Gennadi Gor
Der elektronische Melmoth
Über all das können sich die
Menschen, die von den Gesetzen
der Zeit, des Ortes und der Di
stanz gefesselt sind, nur schwer
eine Vorstellung machen.
Honoré de Balzac
Menschen, die von den Gesetzen
der Zeit, des Ortes und der Di
stanz gefesselt sind, nur schwer
eine Vorstellung machen.
Honoré de Balzac
1
Das Klingeln des Telefons schreckt mich aus dem
Schlaf.
»Wer ist da?« rufe ich ärgerlich in die Muschel.
Eine zärtliche Frauenstimme fragt: »Erkennst du mich
denn nicht?«
»Nein.«
»Aber ich habe dich sofort erkannt, obwohl ich deine
Stimme seit dem vorletzten Jahr nicht mehr gehört habe.«
»Sie können meine Stimme im vorletzten Jahr gar nicht
gehört haben.«
»Warum nicht, mein Lieber?«
Ich schweige.
»Warum nicht, mein Lieber?« wiederholt sie.
»Weil ich damals noch gar nicht existiert
habe.«
»Du scherzt wohl? Bist du etwa noch keine zwei Jahre
alt? Erklär mir das! Und erkläre mir außerdem, warum du
mich
»Für Erklärungen ist die Zeit noch nicht gekommen.«
Meine Worte klingen trocken, wenig überzeugend, ja
herzlos; doch was soll ich tun? Am besten den Hörer auflegen, und
ich tue es.
Das Mädchen hält mich offensichtlich für jemand anders.
Sie hat meine Stimme im vorletzten Jahr überhaupt nicht hören
können. Ich bin vor genau acht Monaten auf diese Welt gekommen. Wer
bin ich? Niemand weiß es. Alle denken, ich sei Nikolai Larionow,
der Mann mit dem merkwürdigen Gesichtsausdruck. Niemandem ist in
den Sinn gekommen, daß ich überhaupt kein Mensch bin und daß unter
dem Namen Nikolai Larionow ein Wesen existiert, das keinen einzigen
Verwandten auf der Erde hat, weder unter den Lebenden noch unter
den Toten.
Familie! Wenn ich dieses Wort höre, werde ich geradezu
elektrisiert. Jeder, der hier lebt, hat entweder Eltern und
Großeltern oder sonst irgendwelche Verwandte unter den
Zeitgenossen, jeder hat irgend etwas geerbt und setzt irgend etwas
fort. Unter den Milliarden Menschen, die die Erde bevölkern, bin
ich allein frei von jeglicher Erdentradition.
Frühmorgens erwache ich in meinem Hotelzimmer, dann
liege ich da und denke nach. Worüber? Immer über das gleiche. Ich
hänge meinen Erinnerungen nach. Manchmal möchte ich alles vergessen
und mit dem Gefühl aufwachen, als sei ich gerade geboren. Es ist
beinahe, als beneidete ich Fuatu-Muatu, das künstliche Geschöpf,
das im Laboratorium des großen Physiologen und Kybernetikers Eron
des Jüngeren konstruiert worden ist.
Fuatu-Muatu lebt mitten unter den Menschen. Er lebt ohne
Vergangenheit. Er besitzt nichts, woran er sich erinnern könnte. Er
hat zwar einen Namen, aber weder Jugend noch Kindheit. Er wird
untersucht. Schließlich ist er ja auch für alle möglichen
Untersuchungen und Beobachtungen angefertigt worden. Er lebt wie im
Glaskasten.
Nein, ich bin nicht Fuatu-Muatu! Ich besitze genügend
Erinnerungen. In meinem Gedächtnis sind Tatsachen gespeichert, die
mehr als zweihundert Jahre zurückliegen. Zum Beispiel eine
Begegnung mit Immanuel Kant in Königsberg, außerdem ein Aufenthalt
in dem Sankt Petersburg des XVIII. Jahrhunderts. Niemand weiß, daß
ich so alt bin.
Das Schicksal hat mich, um mich einmal in der dunklen
Sprache der Alten auszudrücken, in sonderbare Umstände versetzt.
Ich lebe unter den Menschen, ohne zu ihnen zu gehören. Im XVIII.
Jahrhundert war das weit einfacher. Ich konnte mich als Graf
Cagliostro, den angeblichen Magier und zweifelhaften Zauberer, und
schließlich auch als den Teufel selbst ausgeben. Jetzt muß ich mich
verstecken und schweigen. Ich schiebe Tag und Stunde meines
Geständnisses hinaus, da ich in die Redaktion einer großen
Tageszeitung oder ins Fernsehstudio gehen und sagen werde: »Ich bin
ein anderer. Zu einem Wesen aus einer anderen Welt paßt wohl kaum
der irdische Name Nikolai. Raurbef! So hieß ich dort, jenseits
eures Sonnensystems.«
Ich schiebe diesen Tag hinaus, denn ich sehe bereits,
was dem Geständnis folgen wird. Ich liebe keine Sensationen.
Deshalb lebe ich unter dem Namen Nikolai Larionow. Im XVIII.
Jahrhundert, als ich zum erstenmal die Erde besuchte, mußte ich das
Zeichen verbergen, das mich unverkennbar von den Menschen
unterschied: meinen Mund. Eine erfolgreiche plastische Operation
hat diesen Unterschied jetzt beseitigt. Und an den merkwürdigen
Gesichtsausdruck kann man sich gewöhnen.
Niemand von den Studenten, die mit mir an der
Leningrader Universität studieren, vermutet, daß ich in meinem
Bewußtsein an Raum und Zeit so viel mit mir herumtrage, wie es die
innere Welt des Menschen gar nicht zu beherbergen imstande ist.
Niemand errät, daß mit meinen Augen eine andere Welt, ein fremder
Planet, auf sie schaut und sich in einem fort wundert.
