rohe, mörtelbeschmierte
Brett. Sein eines Ende stützt sich in die Kante zwischen
Containerboden und Wand, das andere ragt über Arps Kopf. Wie schon
die Böcke beweist das Brett, daß jemand um das Schicksal des
Flüchtlings besorgt ist. Arp wird das besonders jetzt bewußt, da
eine spitze Metallstange den Müll durchsticht und, als sie auf das
Brett trifft, es von oben bis unten abtastet. Wenn dieses Brett
nicht wäre… Die Kontrolle scheint kein Ende zu nehmen.
»Na, was ist da?« fragt eine heisere
Greisenstimme.
»Nichts. Nur ein Brett.«
»Dann los!«
Ein sanfter Ruck, das Quietschen des Tores, der
Container schwankt – und schwebt nach oben. Ab und zu trifft er
gegen den Schacht, und Arp, der sein Gesicht gegen die Wand preßt,
spürt jeden Stoß. Zum Glück ist zwischen seinem Kopf und dem Brett
noch etwas Platz, so daß er ihn bei starkem Schlingern zur Seite
drehen kann.
Stopp! Ein letzter, besonders heftiger Ruck, und mit
Getöse hebt sich der Deckel. Noch einmal durchsucht ein Eisenstab
den Inhalt des Containers. Und wieder verbirgt das Brett den
angstschlotternden Menschen. Durch die Luftlöcher blickt Arp auf
eine Betonmauer. Die ganze Welt scheint ihm von dieser rauhen
grauen Fläche begrenzt.
Doch jene Welt ist angefüllt mit lang vergessenen Tönen.
Arp erkennt das Quietschen von Autoreifen, die Stimmen
Vorübergehender und sogar das Tschilpen der Spatzen.
Ein gleichmäßiges, hartnäckiges Klopfen auf den Deckel
läßt ihn zusammenfahren. Die Schläge werden häufiger, immer
drängender und ungeduldiger, und plötzlich begreift er, daß es
regnet. Nun erst weiß er, wie nahe die Freiheit ist und wie sehr er
sich nach ihr sehnt.
Alles in dieser Nacht ist wie ein Fieberwahn. Seit man
Arp aus dem Container herauskippte, fällt er immer wieder in
Bewußtlosigkeit, aus der ihn Rattenpfoten wecken. Diese Müllkippe
strotzt von Ratten… Auf einer nahen Chaussee fahren Autos. Ihre
Scheinwerfer reißen manchmal den Abfallhaufen, hinter dem sich Arp
versteckt, aus der Dunkelheit. Die Ratten huschen fiepend in den
Schatten, zerkratzen dabei mit ihren scharfen Krallen Arps Gesicht,
fauchen ihn an, wenn er versucht, sie zu verjagen, und kommen
zurück, sobald die Kippe wieder finster liegt.
Arp denkt daran, daß seine Flucht sicher schon bemerkt
wurde. Er versucht sich vorzustellen, was jetzt im Lager passiert.
Ihm schießt durch den Kopf, daß die Hunde seine Spur aufgenommen
haben könnten, die zu den Containern führt, und dann… Wie ein
Schlag treffen ihn zwei grelle Lichtbündel. Arp springt auf. Gleich
darauf verlöschen die Scheinwerfer. Statt ihrer glimmt eine kleine
Lampe im Fahrerhaus des Autos. Es ist ein Armeelaster, einer, in
dem man gewöhnlich Munition befördert. Der Schofför gibt Arp ein
Zeichen heranzukommen.
Arp atmet erleichtert auf. Das Auto, von dem im Kassiber
die Rede war.
Er geht zur Rückwand des Wagenkastens. Die Tür wird
geöffnet, Hände strecken sich ihm entgegen. Dann ist er wieder im
Dunkeln.
Im Wagenkasten ist es eng. Arp sitzt auf dem Boden,
fühlt hinter und neben sich Leiber, hört schweres Atmen. Weich
federnd und leise rast der Laster dahin…
Später erwacht Arp vom Licht einer Lampe, die ihm ins
Gesicht scheint. Etwas muß passiert sein! Er spürt die Bewegung
nicht mehr, an die er sich schon gewöhnt hatte.
