Olga Larionowa


Der Überläufer





Es war schon nach fünf. Astor ging den leeren Institutskorridor entlang, und in dem Maße, in dem die gläsernen Türen der Labors und Werkstätten hinter ihm zurückblieben, schwanden die gewohnten Tagesgedanken, trat alles in den Hintergrund, was ihn zu einem Physiker wie viele machte. Zwanzig Schritte waren noch zu gehen, dann die traditionellen Vestibülstufen hinab, die Kiefernallee entlang, schließlich würde er sein Haus betreten, fünf Minuten Fußweg vom Institut entfernt und zwanzig Flugminuten vom Studio des Schriftstellerverbandes.
 Zu Hause angelangt, würde er ganz aufgehört haben, Physiker zu sein, weil dann der Abend begann. Abends aber war er nicht einfach Astor Elamit, sondern ein weltbekannter Schriftsteller.
 Er ging gemächlich, obwohl er sich gerade heute hätte beeilen müssen. Doch er schaute in jede Tür, betrat das eine oder andere Zimmer, sah sich um, warf einen Blick auf die Schränke und die Geräte. Er erholte sich. Dies war die kurze Unterbrechung, die Atempause zwischen jenen beiden Zuständen, die er mit unabänderlicher Periodizität jeden Tag durchlief. Ja, Zuständen, nicht Berufen. Es waren die wenigen Minuten, in denen er sich gestattete, nicht dieser und nicht jener zu sein, sondern einfach ein müder, von allem freier Mann. Und wie immer verwendete er diese Minuten darauf, Rika zu finden, er wußte, daß sie das Institut noch nicht verlassen hatte.
 Er fand sie auf dem Fensterbrett im kleinen Kybernetiklabor. Dort saß sie, das Kinn auf die Knie gelegt, traurig und düster; Astor hatte ihr zu all ihrem kleinen Mädchenkummer gerade noch gefehlt.
 Er ging zu ihr und blieb stehen, es mußte etwas gesagt werden. Aber er wußte selbst nicht recht, weshalb er sie suchte. Es war wohl so, daß es ihm schlicht Freude machte, sie zu sehen. Doch jetzt, da er sie anschaute und in sich nach dieser Freude forschte, einer kleinen Freude wenigstens, da fand er sie nicht, sie kam nicht auf, es war immer dasselbe. Was gab es Gemeinsames zwischen ihm, dem soliden Mann der Wissenschaft, und ihr, diesem flachsblonden Ding, dieser nachlässigen, Praktikantin? Er fragte sich nicht erst heute, welche dunkle Kraft ihn dazu brachte, sie zu suchen, sich dumme, fremd klingende Phrasen abzuquälen, nie zu wissen, womit er anfangen und, was das schlimmste war, womit und wann er sich verabschieden sollte, und dennoch zu sprechen, dennoch sie anzuschauen…
 »Warum sind Sie noch da?« fragte er in unerträglichem Ton. »Sie wissen doch, daß die Energie im ganzen Institut abgeschaltet ist.«
 Sie sah von der Höhe ihres Fensterbretts auf ihn herab und antwortete knapp: »Ich verbrauche keine Energie.«
 Nicht übel, dachte Astor, aber was werde ich am Abend mit dieser Szene machen, wenn alles nicht mehr im Leben, sondern in meiner Novelle geschieht, wenn ich nicht mehr ich selbst, sondern ein anderer sein werde, jünger und charmanter, wenn ich nicht mehr diesen blöden Namen Astor tragender so wunderlich nach einem edlen Jagdhund klingt, sondern jener Stor bin, der äußerlich an einen schönen Hauptmann aus einem alten Unterhaltungsroman erinnert, mit allen Eigenschaften versehen, die mir selbst fehlen? Mit dem Mädchen ist alles klar, die hab' ich schon aus der schlaksigen, flachsblonden Rika zur goldlockigen Schönheit Regina gemacht, aber was wird mit diesem Dialog? Kann ich zulassen, daß Sie sich in meiner Novelle so flegelhaft gegen Stor benimmt?
 »Gehen Sie nach Hause«, sagte er, so streng er konnte. »Praktikanten dürfen sich nur unter der Aufsicht von Mitarbeitern in den Institutsräumen aufhalten.«
 »Beaufsichtigen Sie mich doch«, sagte sie, zog die Knie an die Brust und schuf so ein bißchen Platz auf dem Fensterbrett. »Setzen Sie sich daneben und beaufsichtigen Sie mich.«
 Nun, Täubchen, dachte er, das merke ich mir bestimmt. Meine Regina wird bestimmt sagen: Beaufsichtigen Sie mich doch. Und dabei wird sie ein bißchen Platz auf dem Fensterbrett machen. Aber das ganze Unglück ist, daß ich, nein, nicht ich, sondern Stor sich dazusetzen wird und was dann geschieht, mein Gott, was geschieht dann… Ich weiß ja, daß das alles banal bis zum Überdruß ist, es kann einem übel dabei werden, und trotzdem werde ich es schreiben. Das ist Literatur, hol sie der Teufel.
 »Hören Sie, Mädchen«, sagte er und wußte im voraus, daß er nicht das sagen würde, was zu sagen war. »Ich habe Ihnen mehrfach geraten, den Beruf zu wechseln. Verlieren Sie keine Zeit, ein ordentlicher Physiker wird doch nicht aus Ihnen. Dazu braucht man eine andere Art Charakter.«
 »Ich hab' gar nicht vor, ein ordentlicher Physiker zu werden.« Sie war nicht im geringsten verlegen. »Damit fange ich nur an. Und dann werde ich Wirklicher Schriftsteller, wie Sie.«
 Er blickte sie erstaunt an. Von seinem zweiten Beruf – seinem zweiten Zustand, korrigierte er in Gedanken – hatte er im Institut nie gesprochen.
 »Das ist viel schwerer, als einfach Physiker zu werden«, sagte er langsam. »Man kann sein Leben lang schreiben und es doch nicht zum Wirklichen Schriftsteller bringen.«
 »Dann werde ich mein Leben lang schreiben.«
 »Aber zuerst muß man lernen, auf Papier zu schreiben.«
 Das ist sehr mühsam, auf Papier zu schreiben. Du selbst weißt von deinem Helden so viel, daß du unwillkürlich das Gefühl dafür verlierst, ob es dir gelungen ist, zwischen den Zeilen all das zu sagen, was im Gedruckten keinen Platz findet. Für dich existiert dies Unausgesprochene, weil alles, was du gedacht hast, als du deine Novelle, deinen Roman oder auch nur deine Kurzgeschichte schriebst, dir immer gegenwärtig ist, und wenn du durchliest, was du geschrieben hast, dann kommen dir tausend Assoziationen und schaffen unwillkürlich jene Mischung von Lauten, Gerüchen, Empfindungen und Wünschen, die den Text lebendig macht; aber das trifft nur für dich zu. Wie sollst du überprüfen, ob das alles auch für den Leser gilt?