Auch Fuatu-Muatu wundert sich, jenes Geschöpf ohne
Vergangenheit und Gegenwart, jenes Modell von Verstand und
Gefühlen, die angestrengt arbeiten und dennoch nicht imstande sind,
einen Kontakt zwischen sich und den anderen herzustellen.
»Nein, ich bin kein Fuatu-Muatu!« flüstere ich oft vor
mich hin.
Und warum nicht? Weil ich fühle, daß mich die Empfindung
seltsamer und unbekannter Dinge von den Menschen unterscheidet,
unter denen ich lebe.
»Nein, ich bin nicht Fuatu-Muatu!« sage ich mir. Warum
nicht? Ich bin keineswegs so ganz davon überzeugt. Manchmal scheint
mir, daß ich eine künstliche Schöpfung, das Modell eines lebenden
Wesens bin, womit die Wissenschaftler das Unrealisierbare zu
verwirklichen suchen, nämlich mit Hilfe einer Person zwei Welten zu
verbinden, die Erde und die Dilnea.
Habe ich Heimweh nach meinem Planeten? Ja, ich leugne es
nicht, ich sehne mich nach ihm. Und wenn ich mich in meiner
Muttersprache unterhalten mochte, öffne ich ein Etui und nehme ein
Klümpchen Materie heraus, das die innere Welt der abwesenden Eroja
beherbergt.
»Eroja«, frage ich, »hörst du mich?«
»Ich höre«, antwortet die Materie, die sich
augenblicklich in ein Wesen verwandelt, in Gedanken, in Klang, in
Leben.
»Hast du geschlafen oder gewacht?«
»Weshalb fragst du mich danach? Du weißt, daß ich warte,
stets warte. Ich warte, wenn ich schlafe, und warte, wenn ich wach
bin.«
»Worauf wartest du denn?«
»Ich warte, daß du mit mir sprichst. Aber du sprichst
jetzt so selten mit mir. Erzähle mir von dem Planeten
hier!«
»Ein andermal.«
»Warum schiebst du es immer hinaus?«
»Ich weiß nicht, meine Liebe. Ich fürchte, daß ich dir
und mir selbst etwas vormache. Ich weiß noch sehr wenig von diesem
Planeten. Und außerdem mag ich mit dir nicht darüber sprechen, was
hier los ist. Du hilfst mir, mich zu erinnern.«
»Ich weiß. Doch deine Worte tun mir weh. Existiere ich
etwa nur in der Vergangenheit? Gibt es mich denn jetzt gar nicht
mehr?«
Ich hülle mich in Schweigen. Was soll ich ihr sagen? Sie
ist doch hier und gleichzeitig weit fort. Ihr Sein, festgehalten in
diesem Kristallstückchen, weiß nicht, was »hier« und »jetzt«
bedeuten. Doch es lohnt nicht, sie daran zu erinnern. Wozu? Sie ist
ja so leicht gekränkt.
Wenn unser Gespräch zu Ende ist, stecke ich sie wieder
in das Etui, das ich so weit wie möglich weglege, damit es nicht
der Reinemachefrau unter die Augen gerät, wenn sie das Zimmer
saubermachen kommt.
2
Fuatu-Muatu lebt unter lauter sprechenden Dingen.
Die Tür gesteht ihm: »Verzeih. Ich war so unvorsichtig,
dir fast den Finger zu quetschen.«
Der Tisch streitet sich abends mit ihm herum: »Unsinn!
Ich weiß das besser. Ich bin der Natur näher. Ich bin aus Brettern
gemacht, die man aus einem lebenden Bäum herausgesägt hat, aber du
bestehst nur aus synthetischem Material.«
Als die Wissenschaftler Fuatu-Muatu konstruiert hatten,
waren sie bemüht, ihm eine entsprechende Umgebung zu geben. Zu
seiner Welt wählten sie den Traum, doch früher oder später würden
sie ihn wecken müssen.
Mir scheint es auch manchmal, als träumte ich. Das
Fenster sagt zu mir: »Ich bin das Fenster! Schau, welch ein
durchsichtiges Blau. Und die Ferne! Was kann lockender sein als die
Ferne!«
Die Ferne! Mit diesem Begriff war ich vertraut wie
niemand sonst. Ferne, Raum… Über dieses Thema habe ich mich mit
Kant in seinem Arbeitszimmer unterhalten, und der Sekretär des
Philosophen, Herr Jachmann, wartete darauf, wann wohl unser
ausgedehntes Gespräch zu Ende gehen würde. Kant war vor allem über
zwei Erscheinungen erstaunt: über den gestirnten Himmel über uns
und das moralische Gesetz in uns. Ich aber wunderte mich über die
Ferne, über die Unendlichkeit des Raumes. Und über den Raum wußte
ich weit mehr als Herr Jachmann und als Kant. Und über die Zeit
ebenfalls. Doch über meine persönliche Bekanntschaft mit Kant muß
ich noch schweigen.
Einmal habe ich mich versprochen. Das war während eines
Seminars über die Geschichte der Philosophie. Ich führte an, was
Kant damals in seinem Arbeitszimmer ganz leise gesagt hatte, damit
Herr Jachmann es nicht hörte. Professor Matwejew, ein großer Kenner
der deutschen klassischen Philosophie, unterbrach mich: »Das hat
Kant nicht gesagt!«
»Sie sprechen so überzeugt«, antwortete ich, »als ob Sie
an unserem Gespräch teilgenommen hätten.«
Der Professor sah mich völlig verständnislos an.
»Erlauben Sie mal, wie sollte er mit Ihnen gesprochen haben? Sind
Sie noch bei Sinnen?«
Ich schwieg, obwohl ich leicht hätte beweisen können,
daß ich Kant begegnet war. Die Zeit dazu war noch nicht gekommen.
Das war alles.
»Entschuldigen Sie«, murmelte ich, »ich habe mich
versprochen.«
»Das kommt vor«, sagte der Professor und nickte
herablassend.