»Fünf Minuten Rast«, sagt der Mann mit der Lampe. »Ihr
könnt aussteigen.«
Arp hat keine Lust, das Auto zu verlassen, aber von
hinten drängen die anderen, und er muß auf die Erde
springen.
Nun stehen alle um das Fahrerhaus herum. Keiner wagt es,
sich vom Lastwagen zu entfernen.
»Folgendes, Kinder«, sagt ihr Retter und läßt den
Lichtstrahl noch einmal über sie wandern. »Vorerst läuft alles
glatt, doch bis wir euch ans Ziel gebracht haben, kann manches
passieren. Ihr wißt doch, was auf Flucht steht?«
Schweigen.
»Ihr wißt es. Das Komitee hat für euch Gift besorgt,
eine Pille pro Nase. Wirkt sofort. Einnehmen dürft ihr's aber nur
im Notfall. Klar?«
Arp nimmt seine in Silberfolie gewickelte Dosis in
Empfang und steigt zurück in den Wagenkasten.
Die Tablette in seiner Faust gibt ihm das Gefühl eigener
Stärke.
Nun haben die vom Zuchthaus keine Macht mehr über ihn.
Mit diesem Gedanken schläft er erneut ein.
Gefahr! Man spürt sie in allem: im Stillstand des Autos,
in den blassen Gesichtern der Flüchtlinge, die vom Licht, das durch
Ritzen im Kasten fällt, getroffen werden, im lauten Wortwechsel
draußen auf der Straße.
Arp macht Anstalten aufzustehen. Dutzende Hände winken
ab, geben ihm Zeichen, sich nicht zu bewegen.
»Armeeladungen werden nicht kontrolliert.« Das ist die
Stimme des Fahrers.
»Und ich sage, es ist ein Befehl! Heute
nacht…«
Das Auto schnellt davon. Ihm nach hämmern Feuerstöße aus
Maschinenpistolen. Von der Wand des Wagenkastens springen
Splitter.
Als Arp seinen Kopf endlich hebt, wird ihm bewußt, daß
seine Faust eine kleine Hand preßt. Unter einer rasierten Stirn
blicken ihn schwarze, von dichten Wimpern umrahmte Augen an. Die
Häftlingskleider können die mädchenhaften Rundungen der Figur nicht
verhüllen. Auf den linken Ärmel ist ein grüner Stern genäht.
Niedere Rasse also.
Unwillkürlich öffnet Arp seine Hand und wischt sie an
der Hose ab. Der Umgang mit Angehörigen der niederen Rasse ist auf
der Medena gesetzlich verboten. Nicht ohne Grund leben diejenigen,
die den Stern tragen, von der Geburt bis zum Tod in
Lagern.
»Sie kriegen uns doch nicht? Nicht wahr, sie kriegen uns
nicht?«
Die Stimme bebt und hört sich so kläglich an, daß Arp
das Gesetz vergißt und verneinend den Kopf schüttelt.
»Wie heißt du?«
»Arp.«
»Und ich Jetta.«
Arp läßt den Kopf auf die Brust sinken und tut, als ob
er einnickte. Immerhin weiß keiner, was man dort, wohin sie
gebracht werden, zu solchem Kontakt sagt.
Das Auto ist von der Chaussee abgebogen und holpert
durch Schlaglöcher, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Arp
knurrt der Magen. Vom Hunger und dem Gerüttel wird ihm übel. Er
versucht, wenigstens seinen Husten zu unterdrücken, weil er sich
vor den anderen geniert, doch davon kratzt es im Hals nur noch
mehr. Sein Oberkörper krümmt sich nach vorn, und dem Mund entringt
sich der Husten, vermengt mit blutigem Auswurf.
Dieser Anfall nimmt Arp so sehr mit, daß ihm keine Kraft
bleibt, die Hand mit dem grünen Stern auf dem Ärmel abzuwehren, die
ihm den Schweiß von der Stirn tupft.
Die heiße Nachtluft ist angefüllt mit den Düften exotischer
Blumen. Man hört das Zirpen der Zikaden.