 Und selbst das Eigene kann ganz verschieden klingen, je nachdem, ob es handgeschrieben, auf der Maschine abgetippt oder gedruckt ist. Nun finde erst einmal heraus, wo dir etwas gelungen ist und was einfach nichts taugt. Du schreibst und schreibst, mühst dich unsäglich, eines schönen Tages beschließt du, alles hinzuwerfen, weil offensichtlich ist, daß nichts aus dir geworden ist – und plötzlich, wie der Blitz aus heiterem Himmel, kommt die Entscheidung des Rates des Schriftstellerverbandes, dir das Recht zuzuerkennen, Wirklicher Schriftsteller zu sein. Dann hörst du auf, Papier zu beschreiben.
 »Ich will genau wie Sie Wirklicher Schriftsteller sein und lebendige Menschen schaffen«, verkündete Rika hartnäckig.
 Noch ganz ein kleines Mädchen, dachte Astor, noch ganz dumm. In einem bestimmten Alter träumen sie alle davon, auf den Uranus zu fliegen, ins Magma zu tauchen oder Wirklicher Schriftsteller zu sein. Wenn sie sechzehn sind, gibt sich das meistens. Die Hälfte von ihnen bekritzelt Papier mit Gereimtem und Ungereimtem, aber über das Papier hinaus gelangen nur einzelne – einzelne auf dem ganzen Planeten. Bei den übrigen verliert sich das. Es wird sich auch bei dieser verlieren, von selbst, warum soll ich da etwas sagen. Einem Mädchen den Berufswunsch auszureden ist eine undankbare Beschäftigung und vor allem ganz nutzlos.
 »Um lebende Menschen zu schaffen, genügt der Wunsch allein nicht«, hörte er sich, verwundert über seinen lehrhaften Ton. »Dieses Recht verleiht der Rat der Schriftsteller, aber nicht für immer. Es kann einem verliehen und auch wieder genommen werden. Außerdem gibt es kaum Frauen unter den wirklichen Schriftstellern. Höchstwahrscheinlich deshalb, weil die Frauen die Möglichkeit haben, lebendige Menschen auf andere, natürliche Weise zu schaffen, und darin sind sie besser.«
 Rika errötete so plötzlich, daß Astor sogar erschrak, doch sie preßte die Knie nur fester an die Brust, wartete, bis, wie sie glaubte, die Röte vergangen war – in Wirklichkeit hielt sie sich noch beinahe zehn Minuten –, und wiederholte hartnäckig und böse: »Ich will es und ich werde, ich will und ich werde. Das werden meine Menschen sein, ganz und gar meine, ich denke sie aus, zwinge sie zu atmen, sich zu bewegen, sich zu quälen und, was das wichtigste ist, auf menschliche Art zu leben. Verstehen Sie, ich werde sie lehren, so zu leben, wie ich es möchte.«
 »Ich verstehe«, sagte er langsam. »Auch ich habe davon geträumt. Ich habe geträumt, wie meine Helden leben werden. Davon, wie ich sie schaffen werde. Ich wußte vorher, wie unerlaubt stark ich sie lieben würde. Aber ebenso wie Sie vergaß ich, daß ich sie früher oder später töten muß.«
 Er sagte es und bereute es sofort, nicht weil er es ihr nicht hätte sagen sollen, sondern weil er sich einfach hatte erholen wollen und an nichts denken, bis er in seinem Haus war, und nun war das, was ihn selbst am Tage, wenn er über seine Physik nachdachte, unterbewußt quälte, doch hervorgebrochen, und er hatte nicht einmal diese wenigen Minuten lang Ruhe.
 Wahrscheinlich widerspiegelte sich dies alles auf seinem Gesicht, denn Rika ließ die Beine vom Fensterbrett gleiten, sprang herunter und trat auf ihn zu, einen seltsamen Ausdruck in ihren Zügen, fast eine Grimasse.
 »Ach!« stieß er hervor, winkte ab und ging schnell fort, hinaus aus dem Institut, die kurze Kiefernallee entlang nach Hause, wo ihn das direkt mit dem Studio des Schriftstellerverbandes gekoppelte Diktaphon erwartete, und den ganzen Weg über wußte er nicht, was er tun sollte, seine Novelle war zu ihrem natürlichen Ende gelangt, und dieses Ende mußte auch das Ende seines Stor werden. Nicht, daß es unbedingt tragisch zugehen mußte – piff-paff oder ein Teelöffel Gift. Das Ende kam selbst dann, wenn es hieß: Sie heirateten und lebten lange und glücklich. Das Ende war der Punkt, an dem der Held, den man aufgezogen und in Szene gesetzt, den man gelehrt hatte, alle die Wunder zu vollbringen, zu denen man selbst nicht imstande war – an dem dieser Heid den ihm zugemessenen Abschnitt seines Weges absolviert hatte; Kulmination, Auflösung, und weiter ordnete er sich einem nicht mehr unter, weiter hatte er nichts mehr mit einem zu tun. Er gehörte einem nicht mehr.
 Und so ging man dahin, plagte sich, ehe man den letzten Punkt setzte, suchte nach einem Mittel, seinen Helden wenn nicht überhaupt unsterblich, so doch wenigstens auf menschliche Art sterblich zu machen, aber man vermochte nichts dergleichen auszudenken, zögerte das Ende hinaus, bis so ein Tag wie heute kam, an dem man unausweichlich Schluß machen mußte. Weil ein Wirklicher Schriftsteller nicht berechtigt war, aus dem Leben zu scheiden, ohne das Schicksal seines Helden entschieden zu haben. Das war grausam, aber gerecht, weil sonst alle versuchen würden, ihre Werke unvollendet zu lassen, damit ihre Helden das illusorische Leben im Studio des Schriftstellerverbandes weiterleben konnten, ein Leben in einer Welt der Dekorationen und projizierten räumlichen Gestalten, die als Randfiguren dienten, aber ein Leben immerhin.
 Es ist sehr schwer, die Existenz des eigenen Helden zu beenden, und deshalb wurde das Recht, Wirklicher Schriftsteller zu sein, nur sehr mutigen Menschen zugebilligt. Astor rechnete sich selbst nicht zu dieser Art von Menschen, aber offenbar taten es andere; er machte sich nichts vor, und jetzt, wo seine erste Novelle, die nicht auf Papier geschrieben, sondern von durch ihn geschaffenen lebendigen Menschen gespielt worden war, faktisch längst ihr Ende gefunden hatte, da fehlte ihm der Mut, den Punkt zu setzen.
 Doch heute mußte er das tun, weil morgen in seinem Laboratorium ein Experiment angestellt wurde, das ziemlich tragisch ausgehen konnte. Astor vermochte damit niemand anderen zu betrauen, er führte es selbst durch, er allein wußte, wie groß das Risiko war.