Die Ferne und das Blau! Nur durch die Fenster des Hotels
sieht die Erde so zahm und friedlich aus. Dazu die Gipfel der
Bäume. Und die Wolken! Aber dort, wo weder Bäume noch Wolken sind,
im unendlichen Vakuum des Weltalls, dort ist eine ganz andere
Ferne. Und auch sie lebt in meinem Bewußtsein.
Ich sitze am Schreibtisch und lese die Erzählungen von
Tschechow. Tschechow ist interessant, er zieht mich an und stößt
mich gleichzeitig ab. In den Menschen und Ereignissen, die er
schildert, gibt es etwas, was ich nicht verstehe. Das Leben bei ihm
gleicht einem Labyrinth, worin die Menschen umherirren; sie suchen
keinen Ausweg, sondern etwas noch Verworreneres als ein Labyrinth.
War das Leben gegen Ausgang des XIX. Jahrhunderts wirklich
so?
Jemand klopft an die Tür.
»Herein«, rufe ich.
Einige Studenten aus meinem Studienjahr kommen
herein.
»Kolja!« rufen sie im Chor. »Los, mach dich fertig, komm
mit!«
»Wohin?«
»Hast du das vergessen? Komischer Kauz! Heute spielt
›Spartak‹ gegen Guinea. Na, mach schon! Sonst kommen wir zu
spät.«
3
Seit es keine Grenzen mehr auf Erden gibt, gibt es auch keine
Personalausweise mehr, die über Geburtsdatum und Geburtsort etwas
aussagen.
Die ganze Menschheit ist eine große Familie, und niemand
trägt ein Papierchen mit Stempeln bei sich.
Ich trage in meiner Tasche einen Gegenstand kleineren
Ausmaßes, der besser als jegliches Dokument bezeugen könnte, daß
ich nicht auf der Erde geboren bin. Es ist eine kluge, logische
Maschine, ein linguistischer Apparat, geeignet, mich augenblicklich
mit jedem beliebigen Erdendialekt, mit jeder beliebigen Art, zu
denken und zu sprechen, vertraut zu machen.
Doch diesen Gegenstand zeige ich niemandem, obwohl es
mich manchmal lockt, der beflissenen Alten, unserer
Englischlehrerin, zu sagen: »Sehen Sie, mein Wörterbuch: Ja, das
ist ein Wörterbuch! Es übersetzt selbständig aus jeder beliebigen
Sprache.«
Aber ich schweige, ich schweige und lächle. Es ist zu
komisch, besonders wenn mich die Lehrerin für meine Erfolge
lobt.
»Larionow«, sagt sie, »hat seinen Aufsatz ohne einen
einzigen Fehler geschrieben.«
Ich grinse. Und mit der Hand berühre ich den
linguistischen Apparat, der in der Seitentasche meines Jacketts
steckt. Die menschliche Technik wird so etwas frühestens in
fünfhundert Jahren zu konstruieren imstande sein, vorausgesetzt
natürlich, daß ich mein Geheimnis nicht enthülle. Was wird unsere
»Engländerin« wohl an dem Tage sagen, an dem ihr Beruf für
überflüssig erklärt wird?
Ich habe mir einen fremden Namen zugelegt, als ich mich
Nikolai Larionow nannte. Aber das habe ich nicht jetzt getan,
sondern vor mehr als zweihundert Jähren in Königsberg, als ich zu
Immanuel Kant ging. Damals passierte mir das Mißgeschick, daß ich
plötzlich meinen Namen vergaß, nicht den richtigen natürlich,
sondern den, den ich hier auf Erden trug. Kant achtete jedoch nicht
auf meine Verwirrung. Er war zu sehr in unser Gespräch vertieft,
ging es doch um Raum und Zeit und um den Himmel über uns, als
dessen Abgesandten ich mich ausgegeben hatte.
Manchmal kann ich nachts nicht schlafen, dann blicke ich
in den Sternenhimmel. Meine Heimat, die liebe Dilnea, befindet sich
irgendwo zwischen den zahllosen Sternen; ich suche sie, obwohl ich
weiß, daß sie nicht zu finden ist. Sie ist weit, so weit entfernt,
daß man es sich nur schwer vorzustellen vermag.
Ist es nicht verwunderlich, daß die Erde einen
Doppelgänger hat, einen Planeten, der ihr so ähnlich ist, daß es
scheint, als habe der unendliche Raum zwei Zwillingsschwestern
getrennt und eine kalte Entfremdung zwischen sie gelegt? Immer wenn
ich traurig werde, nehme ich das Klümpchen Materie, und es
unterhält sich mit mir. Dann kommt es mir so vor, als befinde sich
die Dilnea, meine ferne Heimat, in diesem Klümpchen empfindlicher
Materie.
4
Das Telefon klingelt.
»Ja, bitte.«
Abermals die zärtliche Frauenstimme: »Erkennst du mich
nicht?«
»Nein.«
»Was ist nur mit dir los, Nikolai? Warum erkennst du
mich nicht? Ich bin Vera! Vera Wassiljewa!«
Qualvoll strenge ich mein Gedächtnis an, ich versuche,
mich an alle Menschen zu erinnern, die ich während der sieben
Monate meines Aufenthaltes auf der Erde kennengelernt habe. Vera
Wassiljewa? Nein, ich kann mich nicht erinnern.
»Ich bin Vera! Vera!« sagt die Frauenstimme
eindringlich. »Du kannst mich nicht vergessen haben, wir müssen uns
unbedingt sehen. Warum schweigst du?«
»Ich weiß nicht«, antworte ich unsicher. »Ich erinnere
mich an alle meine Bekannten…«
»Wir müssen uns sehen«, drängt die Frauenstimme. »Es muß
sein. Ich bin hier in der Nähe. Komm herunter. Ich werde in der
Hotelhalle am Zeitungskiosk auf dich warten.«
»Gut, ich komme.«
Ich lege den Schlafanzug ab und ziehe mir einen Anzug
an. Meine Hände fliegen. Wozu habe ich dieses Versprechen nur
gegeben? Aber irgendwann muß das ja geklärt werden. Offenbar habe
ich einen Namensvetter, dessen Stimme der meinen ähnlich
ist.