Die Sträflingskluft ist abgeworfen. Ein bis zu den
Fersen reichendes Leinenhemd kühlt angenehm den vom Bad erhitzten
Körper. Arp kratzt mit einem Löffel sorgfältig die Breireste vom
Teller.
Am Ende des Speiseraums ist aus alten Fäßchen und
Brettern ein Podest gezimmert. Daneben stehen drei: ein
hochgewachsener grauhaariger Mann, dessen Gesicht sonnenverbrannt
ist wie bei einem Bauern, offenbar hier der Ranghöchste, dann ein
hübscher Bursche in Soldatenuniform der Medenischen Armee – es ist
derselbe, der am Steuer des Lastwagens gesessen hat – und als
dritte eine kleine Frau mit schwerem, um den Kopf gewundenem
rotblondem Zopf. Ihr weißer Kittel kleidet sie gut.
Die drei warten auf das Ende des Abendbrots.
Schließlich verebbt das Löffelgeklapper. Gewandt springt
der ältere Mann auf das Podest.
»Guten Abend, Freunde.«
Freudiges Gemurmel ist die Antwort auf diesen
ungewohnten Gruß.
»Vor allem habe ich euch mitzuteilen, daß ihr hier in
absoluter Sicherheit seid. Der Standort unseres Evakuierungspunktes
ist den Machthabern nicht bekannt.«
Die grauen, verhärmten Gesichter spiegeln ein solches
Glück, daß sie sogar schön erscheinen.
»Hier, im Evakuierungspunkt, bleibt ihr fünf bis zehn
Tage. Genau festgelegt wird die Frist von unserem Arzt, denn euch
steht eine schwere, mehrtägige Akklimatisierung bevor. Der Ort, an
den wir euch bringen, ist natürlich kein Paradies. Dort muß man
arbeiten. Jeden Fußbreit Boden für unsere Siedlungen ringen wir dem
Dschungel ab. Aber ihr werdet frei sein, könnt eine Familie gründen
und für euer eigenes Wohl schaffen. Unterkünfte für die erste Zeit
haben euch diejenigen vorbereitet, die vor euch dort angekommen
sind. Das ist bei uns Tradition. Und nun bin ich bereit, eure
Fragen zu beantworten.«
Während die anderen fragen, quält sich Arp in
unschlüssigem Schwanken. Gar zu gern möchte er wissen, ob man in
jenen Siedlungen Mädchen der niederen Rasse heiraten darf. Doch als
er sich endlich ein Herz faßt und zaghaft die Hand hebt, hat der
Mann mit dem bäurischen Gesicht das Podium bereits
verlassen.
Jetzt wendet sich die Frau an die Flüchtlinge. Sie hat
eine leise, melodische Stimme, und Arp muß die Ohren spitzen, um zu
verstehen, was sie sagt.
Die Frau bittet alle, sich zur medizinischen
Untersuchung in die Betten zu legen.
Arp erkennt sein Bett an dem daran schon befestigten
Krankenblatt, legt sich auf die kühlen, knisternden Laken und
schläft augenblicklich ein: Im Schlaf spürt er, wie man ihn auf die
Seite dreht. Er fühlt die Kühle des Stethoskops, öffnet die Augen
und sieht die kleine Frau mit dem rotblonden Zopf, die etwas in ihr
Notizbuch schreibt.
»Bist du aufgewacht?«
Sie lächelt, wobei sie ihre ebenmäßigen weißen Zähne
entblößt. Arp nickt.
»Du bist sehr von Kräften. Die Lunge ist auch nicht ganz
in Ordnung. Du wirst sieben Tage schlafen. Wir fangen gleich damit
an.«
Erst jetzt bemerkt Arp das Gerät, das man neben sein
Bett gerückt hat.
Die Frau drückt einige Knöpfe auf dein weißen Pult, und
in Arps Hirn dringt ein dumpfes Brummen.
»Schlaf!« hört er wie aus weiter Ferne die melodische
Stimme, und er schlummert ein.
Er hat einen wunderbaren Traum, voller Sonne und
Glück.