 Morgen war alles möglich.
 Also mußte heute Schluß mit Stor sein.
 Astor erreichte die Stufen seines Hauses und blickte sich um. Wie ein schneebedeckter Berg ragte der Riesenblock des Instituts über den Kiefern empor. Wahrscheinlich war Rika wieder aufs Fensterbrett geklettert und sah ihm nach. Die flachsblonde Rika, die er jeden Tag unbedingt einmal sehen mußte. Woher mochte sie von seinem zweiten Zustand erfahren haben? Und dann dieses »Ich will lebendige Menschen schaffen«… Im Studio war es nicht üblich, von seinen Helden zu sagen, sie seien lebendige Menschen. Man sprach von »szenischen Biorobotern« oder »materialisierten Gestalten«.
 Doch es waren tatsächlich lebendige Menschen, die ein kurzes, vorgezeichnetes, aber verteufelt farbiges und beneidenswertes Leben führten. Wie Stor.
 Astor, setzte sich, zog das Diktaphon zu sich heran und fühlte plötzlich… Es war ein seltsames, unwahrscheinliches Gefühl momentaner Allmächtigkeit. Hol der Teufel alles auf der Welt, du bist ja doch kein Dummkopf, sogar ein ziemlich talentierter Mensch. Ein Wirklicher Schriftsteller dazu! Also such einen Ausweg, tu das Unmögliche, rette deinen Stor! Noch ist Zeit dafür. Halte dich nicht mit all diesen Amouren, Fensterbrettern und Goldlocken auf! Die Hauptsache ist Stor. Rette ihn!
 Er schaltete das Diktaphon ein.
 »Als er das Institut verließ«, begann er, »wußte Stor Elamit, daß er Regina weder jetzt noch später, daß er sie überhaupt nicht mehr wiedersehen würde.
 Dieses rothaarige Ding, dachte er, die dematerialisiere ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Er ging eilig die Allee entlang, doch dort, wo sie auf sein Haus stieß, verlangsamte er den Schritt, bog um das Haus herum und befand sich auf dem Landeplatz, auf dem ihn jeden Abend von fünf Uhr an ein kleines Sportmobil erwartete. Er stieg mit der Maschine auf und befand sich zwanzig Minuten später bereits dort, wo sich hinter dichtem Kiefernwald die rauchige Mauer des Studios des Schriftstellerverbandes erhob. Sie grenzte ein Territorium von mehreren hundert Quadratkilometern ein und erschien daher völlig gerade, so daß man aus einigen Dutzend Schritten Entfernung gar nicht erkennen konnte, wie sie gebogen war – auf einen zu oder umgekehrt. Die Mauer ragte hoch in den Himmel, und die ewig tiefhängenden Wolken verschmolzen mit ihr und ließen sie endlos erscheinen. Hier hatte Stor sich zum erstenmal mit Regina getroffen, und nun hatte er unbewußt diese Stelle wiedergefunden, neben einem knorrigen, von Ameisen wimmelnden Baumstumpf, und er begann zu warten, ohne zu wissen, worauf, saß einfach auf dem kurzen, trockenen Moos und schnippte ab und zu die riesigen weinroten Ameisen vom Schuh, die hartnäckig immer wiederkamen…«
 Astor dachte eine kleine Weile nach: Sollte er noch etwas hinzufügen? Dann schaltete er das Diktaphon aus. Der Absatz wurde abgerufen, er war im Studio eingetroffen. Jetzt dechiffrierten ihn sicherlich schon die Kyberassistenten und bereiteten die Requisiten vor – das Mobil für den Flug und alles übrige, die sonstigen Pavillons waren ja noch da –, die Kopie des Weges vom Institut bis zu Astors Haus, die Fläche für die Mobile hinter dem Haus und dann das Wäldchen an der Mauer. Doch das war nicht mehr im Aufnahmepavillon, sondern Natur, so selten im Studio.
 Es war Zeit.
 Astor verließ das Haus, fuhr das Mobil aus der Garage und startete steil nach oben. Er nahm Kurs nicht auf den Hauptkomplex des Studios, sondern auf die Mauer, zu der Stelle, zu der nach einiger Zeit von der anderen Seite her sein Stor kommen mußte.
 Astor flog nicht gern in großer Höhe. Die belebten Trassen lagen abseits und beträchtlich höher, deshalb schaute er ruhig durch den durchsichtigen Boden der Maschine nach unten und versuchte sich vorzustellen, was jetzt im Studio geschah.
 Gestern hatte er Stor in dessen Laboratorium gelassen. Der Dialog mit Regina taugte nicht. Man merkte, daß nur Zeit gewonnen werden sollte; der Absatz schloß damit, daß Stor Regina an ihren Arbeitsplatz zurückschickte.
 Jetzt, vor dem Beginn der neuen Episode, speisten die Kyberassistenten all das in Stors Gedächtnis ein, was er angeblich zwischen dem Gespräch mit Regina und dem Verlassen des Instituts getan hatte. Vielleicht waren die für Stor unsichtbaren Apparate schon eingeschaltet, lief die Aufnahme bereits, bog Stor um sein Haus, wie es Astor vorgeschrieben hatte, bestieg das Mobil, das Fahrzeug startete – aber nicht in den Himmel, sondern nur einige Meter hoch, dann wurde die Projektion früher aufgenommener Bilder eingeschaltet, und Stor kam es so vor, als entferne sich die Erde, als flögen Städte und Wälder unter ihm vorbei, zögen sich unnatürlich gerade Straßen und Kanäle dahin. In Wirklichkeit wurde die Attrappe seines Mobils nur einige Dutzend Meter seitwärts befördert, dorthin, wo neben der verbotenen rauchigen Mauer echte Bäume wuchsen, und dieser ganze Flug würde nicht mehr als dreißig Sekunden dauern, weil man dem Zuschauer nicht zumuten konnte, den Helden eine halbe Stunde lang in der Maschine sitzen zu sehen; doch wenn Stor landete, würde er das Gefühl haben, zwanzig Minuten geflogen zu sein, genau so lange, wie Astor es vorgeschrieben hatte.
 Am Steuerpult leuchtete ein rotes Warnsignal auf; der Lokator erfaßte die Mauer voraus. Astor landete das Mobil. Die Bäume wuchsen so dicht, daß sich die Maschine mühsam durch die dichten Zweige drängte und etwa einen halben Meter über dem kurzen, trockenen Moos verhielt.
 Astor Elamit stieg aus.
 Nie zuvor war er so nah an die Mauer herangetreten. Sie war nur drei, vier Schritte entfernt, und die letzten Bäume wuchsen ganz dicht neben ihr.