Drei Minuten später bin ich unten in der Halle. Neben
dem Zeitungskiosk steht ein Mädchen. Sie sieht mich lächelnd
an.
»Erkennst du mich jetzt?« fragt sie.
»Nein.«
»Ich kann mich in den anderthalb Jahren doch nicht so
verändert haben. Du scherzt wohl, Nikolai?«
»Nein, ich scherze nicht.«
Jetzt fange ich schon an, mich zu wundern.
»Ich heiße Nikolai Larionow.«
»Ich weiß. Aber wenn du wirklich Nikolai Larionow bist,
dann kannst du Vera nicht vergessen haben. Bist du gesund, mein
Lieber?«
Die Augen des unbekannten Mädchens schauen mich besorgt
an. Angst und Hoffnung sind in ihnen zu lesen.
»Wie ist denn das nur möglich? Es sind doch erst
anderthalb Jahre vergangen, seit wir uns gesehen haben. Ich bin
damals in die Antarktis geflogen, und du hast mich zum Flugplatz
begleitet. Das ist vor anderthalb Jahren gewesen, aber du, Kolja,
schaust mich an, als ob du mich zum ersten Male siehst.«
»Zum ersten Male? So ist es auch. Vor anderthalb Jahren
bin ich noch gar nicht hier gewesen.«
»Aber wo warst du denn?«
Ich fühle, daß ich um die Antwort nicht herumkomme, daß
ich mich davor nicht werde drücken können. Vor diesem Mädchen kann
ich die Wahrheit nicht verbergen.
»Vor anderthalb Jahren war ich weit weg von
hier.«
»Wo?« fragt sie leise.
»In der Gegend des Saturns«, antworte ich ebenso
leise.
Das Mädchen wird blaß. Ich weiß nicht, aus welchem
Grunde. Aus ihrem Gesicht ist alle Farbe gewichen. Dann geht sie.
Langsam und ohne sich umzusehen, so, als sei es rings um sie ganz
dunkel geworden. Wahrscheinlich denkt sie, ich sei geistesgestört.
Ich will und kann mich ihr gegenüber nicht näher erklären. Dafür
ist die Zeit noch nicht gekommen. Wie gern würde ich ihr nachrufen:
Komm zurück! Geh nicht fort! Das Wichtigste habe ich dir doch noch
gar nicht gesagt…
Aber nein, vom Wichtigsten darf keine Rede
sein.
Wieder in meinem Zimmer, gehe ich lange auf und ab. Also
habe ich einen Doppelgänger. Schließlich hat das Mädchen nicht
daran gezweifelt, daß sie mich kennt. Eine dumme Lage. Verteufelt
dumm und idiotisch. Und ich kann mich mit niemandem beraten, außer
mit Eroja.
Ich nehme das Klümpchen Materie aus dem Futteral und
frage: »Na, wie stehn die Dinge, Eroja?«
»Deine Frage«, antwortet sie, »hat rein rhetorischen
Charakter. Ich lebe nicht für Dinge, lebe nicht, um irgend etwas zu
tun.«
»Verzeih«, sage ich, »ich möchte mich mit dir
beraten.«
»Worüber?«
»Eine dumme Geschichte. Ich habe eben mit einem
irdischen Mädchen gesprochen, und sie behauptet, mich zu
kennen.«
»Scherzt sie?«
»Nein, sie spricht im Ernst.«
»Bring sie her. Ich erkläre ihr alles. Ich erzähle ihr
von der Dilnea, wo du geboren bist. Mir wird sie hoffentlich
glauben.«
»Dir? Ja. Dir glaubt sie bestimmt.«
5
An der Wand hängt ein Anschlag. Er weist darauf hin, daß heute
eine öffentliche Lektion gehalten wird über das Thema »Das denkende
Wesen auf anderen Planeten«.
Ich will dort hingehen. Warum? Etwa um den Lektor der
Unkenntnis zu überführen? Nein. Ich möchte einfach die Phantasie
mit der Wirklichkeit, die Erfindung mit den Tatsachen vergleichen.
Und außerdem möchte ich das verführerische und starke Gefühl der
Versuchung erleben, wogegen ich mit aller Willenskraft werde
ankämpfen müssen. Plötzlich aber werde ich die Probe nicht länger
bestehen, sondern mich erheben und sagen: »Sie irren sich, lieber
Professor. Das denkende Geschöpf auf anderen Planeten muß
keineswegs aussehen wie ein morphologisches Monstrum.«
»Und welche Beweise haben Sie dafür, junger Mann?« wird
der Lektor mit einem spöttischen Lächeln fragen.
»Welche Beweise? Nun, zum Beispiel mich selbst. Ich
hoffe, Sie sprechen mir Vernunft nicht ab? Ich bin nicht auf der
Erde geboren.«
Nein, ungeachtet meines mehr als soliden Alters und
meiner beneidenswerten Erfahrung ist viel jugendliche Eitelkeit in
mir. Treibt sie mich etwa zu dieser Lektion?
Der Saal ist zum Bersten voll. Mit großer Mühe gelingt
es mir, einen freien Platz zu finden. Links von mir sitzt ein Alter
von etwa achtzig Jahren, rechts eine Studentin. Der Alte streicht
seinen flaumigen, schneeweißen Bart und schaut mich herablassend
an. Ich denke so bei mir: Ach, Großvater, du bist um einige hundert
Jahre jünger als ich, sei nicht so stolz auf deinen
patriarchalischen Bart.
Aus den Augen der Studentin spricht der ungeduldige
Wunsch, in das Unbekannte einzudringen.