Nur im Traum gibt es so berauschende, verhaltene
Bewegungen, dieses Fehlen der eigenen Schwerkraft, die Fähigkeit zu
schweben.
Eine riesige Wiese ist übersät mit schneeweißen Blumen.
In der Ferne schimmert ein hoher Turm in allen Farben des
Regenbogens. Arp stößt sich leicht vom Boden ab und sinkt langsam
wieder hinunter. Der leuchtende Turm, der unbeschreibliche
Seligkeit verheißt, zieht ihn magisch an.
Arp ist nicht allein. Von allen Seiten der Wiese strömen
dem Turm Menschen zu, die ebenfalls in lange, weiße Hemden
gekleidet sind. Unter ihnen ist Jetta, das geschürzte Hemd gefüllt
mit weißen Blüten. »Was ist das?« fragt Arp sie und zeigt auf den
Turm.
»Die Freiheitssäule. Gehen wir.«
Sie halten sich an den Händen und schweben gemeinsam
durch die von Sonnenstrahlen durchflutete Luft.
»Warte.«
Arp rafft auch Blumen in sein Hemd, und sie setzen ihren
Weg fort.
Am Fuß des Turmes legen sie die Blumen nieder.
»Los, wer pflückt die meisten?« ruft Jetta, während sie
zwischen den grauen Stengeln umherspringt. »Hol mich
ein.«
Ihr Beispiel steckt die anderen an. Nach kurzer Zeit ist
der Sockel der Säule blumenüberladen.
Dann zünden sie Lagerfeuer an und rösten große Stücken
Fleisch, die sie auf lange, dünne Äste gespießt haben. Der
appetitliche Schaschlykduft mischt sich mit dem Geruch der
brennenden Zweige. Er weckt Erinnerungen an etwas lang Vergangenes,
sehr Angenehmes.
Nachdem sie ihren Hunger gestillt haben, legen sie sich
am Feuer nieder. Sie blicken hinauf zu den Sternen, zu den großen,
unbekannten Sternen am schwarzen Himmel.
Als Arp neben der verlöschenden Glut einschläft,
schmiegt sich in seine Hand eine kleine warme Faust.
Die Lagerfeuer brennen nicht mehr. Ausgeschaltet sind die
bunten Lichterketten, die den Turm umgürten. Unten, direkt überm
Boden, öffnen sich Luken, und zwei riesige mechanische Pranken
scharren die Baumwolle ins Innere.
In der verglasten Kuppel schaut der sonnengebräunte Alte
auf den Zeiger der automatischen Waage.
»Fünfmal mehr als bei den bisherigen Gruppen«, sagt er
und schaltet den Transporter aus. »Ich fürchte, bei diesem
verrückten Tempo halten sie keine Woche durch.«
»Wetten wir um zwei Flaschen!« Das hübsche Bürschchen in
Armeeuniform grient breit. »Sie schaffen die üblichen zwanzig Tage.
Hypnose ist was Tolles. Ich könnte mich kaputtlachen, wie sie diese
gebackenen Kohlrüben verschlungen haben. Unter Hypnose macht man
alles, was verlangt wird. Stimmt's, Doktor?«
Die kleine Ärztin läßt sich Zeit mit der Antwort. Sie
tritt ans Fenster, schaltet die Scheinwerfer ein und betrachtet
aufmerksam die totenschädelgleichen, nur aus Haut und Knochen
bestehenden Gesichter.
»Sie übertreiben ein wenig die Möglichkeiten der
Elektrohypnose«, sagt sie lächelnd und zeigt dabei ihre spitzen
Vampirzähne. »Die Hochleistungsstrahlung des Psi-Feldes gibt
lediglich den Rhythmus der Arbeit vor und bewirkt einen gewissen
Synchronismus der Handlungen. Das wichtigste ist die vorbereitende
psychische Einstimmung. Die Fluchtimitati on, die scheinbaren
Gefahren – das alles hat in diesen Wracks die Illusion einer zu
hohem Preis errungenen Freiheit erweckt.
Es ist gar nicht abzusehen, welch enorme Reserven der
Organismus noch mobilisieren kann, appelliert man an die höheren
Emotionen.«