 Astor machte noch zwei Schritte, befand sich nun unmittelbar an der Mauer, blickte sich unwillkürlich um und blieb verdutzt stehen: Die Bäume der letzten Reihe direkt an der Mauer besaßen keine Rückseite. Von der Stelle aus, wo das Mobil gelandet war, erschienen sie völlig normal, saftstrotzend und voll. Doch von der Mauer her sah man, daß es nur Hälften waren, vertikal wie mit einem Riesenmesser abgeschnitten, und diese Schnittfläche an den Stämmen wirkte nicht nackt, sondern war von einer trüben, lilafarbenen Kruste bedeckt. Astor klopfte mit den Fingerknöcheln an diese Kruste – es klang hohl, als sei es leer in den Raumhälften. Er verharrte einen Augenblick, überlegte, bis ihm einfiel, daß das schon Attrappen waren, die man sicher aus dem Studio heraus hierhergesetzt hatte, damit die echte Vegetation die Mauer nicht beschädigte.
 Doch zu längen Überlegungen blieb keine Zeit. Dort hinter der Mauer flog Stor bereits herbei, denn in den Filmen dieses Studios lief die Zeit anders als im Leben gewöhnlicher Menschen ab. Manchmal wurde der Zeitablauf verlangsamt, eine halbe Stunde aus dem Leben des Helden zerfiel in eine Vielzahl kleiner und in ihrer Vereinzelung scheinbar unbedeutender Episoden; doch dann wurden diese Splitter durch zwei Kräfte, die wohlwollende äußere Aufmerksamkeit und die erbarmungslose innere Notwendigkeit, miteinander verbunden und wie auf einer großen Hand vor die Augen des Zuschauern geführt, Minuten eines erfundenen Lebens, deren Bedeutung sich durch die Verlangsamung der Handlung vervielfachte.
 Meistens aber war es anders, da wurden Lebensjahre der Helden zu Stunden, nicht weil diese Jahre unwichtig und kleinlich waren, sondern wegen der Rahmenbedingungen der schriftstellerischen Aufgabe – ein ganzes Leben mußte zu einem kurzen Zeitabschnitt komprimiert werden. Damit war die Zeit der materialisierten Helden…
 Eigenartig, warum nenne ich sie so? wunderte sich Astor. Bis jetzt sprach ich immer von lebenden Menschen. Erst in diesem Augenblick, hier vor der Mauer, kommt mir der ungewohnte Terminus »materialisierter Held« in den Sinn. Eine falsche Bezeichnung. Es sind lebende Menschen, nur in einer Hinsicht ungewöhnlich. Darin, daß sie völlig dem Autor gehorchen. Obwohl, ganz stimmt auch das nicht. Wie oft schon hat ein Autor gespürt, daß sich diese oder jene seiner Gestalten verselbständigt, daß die dem Helden diktierten Worte und Handlungen unnatürlich wirken. Manchmal geschieht es sogar, daß der Autor auf einmal begreift, daß ihn sein Geschöpf, sein Held, zwingt, das erdachte und ausgearbeitete Sujet zu verwerfen, weil der Held nur auf eine bestimmte Weise handeln kann; der Autor akzeptiert das und unterwirft sich der Entscheidung der von ihm geschaffenen Gestalt. Natürlich nur, wenn er feinfühlig genug ist. Es gibt auch Schriftsteller, die ihre Heiden dennoch nötigen, völlig entgegen ihrem Charakter zu handeln. Das wird dann meistens das letzte Werk so eines Schriftstellers, das Recht, ein Wirklicher Schriftsteller, der lebendige Menschen schafft, zu sein, wird ihm entzogen, und er bekommt keinen Zugang mehr zum Studio.
 Was Astor Elamit jetzt vorhatte, wurde ebenfalls mit dem Entzug aller Rechte eines Wirklichen Schriftstellers geahndet, aber er konnte nicht anders handeln, Stor bedeutete ihm mehr als die eigene Person. Er mußte ihn retten, ohne an den Preis seiner Tat oder auch nur daran zu denken, ob es für Stor richtig war. Er mußte.
 Astor machte noch einige Schritte auf die Mauer zu, blieb so dicht vor ihr stehen, daß sein Gesicht beim nächsten halben Schritt in die eisige Masse der Mauer getaucht wäre. In den Wangen spürte er ein Prickeln, als hinge vor ihm der Körper einer riesigen rauchgrauen Qualle. In diesen aufragenden Nebel mußte er hineingehen. Wiederum – er mußte.
 Warum hatte er sich bis zu diesem Moment kein einziges Mal gefragt, ob er das tun konnte? Als sei das etwas Selbstverständliches. Er wußte viel über das Studio, alles – oder glaubte es mindestens zu wissen – über diejenigen, die nach dem Willen der Wirklichen Schriftsteller das Recht auf ein Leben innerhalb dieses Studios erhielten, und zwar ein Leben, das nicht selten farbiger und dessen Taten sehr viel folgenreicher waren als bei gewöhnlichen Menschen. Hunderte von Malen hatte er sich das gesagt.
 Aber was wußte er von der Mauer? Er kramte in seinem Gedächtnis. Da war kein Winkel, in dem sich dieses Wissen verbergen konnte. Er hätte gefühlt, was er einmal gewußt und dann vergessen hatte. Da war nichts. Nur, daß er für das Vordringen auf die andere Seite mit dem Recht, lebendige Men schen zu schaffen, würde zahlen müssen. Doch selbst das war kein Wissen, sondern lediglich eine Ahnung.
 Warum wußte er nicht, wie das mit der Mauer war? Und vor allem, würde er es vermögen, es wagen, in sie hineinzugehen?
 Er stand, wartete, daß irgendwo in seinem Innern sich eine Antwort fände. Aber es fand sich keine, dafür zeichnete sich in Astors Bewußtsein deutlich eine Lücke, eine erinnerungslose Leere wie nach einer Ohnmacht ab, gleich danach fühlte er, wie in ihm die Empfindung der Unmöglichkeit, der Unzulässigkeit dessen wuchs, was er vorhatte, und um sich dem nicht zu unterwerfen, streckte er die Arme vor wie Menschen, die im Nebel gehen, und schritt hinein in den Rauchkörper der Mauer. Für einen Augenblick konnte er nichts sehen, dann verschwand der Rauch plötzlich, und Astor fühlte sich in einer seltsamen kristallischen Leere. Unter den Füßen war eine dünne silbrige Folie, und ringsum war einfach – nichts. Eigentlich müßte man in dieser Situation Entsetzen fühlen, dachte er; doch er spürte nur ein großes Staunen und ging schnell weiter, die Arme noch immer vorgestreckt, geriet nach einigen Schritten von neuem in eine Nebelwand, die rätselhaft aufgetaucht war und wieder verschwand, und da begriff er, daß er auf der anderen Seite angekommen war.