Der Lektor steht schon auf dem Podium. Er hat ein
kluges, aber kein gutes Gesicht, eher das Gesicht eines
Schauspielers als das eines Gelehrten. Er trägt den besonderen,
eigentlich nur Schauspielern eigenen Ausdruck der Wichtigkeit und
Selbstsicherheit zur Schau, den ich oftmals auf der Erde und auch
zu Hause auf der Dilnea beobachtet habe. Er spricht mit Eleganz und
beherrscht spielend die Diktion und die Kraft seiner ungezwungenen
Stimme. In ihr aber und in der Art, wie er die Worte ausspricht,
ist die Nuance einer gewissen Trägheit und verdeckten Müdigkeit zu
spüren, als ob ihn der Kosmos und das Problem des Lebens auf
anderen Planeten (womit er längst auf du und du steht) etwas
langweilten, wie den Schauspieler das fremde Leben langweilt, das
er zum hundertsten oder tausendsten Male auf der gleichen Bühne
darstellt.
Er spricht über Biopolymere und darüber, daß das Weltall
zu Wiederholungen neigt, schon deshalb, weil es so viel Zeit und
Raum zur Verfügung hat. Diese Bemerkung zeugt davon, daß er sich
und seinen Zuhörern nicht mit naivem Enthusiasmus einheizen,
sondern ihnen zu verstehen geben will, daß es derjenige, der sich
für das Problem wirklich interessiert, mit der monotonen
Unendlichkeit zu tun hat. Das Wort »Unendlichkeit« spricht er so
elegant und leichthin aus, als wolle er durch die Modulation und
Intonation seiner Stimme seinen etwas unheimlichen Sinn verändern,
ihn harmloser und annehmbarer machen. Das macht nicht nur auf den
achtzigjährigen Alten und die Studentin einen starken Eindruck,
sondern, ich verhehle es nicht, sogar auf mich, der ich von der
Unendlichkeit eine viel konkretere Vorstellung habe als der
Lektor.
Da ist nichts dran auszusetzen, er kann was, denke ich.
Dennoch weißt du über vernunftbegabte Wesen anderer Planeten nur
wenig mehr als dieser vertrauensselige Alte, mein Lieber!
Aber im nächsten Augenblick werde ich für diesen nicht
allzu ehrerbietigen Gedanken bestraft, bestraft wie ein dummer
Junge. Der Lektor spricht wie nebenbei ein seltsames, unendlich
bekanntes, hier auf der Erde aber ganz unmögliches Wort aus. Leise,
fast flüsternd formt seine Stimme: »Dilnea…«
Plötzlich wird mir heiß, als gehe das alles nicht
wirklich vor sich, sondern als träumte ich. Dieses Wort kann er
nicht ausgesprochen haben. Außer mir und dem Stückchen formloser
Materie, das in diesem Etui steckt, weiß niemand auf der Erde von
der Existenz der Dilnea. Offenbar habe ich geträumt.
Ich neige mich zu der Studentin hinüber und frage sie:
»Hat er von der Dilnea gesprochen?«
Sie runzelt die Stirn. »Stören Sie mich nicht beim
Zuhören.«
»Verzeihen Sie… Hat er davon gesprochen oder
nicht?«
»Wovon?«
»Von dem Planeten Dilnea?«
»Nein.«
Da wende ich mich an den Alten. Er hört schlecht. Ich
schreie ihm fast in sein mit grauem Flaum zugewachsenes Ohr: »Hat
er von der Dilnea gesprochen?«
»Ja«, antwortet der Alte und lächelt.
Wohl doch nicht! denke ich. Die Studentin wird recht
haben, er hat nicht davon gesprochen.
Der Lektor spielt mit seiner Stimme und bringt die Rede
von neuem auf Polymere, Nukleinsäuren und jenes chemische
»Gedächtnis«, das der Organisation aller Lebewesen zugrunde
liegt.
Er hat nicht nur die Stimme, sondern auch die Hände
eines Schauspielers. Er hält ein Stück Kreide zwischen seinen
feinen, dünnen Fingern und schreibt eine Formel an die
Tafel.
Ich denke bei mir und flüstere es fast vor mich hin:
»Ach, deine Kenntnisse über die Tätigkeit der lebenden Zelle, deine
Angaben über das ›Molekulargedächtnis‹, mein Freundchen, die sind
seit fast fünfhundert Jahren schon veraltet.«
Und wieder bestraft er meinen Vorwitz. Ist er vielleicht
ein Telepath, der aus der Entfernung Gedanken lesen kann? Abermals
spricht er das in seinem Munde unmögliche Wort aus. Er sagt:
»Dilnea.«
Ich frage das Mädchen zum zweitenmal: »Hat er von der
Dilnea gesprochen?«
Sie schaut mich verwundert an. Dann antwortet sie
ärgerlich: »Wir wollen lieber zuhören, was der Lektor
sagt!«
Also gut. Ich höre aufmerksam zu. Wieder alte Kamellen,
hundert Jahre alte Kamellen über Biophysik und Biochemie. Ich sage
mir: Raurbef, was ist heute nur in dich gefahren? Ist die Erde
daran schuld, daß das Leben auf ihr jünger ist als auf der Dilnea?
Bleib sitzen, halt aus und hör zu, wenn du schon einmal hergekommen
bist.
Ich sehe nach dem Podium hin und gerate außer mir. Der
Lektor macht eine Pause und schaut mich an. Und dabei lächelt er.
In seinem Lächeln liegt etwas Geheimnisvolles, und die Worte, die
er dann ganz vertraulich, nicht sehr laut, aber doch deutlich
vernehmbar ausspricht, so als wende er sich nicht an den Saal,
sondern nur an mich allein, bestätigen meinen Verdacht.