 Das war's, sagte er sich, und es war ganz einfach. Ein Mann kann also praktisch durch diese Wand gehen, die Strafe ist allerdings der Ausschluß von der geliebten Arbeit, ein hoher Preis, gewiß. Und wie ist das für die Bioroboter? Ob sie auch durch die Mauer gehen können? Ware es nicht einfacher gewesen, Stor zu befehlen, zu mir in die Welt der Menschen herauszukommen?
 Aus irgendeinem Grund war ihm das früher nicht eingefallen. Es war sicherlich unmöglich. Sicherlich, wieder diese merkwürdige Unbestimmtheit, diese Lücke im Bewußtsein. Warum wußte er eine so wichtige Sache über seinen eigenen Stor nicht?
 Der Gedanke an Stor aktivierte ihn. Es war keine Zeit zum Grübeln. Er befand sich im Studio, auf verbotenem Gelände. Jetzt galt es nur, schnell zu sein und sich nicht fassen zu lassen. Er mußte Stor treffen, dann würde er weitersehen. Vielleicht war dann auch zu klären, ob ein Bioroboter durch die Mauer dringen konnte. Durch die Mauer, die er durchschritten hatte, von der er aber nichts genauer wußte. Astor Elamit ging weiter, suchte die Stelle, die er in seiner Novelle zweimal beschrieben hatte, doch noch waren weder der knorrige Baumstumpf noch Stör zu sehen, der auf diesem Baumstumpf sitzen mußte.
 Ihm wurde unheimlich zumute. Was heißt – unheimlich! Lähmendes Entsetzen packte ihn, wie man es nur aus Kinderträumen kennt, wenn man mit rasender Geschwindigkeit in eine bodenlose Tiefe stürzt, die unsichtbare, federnde Masse unter einem sich weiter und weiter öffnet, man tiefer und tiefer stürzt, leichte, eisige Bläschen vom Grund aufsteigen, die durch den Körper dringen und nach oben fliegen, wohin man selbst nie, nie mehr zurückkehren kann, weil alles endgültig verloren ist, und man ist ganz allein schuld daran.
 Astor begriff, daß er die Stelle verfehlt hatte.
 Er spürte nicht einmal den Wunsch, loszurennen, zu rufen, zu schreien. Das Studio umfaßte Hunderte von Quadratkilometern. Wohin sollte er denn laufen? Nach rechts? Nach links? Wieso war er überhaupt sicher gewesen, genau an die Stelle zu gelangen, an der Stor ihn erwarten würde? Woher hatte er gewußt, daß er gerade hier durch die Mauer gehen mußte?
 Seltsam, er war sich dessen sicher gewesen. Jetzt dagegen wußte er gar nichts mehr, überhaupt nichts, nicht einmal der Gedanke an Umkehr bewegte ihn. Schwerfällig bahnte er sich den Weg durchs Gebüsch, irgendwo seitlich hinein, ohne weiter nachzudenken, schwankend und stellenweise auf den abge fallenen, trockenen Kiefernnadeln ins Rutschen geratend. Er blieb erst stehen, als er ein kahles, sonniges Hügelchen erreichte; dort saß ein alter Mann, der die Augen halb geschlossen hielt, als wärmte er sich in der Sonne.
 Aus der Traum, dachte Astor resignierend. Gerade an einen besetzten Platz muß ich kommen, hier wird gefilmt, ein psychologisch wichtiger Moment, alle unsichtbaren Kameras laufen in Großaufnahme. In zwanzig Minuten wird der abgedrehte Streifen bearbeitet, und der Kyberkorrektor löst automatisch Alarm aus, weil eine fremde Person im Bild ist. Damit ist alles zu Ende.
 Astor sah zu dem alten Mann hin. Würde der sich wundern, einen Unbekannten zu treffen? Vielleicht stammte der Alte aus einer anderen Zeit? Womöglich spielte die Handlung der Novelle, die hier vor sich ging, vor fünfzig Jahren? Der unauffällige schwarze Anzug des Alten verriet nichts darüber.
 Doch der alte Mann sah dem näher kommenden Astor ohne eine Spur von Verwunderung, eher mit einer gewissen Befriedigung entgegen. Er tat dies schon lange, wahrscheinlich von Anfang an (Astor hatte es nur nicht beachtet), blickte mit halbgeschlossenen Augen, wie es sehr müde alte Männer tun.
 Astor trat noch näher.
 »Setzen Sie sich zu mir«, sagte der Alte und rückte ein Stück auf dem umgestürzten Kiefernstamm zur Seite, obwohl auch so Platz genug war. Astor hob langsam ein Bein über den Stamm; setzte sich rittlings hin, und rötliche, sonnenwarme Rindenplättchen rieselten zur Erde wie Schuppen eines großen goldenen Fisches. So sehen sie also aus, dachte Astor und betrachtete den Alten unverfroren, so sehen sie aus, die wir mit der zweifelhaften Kraft unserer Phantasie erschaffen. Nachher erblicken wir sie als räumliche, verteufelt echte Gestalten auf dem Stereobildschirm. So jedoch, aus Fleisch und Blut, begegnen sie uns nie. Dieser Zwischenprozeß wurde aus dem Schaf fensakt herausgelöst. Und das ist wohl auch gut und richtig so, weil ein Autor, der seinem Helden einmal so begegnet ist, wie ich jetzt diesem Alten, nicht mehr imstande sein würde, ihn zum Leben, Denken, Fühlen und so weiter zu zwingen. Für das technische Personal des Studios – die Biokonstrukteure, Neuroplikatoren und Psi-Operateure – bleiben sie immer nur szenische Bioroboter, ferngesteuerte Anthropoiden ohne Rückkopplung. Wir allein, vielleicht nicht einmal alle, sondern nur einige von uns, wissen, wie sehr dies Menschen sind. Lebendige Menschen. Und wie wenig verstehen wir trotz allem, nein, es ist überhaupt nicht zu verstehen, wie unheimlich und schmerzlich es für uns ist, daß das tatsächlich lebendige Menschen sind.
 Der Alte blickte vor sich hin, ohne sich nach Astor umzuwenden, seine kleinen, sehr greisenhaften Hände lagen auf eine besonders kraftlose Weise auf den Knien. Er ist noch älter, als es scheint, dachte Astor. Überhaupt, wunderliche Gedanken gehen mir durch den Kopf, zum Beispiel, daß ich diesem Alten schon irgendwo begegnet bin. Obwohl, was ist wunderlich daran? Dem Alten kann ich nicht begegnet sein, das ist ein szenischer Bioroboter, eine materialisierte literarische Gestalt, nicht mehr. Aber er kann einen Prototyp besitzen. Den hab' ich bestimmt gesehen. Nicht im Institut, dann würde ich mich deutlicher erinnern. Im Schriftstellerverband also. Was geschieht wohl, wenn ich ihn einfach frage, wer er ist?
 Astor wollte gerade den Mund öffnen, als sich der Alte langsam zu ihm umdrehte und sagte: »Na schön, dann muß ich mich als erster vorstellen.« Er kniff die Lippen zusammen und sah wieder traurig in die Weite, als wartete er darauf, daß Astor ihn unterbräche und das Gespräch eröffne. Doch Astor hielt sich zurück. »Sehen Sie, ich bin Schriftsteller. Es ist immer ein bißchen peinlich, das von sich zu sagen.« Der Alte lächelte verständnisheischend, seine kleinen Hände bewegten sich unruhig auf den Knien. »Aber ich bin Wirklicher Schriftsteller.«
 Nun ja, dachte Astor, ich war's auch. Jetzt wird man mich aus dem Verband rauswerfen, und was das Schlimmste ist, alles war umsonst. Ein Dreck bin ich. Nichts habe ich vermocht.
 »Ich habe viele Bücher verfaßt«, sprach der Alte weiter. »Die letzten drei durfte ich materialisieren. Heute frage ich mich: Was war eigentlich die Hauptsache, was hat bei der Schaffung eines Wirklichen Buches die meiste Freude gemacht? Wenn man sich vornimmt, ein neues Buch zu schreiben, ohne noch genau zu wissen, was für eins, aber doch weiß, daß es ein eigenes Buch sein wird? Ist es die Entwicklung des Sujets oder das Auftreten des Helden? Welcher Augenblick prägt sich einem mehr ein: das erste Auftauchen des Helden in der eigenen Vorstellung oder die erste Begegnung mit ihm auf dem Bildschirm?«
 Komisch, dachte Astor. Er spricht jetzt mit mir, einem Fremden, den der Autor nicht vorgesehen hat. Das bedeutet, dieser ganze Monolog stammt nicht vom Autor. Das sind Gedanken, die unabhängig vom Willen dessen sind, der diesen Alten geschaffen hat. Beängstigend ist das. Nicht komisch, sondern beängstigend.
 »Ebensowenig wußte ich, wer von all meinen Helden mir der liebste ist. Bis vor kurzem wußte ich es nicht. Bis die Zeit kam, mich vom letzten zu trennen. Da begriff ich, daß mir dieser letzte so nahe stand, ich ihn so brauchte, daß die Trennung von ihm, daß sein Verschwinden für mich nicht nur wie der eigene Tod ist, es ist schrecklicher, denn darauf wird die Leere folgen, in der meine Existenz andauert.«
 Ein Jammerlappen bist du, dachte Astor in plötzlich aufkommender Erbitterung. Du bringst den Menschen um, den du ins Leben gesetzt und durchs Leben geführt hast. Du spielst mit deinen kleinen, zu nichts zu gebrauchenden Händchen, und inzwischen dematerialisieren sie ihn dort. Nicht dort, hier. Das geschieht hier, im Studio. Noch ein paar Minuten, dann ist es auch mit meinem Stor soweit. Wir sind beide Jammerlappen. Ich hab' ja auch nichts getan. Die Kraft hat nicht gereicht. Und der Verstand auch nicht. Ach, was bin ich für ein Dreck! Ich sitze da und höre zu.
 »In ihm verkörperte ich mich selbst«, redete der Alte monoton weiter. »Nicht so, wie ich bin – ein bißchen besser… und jünger. Jung konnte ich ihn nicht machen, wahrscheinlich hatte ich schon verlernt, davon zu träumen. Er war so, wie ich jetzt werden möchte, wenn ein solches Wunder möglich wäre. In mittleren Jahren, kein Genie, keine Weltberühmtheit, einfach ein Mann, der ehrlich seine Arbeit verrichtet. Und was die Hauptsache ist, ich wollte ihm meinen ganzen Schmerz mitgeben, mit dem man einen Helden schafft und mit dem man sich dann von ihm trennt.«
 Ich versteh' ihn nicht mehr, dachte Astor unwillkürlich. Er ist selbst Schriftsteller, und sein Held ist Schriftsteller. Aber, zum Teufel, er ist doch gar kein richtiger Mensch, irgendein anderer hat ihn geschaffen, was ist das für ein Blödsinn, wie eine Matrjoschka, die Puppe in der Puppe…
 »Verzeihung, Sie nannten Ihren Namen nicht«, sagte er.
 »Ich bin ein Wirklicher Schriftsteller«, erwiderte der Alte wehmütig.
 »Das sagten Sie schon.«
 »Ich bin ein wirklicher Wirklicher Schriftsteller.«
 Was für ein Fieberwahn… Astor rieb sich die Stirn, verzog das Gesicht, als habe er Schmerzen. Und dann ging ihm ein Licht auf. Das war ein Mensch! Ein Mensch wie er selbst! Der hatte genau wie er die verbotene Grenze über schritten, um jemand zu retten. Nun waren sie zwei. Zu zweit würde ihnen schon noch etwas einfallen. Zu zweit war vielleicht etwas zu machen.
»Wie heißen Sie?« fragte er erregt.
»Kastor Elamit«, sagte der Alte.
 Astor stand auf. Langsam setzte er sein Bein über den Baumstamm zurück, blickte auf seine Hände und verbarg sie in den Taschen. Es kam ihm vor, als krieche der rauchige Dunst der Mauer hinter den Bäumen hervor und auf ihn und den Alten zu.
 »Ja«, sagte Astor. »Ja… Das ist eine sehr komische… Übereinstimmung.«
 Der Alte schwieg.
 »Sie sind Kastor Elamit… Ja. Aber wer bin ich dann?«
 Der Alte antwortete wieder nicht.
 »Und woher komme ich?«
 Der Alte sah schweigend auf die graue Mauer, die sich in den Wolken verlor. Hinter dieser Mauer wuchsen Bäume, die nur zur Hälfte existierten. Nein, sie wuchsen nicht. Sie standen einfach da, diese Attrappen. Wachsen kann nur, was lebt. Es bedurfte keiner Beweise, keiner Erklärung. Man brauchte sich nur an diese Baumhälften zu erinnern, um zu begreifen. Das Studio war dort, hinter der Mauer. Und dies hier, das war die Welt der Menschen.
 »Sie möchten, daß ich mir selbst antworte? Gut. Ich bin ein Bioroboter. Ein Anthropoid ohne Rückkopplung, geschaffen nach dem Bilde und Willen des Autors. Genau so, wie ich selbst meinen Stor schuf. Etwas jünger und etwas besser. Stimmt's? Und Ihr Name, den Sie um einen Buchstaben kürzten…«
 Trotzdem war das unglaublich. Besonders, wenn es laut ausgesprochen wurde. Der Gedanke, man sei nur ein Roboter, war schrecklich. Aber laut ausgesprochen, wurde er einfach Blödsinn, man mußte nur sprechen, sprechen und wieder sprechen, damit sich im Klange der Worte ihre Unsinnigkeit mit höchster Klarheit herausstellte.