»Sind Sie damit einverstanden«, fragt er plötzlich, »daß
die Bewohner der Dilnea auf eine ganz andere Art denken als wir,
die Menschen auf der Erde?«
Das Wort »Sie« hob er durch eine besondere Intonation
hervor, wodurch es einen undefinierbaren, seltsamen Sinn erhielt,
so als befänden sich entgegen den Tatsachen nur zwei Leute im Saal:
er und ich.
Aber ich schweige. Der Alte sieht mich verwundert an.
Auch die Studentin blickt mich an, als erriete sie, daß sich die
Lektion in einen Dialog zwischen dem Vortragenden und dem seltsamen
jungen Mann verwandelt hat, dessen Gesichtsausdruck so schnell und
oft wechselt.
Ich schweige und grüble beunruhigt darüber nach, woher
er die Dilnea und mich kennen kann, er ist doch nur ein Lektor.
Vielleicht ist er Telepath und liest jetzt in meinen geheimsten
Gedanken wie in einem aufgeschlagenen Buch?
Nein, das war nur ein rhetorischer Kunstgriff. Jetzt
sieht er nicht mehr mich an, sondern den neben mir sitzenden Alten.
Hat er wirklich von der Dilnea gesprochen? Das ist sehr zu
bezweifeln. An allem ist mein krankhafter Argwohn schuld.
Und trotzdem, als die Lektion zu Ende ist, nähere ich
mich dem Lektor, um den viele Menschen herumstehen, und frage ihn
leise: »Mir scheint es, als hätten Sie von der Dilnea
erzählt?«
Und er entgegnet, ohne sich im geringsten über meine
Frage zu wundern: »Das schien Ihnen nicht nur so, sondern ich habe
in der Tat von diesem fernen Planeten erzählt.«
6
Der Lektor hat natürlich Vor- und Familiennamen. Gustav
Pawlowitsch Tunjawski heißt er.
Er ist Astrobiologe und Belletrist. Zwei Berufe, wenn
man den dritten nicht rechnet, das Propagieren wissenschaftlicher
und technischer Ideen. Eine kurze Darstellung seines Lebens und
Wirkens fand ich in zwei Enzyklopädien: in der kosmischen und in
der über Literatur. Woher wußte er Bescheid über die Existenz der
Dilnea? All diese Tage denke ich unablässig über ihn nach, über
diesen rätselhaften Menschen. Ist er überhaupt ein Mensch? Menschen
können doch nichts von dem wissen, was ihre Erfahrung und die
Möglichkeiten der modernen Wissenschaft überschreitet. Doch wenn er
kein Mensch ist, was ist er dann? Stammt er ebenso von der Dilnea
wie ich? Nein, das ist ausgeschlossen. Nur mir allein ist es
gelungen, Raum und Zeit zu überwinden und die Erde zu
erreichen.
Das erstens, und zweitens hat er ein viel zu irdisches
Äußeres. Was kostet ihn nicht alles seine Manier, mit der Stimme zu
spielen und mit der Intonation zu kokettieren. Ein Dilneaner würde
seine Zuflucht niemals zu so billigen Theatertricks nehmen. Auch
sein Mund ist menschlich, Spuren einer plastischen Operation habe
ich nicht bemerkt. Woher kann er also wissen, was andere nicht
wissen?
Antwort auf diese Frage muß ich bald erhalten, und zwar
von ihm selbst. Bevor ich jedoch zu ihm gehe, muß ich mich mit
seinen Arbeiten vertraut machen. Der kybernetische Bibliograph der
Universitätsbibliothek gibt mir alle notwendigen Auskünfte. Nachdem
ich die bestellten Bücher erhalten habe, beginne ich zu lesen. Ich
zwinge mich buchstäblich dazu, Tunjawskis wissenschaftliche
Arbeiten durchzulesen. Außer einigen Faktenangaben über den Mars
und dessen Biosphäre setzt er dem Leser zweifelhafte Hypothesen und
höchst naive Betrachtungen über vernunftbegabte Wesen im Weltall
vor. Seine wissenschaftlich-phantastischen Erzählungen sind weitaus
interessanter.
Aber leider hat er zuviel geschrieben, als daß ich all
das durchlesen könnte.
Die Begegnung hinausschieben wollte ich nicht. Ich rief
ihn an.
»Larionow?« fragt er zurück. »Nikolai? Nun, was soll ich
tun, es scheint mir nichts anderes übrigzubleiben, als alles
liegenzulassen, wenn Sie so sehr darauf bestehen. Ich bin, ehrlich
gesagt, sehr beschäftigt.«
»Immanuel Kant war ebenfalls ein sehr beschäftigter
Mann, trotzdem…« Ich stutze und beende den Satz nicht, der mir nur
so entschlüpft ist.
»Kant?« fragt er. »Immanuel? Mich interessieren die
Kantschen Ideen nicht übermäßig. Ich bin ja auch kein Philosoph.
Ich hoffe, daß Sie nicht Kants wegen so auf unserer Begegnung
bestehen?«
»Nein, Immanuel…« Ich ahme die familiäre Manier meines
Geschäftspartners nach. »Immanuel Kant habe ich aus einem ganz
anderen Grund erwähnt. Er war ebenfalls sehr beschäftigt, ließ aber
alle Dinge liegen, um mich zu empfangen.«
Ich höre Lachen. »Sie sind ein sehr geistreicher
Mensch.«
»Geistreich? Das kann ich nicht beurteilen. Aber ein
Mensch bin ich nicht.«
»Was sind Sie dann?«
»Die Antwort wollen wir bis zu unserer Begegnung
hinausschieben.«
»Was sind Sie dann?«
Ich hülle mich in Schweigen.
»Nun gut«, sagt er. »Ich erwarte Sie morgen nachmittag
um vier Uhr.«
7
Ich kann mir immer noch nicht verzeihen, daß ich, ehe ich zu
Tunjawski ging, nicht all seine wissenschaftlich-phantastischen
Erzählungen gelesen habe. Dann wäre ich nicht in so eine dumme
Situation geraten. Natürlich hätte ich die Dienste des Automaten,
der den Inhalt der Bücher wiedergibt, in' Anspruch nehmen können.