 »Das heißt, die Welt, in der ich bis jetzt lebte, ist eine Welt der Dekorationen, imitierten Geräusche, materialisierten Gestalten? Eine Welt der Attrappen und vorher aufgenommener Hintergrundfilme? Eine Welt nichtexistenter Entfernungen und Höhen? Eine Welt der niemals wirklich erlebten Kindheit, einer für mich erfundenen Liebe?«
 Er stockte. Rika. Seine Rika und die Unmöglichkeit, auch nur einen Tag zu leben, ohne sie zu sehen…
 »Heißt das, auch Rika war nicht wirklich?« flüsterte er.
 »Ja«, sagte der Alte. »Ich gab dir, wovon ich selbst träumte, ganz egal, was für eine, Hauptsache eine junge, ganz junge, unwahrscheinlich junge, und nichts weiter, nur sehen, einmal am Tag sehen.«
 »Ach so.« Astors Stimme klang ruhig, erstaunlich ruhig. »Einmal am Tag sehen. Auch das war also von Ihnen. Nichts war mein. Ja, natürlich. Jetzt wird es mir klar. Die fremden Worte. Ich sagte ihr fremde, dumme Worte. Aber was war denn mein eigenes? Wenigstens irgend etwas?«
 »Astor«, sagte der Alte, und es hörte sich an wie »Astor, mein Kind«, »von dem Augenblick an, als du von dort herauskamst, hörtest du auf, mein zu sein.«
 »Ich danke«, stieß Astor hervor. »Ich danke für die fünf zehn Minuten unabhängigen Zustand, die mir nicht einmal dazu ausreichen, ich selbst zu werden. Wozu haben Sie das nur getan? Sie wußten doch besser als sonst jemand, daß das Verschwinden eines Bioroboters nicht unbemerkt bleiben kann, selbst wenn es ihm durch irgendein Wunder gelungen ist, in die Welt der Menschen einzudringen. Man wird mich suchen und, so glaube ich, ohne besondere Mühe finden, und was dann? Dematerialisation an Ort und Stelle, ohne Gericht und Untersuchung? Oder wie verfahrt man hier bei euch Menschen mit Robotern, die ihre Willensfreiheit gewonnen haben?«
 »Nicht doch, so darfst du nicht reden, Astor«, bat der Alte.
 »Verzeihen Sie«, sagte Astor. »Es ist nur die Neugier. Ich werde ohnehin zurückkehren müssen, morgen findet das Experiment statt, mein letztes Experiment, das Sie erdacht haben, an dem ich aber teilnehmen muß. Ist es nicht so?«
 »Ja.« Der Alte nickte, »Morgen wird es stattfinden. Bevor ich hierherkam, habe ich das Buch beendet.«
 »Danke. Ich werde mich bemühen, möglichst echt zu sein.«
 »Spiele nicht den Helden, mein Junge. Versuche nicht, besser zu scheinen als ich. Es genügt, daß du jünger bist.«
 »Besser.« Astor lachte bitter auf. »Warum zum Teufel mußten. Sie mich auf diese Seite der Mauer herauszerren? Hätte doch geschehen sollen, was Ihrem Willen zufolge morgen geschehen wird, aber wozu mußte ich erfahren, daß ich, wie das bei ihnen, den Wirklichen Schriftstellern, heißt, nur ein szenischer Bioroboter, ein ferngesteuerter Anthropoid bin?«
 »Ja, das war anscheinend unvermeidlich«, sagte der alte Mann leise, als spreche er nur zu sich. »Ich habe in dich nicht nur die eigene Seele hineingelegt, sondern auch all das, was mir, wie ich glaubte, zur absoluten Vollkommenheit fehlte; trotzdem bist du irgendwie kleinmütiger, schwächer als ich.«
 »Verzeihung«, warf Astor kalt ein. »Ich muß in meinen morgigen Tag. Erlauben Sie mir, wenn das möglich ist, noch ein wenig… ich selbst zu sein.«
 »Mein Junge«, der Alte erhob sich mühsam und stellte sich neben Astor, »du vergißt, daß die Zeit der…«, er stockte einen Moment, »derjenigen, die sich hinter dieser Mauer befinden, schneller als die Zeit der Menschen läuft. Der morgige Tag des Astor Elamit soll in zwanzig Minuten beginnen.«
 »Na eben«, sagte Astor. »Ich muß mich beeilen. Muß ich im Institut sein?«
 »Ja, natürlich.« Der Alte lächelte schmerzlich. »Das war der einfachste Schluß.«
 »Die Schutzvorrichtung ist zu schwach?«
»So ist es, mein Junge.«
 »Zerstrahlung also. Ziemlich banal, finde ich. Sie sind Physiker, wenn ich mich nicht irre?«
 »Ich hatte keine Zeit für etwas anderes, Astor. Du weißt, daß ein Wirklicher Schriftsteller nicht das Recht hat, sein Buch unvollendet zu hinterlassen. Und ich… ich bin sehr alt und krank, nun ist die Zeit gekommen, wo der Kyberanalysator kein einziges Mittel mehr gefunden hat, die Entwicklung der Krankheit aufzuhalten. Ich mußte zu dir kommen, solange ich noch die Kraft dazu hatte. Ich mußte dein Schicksal entscheiden, und ich habe es getan. Leb wohl, mein Junge.«
 Er hob seine kleinen, leichten Hände und legte sie Astor mit einiger Feierlichkeit auf die Schultern. Kurze Zeit standen sie einander so gegenüber, dann ergriff Astor behutsam diese Hände, drückte sie sacht, als fürchte er, dem alten Mann Schmerz zuzufügen, und ließ sie herabfallen.
 »Nun denn, ich gehe«, sagte er.
 »Du hast mich immer noch nicht verstanden, mein Junge. Dorthin werde ich gehen.«
 »Wohin?« fragte Astor verwirrt.
 Der Alte lächelte, als wollte er sagen: ›Dorthin, mein Kind‹, und ging los, auf die Mauer zu, die sich als rauchiger Dunst hinter den letzten Bäumen in den Himmel reckte.
 »Nein«, sagte Astor und versperrte ihm den Weg. »Nein, nein.«
 Der Alte trat dicht an ihn heran, und Astor packte ihn an den Schultern.