Aber ich glaube ihm nicht mehr, seit ich »David Copperfield« und
die »Pickwickier« gelesen habe und sie anschließend mit der kurzen,
humorlosen Fabel verglich, die mir der Automat übermittelt hatte.
Ich erwähne Dickens' Werke nicht von ungefähr. Bei Tunjawski geriet
ich buchstäblich in das stille und idyllische XIX. Jahrhundert. Aus
einer seltsamen Laune heraus oder aus irgendeinem anderen Grunde
hatte sich der Schriftsteller und Phantast in einem alten Hause
niedergelassen, das eher einem Volkskundemuseum glich. Ich stieg
zur zweiten Etage hinauf und klingelte. Es öffnete sich eine Tür,
die nicht nur in die Wohnung, sondern auch in das Jahrhundert von
Dickens führte. Gerade als ich eintrat, begann eine altertümliche
Wanduhr zu schlagen. Sie schlug melodisch und langsam, so als zeige
sie die Zeit nicht an, sondern bringe sie zurück.
»Ah, Nikolai«, sagte Tunjawski in einem Ton, als kenne
er mich seit der Kindheit. »Setzen Sie sich. Rauchen Sie? Ich kann
Ihnen eine ausgezeichnete Havanna anbieten.«
In seinem Zimmer standen lauter alte Möbel. Ich setzte
mich in einen Sessel, der mich durch seine ungewohnte, zum
Müßiggang einladende Weichheit etwas verwirrte. An der Wand hing
ein Landschaftsbild, ebenfalls altertümlich und idyllisch, es
lockte einen gleichsam in die Vergangenheit. Ich dachte: Na, du
bist ja keineswegs der, für den ich dich gehalten habe. Du
schreibst über die Zukunft, lebst aber in der
Vergangenheit.
Tunjawski erriet meine Gedanken. Lächelnd sagte er: »In
so einer stillen, provinziellen Atmosphäre kann man besser von der
Zukunft träumen als in der Kabine eines Raumschiffes oder auf den
unterirdischen Trassen, wo alles jagt und eilt. Kühne Träume
benötigen den Kontrast.«
»Möglich«, antwortete ich.
Es trat eine Pause ein. Ich machte sie mir zunutze und
fragte: »Was wissen Sie über die Dilnea?«
Er lachte laut auf. »Viel und wenig. Doch warum
interessieren Sie sich so für einen ausgedachten
Planeten?«
»Mit demselben Recht könnte ich von der Erde behaupten,
daß sie eine Erfindung sei. Aber das würde nur derjenige für wahr
halten, der sie noch nie gesehen hat.«
»Was wollen Sie damit sagen, Nikolai? Ich verstehe Sie
nicht ganz. Die Erde kennen wir beide doch nicht aus
wissenschaftlich-phantastischen Erzählungen, von der Dilnea dagegen
haben Sie etwas erfahren, als Sie meine Erzählung ›Uära‹
lasen?«
»Uära? Haben Sie so eine Erzählung geschrieben? Die habe
ich nicht gelesen.«
Tunjawskis Gesicht drückte Unzufriedenheit aus. »Die
haben Sie nicht gelesen? Weshalb, zum Teufel, fragen Sie mich dann
nach der ausgedachten Dilnea? Alles, was ich darüber zu sagen
hatte, habe ich in meiner Erzählung gesagt.«
»Ich werde sie unbedingt lesen. Aber mich wundert, daß
Sie sie so beharrlich als ausgedacht bezeichnen!«
»Ich habe sie ausgedacht.«
»Sie behaupten da ja allerhand. Wenn man genauer darüber
nachdenkt, ist es sogar kränkend. Stellen Sie sich vor, ich komme
zu Ihnen und Sage, daß ich mir die Erde ausgedacht habe,
wahrscheinlich würden Sie böse auf mich sein.«
»Auf der Erde bin ich geboren. Hier lebe ich.«
»Und ich bin auf der Dilnea geboren. Wie gefällt Ihnen
das?«
Er lachte, aber diesmal ehrlich, ohne Pose.
»Das gefällt mir. Und wieso? Es schmeichelt meiner
Autoreneitelkeit. Doch außer mir gibt es noch den gesunden
Menschenverstand, die Logik. Und der Logik kann das kaum
gefallen.«
»Beunruhigen Sie sich nicht. Die Logik wird nicht
beleidigt. Es ist eine Tatsache. Und was könnte der gesunde
Menschenverstand gegen eine augenscheinliche Tatsache einzuwenden
haben?«
»Augenscheinlich?« Er zuckte mit den Schultern. »So eine
schmeichelhafte Bemerkung habe ich noch niemals gehört. Ich habe
die Dilnea also so überzeugend beschrieben, daß Sie sie für ebenso
eine Realität halten wie die Erde.«
»Ich habe Ihre Erzählung nicht gelesen. Leider habe ich
sie nicht gelesen. Und so kann ich zunächst die Genauigkeit Ihrer
Beschreibung nicht beurteilen. Doch ich erinnere mich nur zu gut an
die Dilnea. Ich bin dort geboren.«
Er sah mich an, ohne jene Gefühle zu verbergen, die
gleichzeitig in ihm wach wurden. Unverständnis, Argwohn und
plötzliche Vermutungen verwirrten ihn. All das las ich auf seinem
Gesicht.
»Soso«, sagte er und stand auf: »Sie sind also auf dem
Planeten geboren, den ich ausgedacht habe? Amüsant! Doch gestatten
Sie mir, Sie anzufassen und mich zu überzeugen, daß Sie kein
Phantom, sondern eine Realität, sind.«
Er berührte mich mit seinen langen, eleganten Fingern
und zwickte mich dabei, zwickte mich ziemlich schmerzhaft. »Ja, Sie
sind eine Realität. Aber was hat Sie hierhergeführt?«
»Die gleiche Frage hat mir Immanuel Kant gestellt.