 »Es bleiben weniger als zwanzig Minuten«, sagte der alte Mann ruhig. »Ich bin nicht einfach Physiker, ich bin einer von denen, die das Studio des Schriftstellerverbandes geschaffen haben, die die Mauer errichtet und die Studioroboter programmiert haben. Das machte es mir möglich, die Fokussierung der Aufnahme- und der Beobachtungsapparatur für kurze Zeit zu stören. Dadurch konntest du herauskommen, und wenn ich an deiner Stelle dorthin zurückkehre, wird das unbemerkt bleiben. Doch der Gesamtverlauf meines Buches ist bereits diktiert, er kann nicht mehr verändert werden. Jemand muß zurückkehren und zu Ende spielen.«
 »Das werde ich tun«, beharrte Astor. »Zwingen Sie mich bitte nicht, Gewalt anzuwenden.«
 »Ja, ich habe dich jünger und stärker gemacht, als ich bin.« Der Alte warf den Kopf in den Nacken und sah Astor direkt in die Augen. »Aber ich bin ein Mensch, und du kannst dich mir nicht in den Weg stellen.«
 Er schob Astors Hände von sich und ging auf die Mauer zu, bemüht, sich möglichst gerade zu halten. Astor sah ihm hinterher, wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren, seine Gedanken verwirrten sich, verhedderten sich, wurden zu einer amorphen Masse, und aus dieser Masse vermochte sich der eine, gesuchte und nötige Gedanke nicht herauszukristallisieren, der allein ihm das Recht gegeben hätte; den Allen aufzuhalten. Doch Astor fühlte mit seiner ganzen Existenz, daß er dieses Recht besaß, nur die Begründung entglitt ihm, und schon hatte der Alte die letzte Baumreihe erreicht, blickte sich um und sagte laut »Leb wohl, Astor Elamit!«
 Da erinnerte sich Astor.
 »Halt!« rief er und rannte zu dem Alten. »Ich kann Sie nicht an meiner Stelle gehen lassen. Ich habe doch meinen Stor.«
 Der Alte sah ihn verwundert an.
 »Jetzt verstehe ich, weshalb ich ihn hier nicht traf«, fuhr Astor fort. »Das ist hier die Welt der Menschen, und er ist nur ein Bioroboter. Das heißt, er ist dort, auf dem Studiogelände, und ich werde dorthin zurückkehren, um ihn zu finden. Denn er ist das einzige, was ich habe.«
 »Nein«, erwiderte der Alte. »Dein Stor gehört dir nicht. Er ist auch mein, genau wie die Kindheit, an die du dich erinnerst, die Gesetze der Physik, die du anwendest, genau wie die Notwendigkeit, Rika zu sehen. Er gehört dir nicht.«
 »Richtig. Sie haben alles erfunden. Sogar Stor. Ihnen gehorchend, spielte ich den Wirklichen Schriftsteller und schuf lebende Menschen. Aber mein war der Schmerz um ihn. Der Schmerz gehört nicht dem, der schafft, sondern dem, der verliert.«
 »Du kennst nur den Nachhall jenes Schmerzes, den ich litt, wenn ich an dich dachte.«
 »Zum Teufel mit ihm, wenn er nicht mein ist! Nehmen Sie altes für sich! Alles! Zum Feilschen bleibt keine Zeit. Aber das, was sein wird, die wenigen Minuten, die bis zur Explosion bleiben, die sind mein, denn wenn Sie dorthin gehen, was werden Sie für Stor tun?«
 »Nichts«, erwiderte der Alte ruhig.
 »Aber ich werde es tun! Alles, was ich kann. Ich werde ihn finden.«
 »Du wirst ihn nicht finden, weil er gar nicht existiert. Der Unterschied zwischen dir und ihm liegt darin, daß du ein materialisierter Held bist, er aber nicht. Ihn gibt es nur auf dem Papier und in deiner Vorstellung.«
 »Ach so«, sagte Astor nachdenklich. »Die letzte Matrjoschka war leer. Innen war nichts. Aber wie soll man in dieser Welt, wie überhaupt in irgendeiner Welt leben, wenn innen nichts ist?«
 »Mein Junge, es ist noch keine Stunde vergangen, seit du ein richtiger Mensch wurdest. Aber alles, was du seitdem erlebt hast, ist schon dein. Und alles, was sein wird, wenn ich gegangen bin, wird auch dein eigen sein. Ich hinterlasse dir meinen Namen und mein Recht, das Studio des Verbandes zu benutzen. Noch hast du keinen eigenen Stor. Aber du kannst ihn schaffen.«
 Astor schwieg erschüttert.
 »Wenn du diesen deinen Stor jedoch retten willst, dann präg dir ein: Szenische Bioroboter können die Grenze nicht überschreiten, um in die Welt der Menschen zu gelangen. Die Kyberkorrektoren, die das gesamte Material, das im Studio eintrifft, überprüfen, lassen einen solchen Befehl nicht durchgehen. Selbst wenn sie ihn durch irgendein Versehen passieren ließen, so könnte kein Bioroboter einen solchen Befehl empfangen und ihm nachkommen. So sind sie programmiert.«
 »Und ich?« murmelte Astor verwirrt.
 »Erinnere dich, wohin du gingst. Du wolltest nicht in die Welt der Menschen, sondern in die Welt der erfundenen Helden. Du solltest dich nicht mit deinem Schöpfer, sondern mit deinem Geschöpf treffen. Hätten Menschen den Text meiner letzten Sendung kontrolliert, sie hätten meinen Trick wohl durchschaut. Die Kyber konnte ich anführen. Merk dir diesen einzigen Ausweg, ich fand ihn nur, weil ich die Abgrenzungszone des Studios seinerzeit selbst projektiert und geschaffen habe. Für einen Menschen ist es sinnlos, diese Grenze zu überschreiten. Die Aufsichtskyber verhindern eine Begegnung mit den Biorobotern. Präg dir diese einzige Variante ein. Die Fokussierung kannst du stören, denn ich habe dir alles Wissen gegeben, über das ich selbst verfügte du warst ja tagsüber auch nur Physiker.«
 Astor nickte.
 »Und beeile dich nicht. Pfusche nicht. Fühl dich nicht verpflichtet. Forme deinen Stor nur aus Liebe und Leid. Das sind die einzigen reinen Komponenten, alles übrige ist unecht. Lieb ihn nicht nur, weil er dein Werk ist. Er muß es wert sein, herausgeholt zu werden. Und wenn du merkst, daß er das wirklich verdient – du weißt, wie du ihn retten kannst.«
 Eine Zeitlang noch standen sie sich schweigend gegenüber und sahen einander an. Dann trat der Alte einen Schritt zurück und verschwand im Dunstkörper der Mauer.
 Astor wartete. Die geheimnisvollen Geräusche des abendlichen Waldes kreisten ihn ein, und er strengte alle Sinne an, um zu vernehmen, was sich auf der anderen Seite tat. Nichts drang von dort herüber. Astor wartete immer noch. Eine seltsame Erinnerung tauchte aus dem Unterbewußtsein herauf: Auf der anderen Seite hatte der Wald niemals gerauscht… Er schwankte, als habe ihm diese Erinnerung einen sanften Stoß versetzt, und ging davon, ging immer schneller und schneller, ohne sich umzublicken, weil er sich diesen Ort schon für sein ganzes menschliches Leben eingeprägt hatte, um ihn sofort und unfehlbar wiederzufinden, wenn die Zeit kommen würde, hierher zurückzukehren.