Allerdings in delikaterer Form. Doch während ich zu Kant ging, um
gnoseologische Probleme mit ihm zu erörtern, komme ich zu Ihnen aus
einem ganz anderen Grund. Ich möchte Sie fragen, woher Sie Ihre
Kenntnisse über die Dilnea haben.«
»Ich habe Ihnen doch schon geantwortet. Die Dilnea habe
ich mir ausgedacht. Sie existiert nur in meinem Kopf und im
Bewußtsein der Leser, die sich an meine Erzählung ›Uära‹
erinnern.«
»Sie bestehen also darauf? Warum? Um die Spuren zu
verwischen? Meinen Sie wirklich, ich glaube Ihnen, daß die Dilnea
eine Erfindung ist, wenn ich selbst von dort gekommen
bin?«
»Aber Sie haben doch Ihren Namen genannt. Sie sind
Nikolai Larionow.«
»Dort hieß ich anders. Ich bin Raurbef!«
In Tunjawskis spöttischen Augen flammte Angst auf,
verlosch aber gleich wieder. An ihre Stelle trat
Mitgefühl.
»Nun gut, gut!« sagte er. »Ich glaube Ihnen! Wirklich,
ich glaube Ihnen! Sie müssen ausruhen, Sie brauchen eine
Luftveränderung. Sind Sie schon lange aus dem Krankenhaus? Sie
hatten einen Nervenzusammenbruch, nicht wahr?«
»Sie irren sich. Ich bin gesund. Aber was ist da zu
machen! Sie glauben meinen Worten nicht. Ich hoffe jedoch, Sie
werden sich Tatsachen nicht verschließen.«
Ich zog das Etui aus der Tasche, nahm das Klümpchen
Materie heraus und legte es auf den Tisch.
»Eroja«, sagte ich leise, »hörst du mich?«
»Ich höre dich«, antwortete sie, »was willst du, mein
Lieber?«
»Ich möchte, daß du mit diesem Menschen sprichst und ihm
sagst, wer wir sind und woher wir kommen. Er versichert mir, er
habe uns beide ausgedacht…«
8
Später haben Eroja und ich im Hotelzimmer öfter an diese
Episode gedacht. Nein, der Phantast war nicht auf der Höhe. Er war
einfach erschrocken, dumm und vulgär erschrocken, so wie die
Menschen des XVIII. Jahrhunderts erschraken, die an böse Kräfte aus
dem Jenseits glaubten. Vor Schreck verlor er seine Redegewandtheit
und seinen Humor, er wurde blaß und fiel in einen Sessel. Ich mußte
in seiner Hausapotheke kramen, um Baldriantropfen und Validol zu
suchen. Leider hatte ich keine Arzneien von der Dilnea bei mir, mit
deren Hilfe er sich sofort ausgezeichnet gefühlt hätte.
Als Tunjawski wieder zu sich kam, blickte er auf die
andere Seite des Tisches, wo eben noch das Klümpchen Materie
gelegen hatte. Aber dort lag nichts mehr. Ich hatte Eroja wieder im
Etui versteckt und das Etui zu mir genommen.
»Wer sind Sie?« fragte mich Tunjawski.
»Genau die gleiche Frage hat mir Immanuel Kant
gestellt«, sagte ich leise.
»Kant hat Ihnen diese Frage nicht gestellt.«
»Woher wissen Sie das? Sie waren doch nicht
dabei.«
»Ich selbst habe diese Episode ausgedacht.«
»Nun ja, wunderbar. Dann ist ja alles wieder in
Ordnung.«
»Also ist nichts gewesen? Dann ist mir alles nur so
vorgekommen?«
»Ja, es ist Ihnen nur so vorgekommen«, antwortete ich.
»Wer sind Sie dann?«
»Eine Person Ihrer Erzählung. Sind Sie damit
zufrieden?«
Er lachte. Diesmal lachte er fröhlich. »Mag es so sein.
Ich will mir nicht den Kopf zerbrechen und diesen Knoten entwirren.
Warum sind Sie denn aufgestanden? Wollen Sie gehen?«
»Auf Wiedersehen«, sagte ich. Er versuchte nicht, mich
zurückzuhalten. Ja, er war ein Mensch. Und er war ehrlich. Er
wunderte sich wirklich und wollte mir nicht glauben, daß ich
Raurbef sei. Nicht nur die Dilnea, sondern auch mich und Eroja hat
er sich also ausgedacht. Doch an eine solche Übereinstimmung von
Erfindung und, Realität kann man unmöglich glauben. Folglich hat er
uns auf den Arm genommen. Mit welchem Ziel?
So seltsam es auch war, Eroja, die künstliche Eroja, das
Rätsel der Rätsel, vertrug nichts Rätselhaftes.
»Du mußt das herausbekommen, Raurbef«, sagte sie zu mir.
»Was?«
»Woher er unser Geheimnis kennt.«
»Er behauptet, er habe sich alles ausgedacht.«
»Aber du glaubst doch noch weniger daran als
ich.«
»Wir brauchen uns damit nicht zu beeilen. Früher oder
später werden wir es schon noch erfahren. Jetzt lese ich dir erst
einmal seine Erzählung ›Uära‹ vor, die ich mir heute aus der
Bibliothek geholt habe.«
Ich las ihr den ganzen Abend lang vor. Manchmal
unterbrach sie mich: »Aber so ist es doch nicht gewesen. Ich kann
mich nicht mehr so genau erinnern. Erinnerst du dich daran,
Raurbef?«
»Wahrscheinlich hat er sich das, wovon du sprichst,
ausgedacht, damit es interessanter wirkt, das andere aber ist genau
dargestellt. Was meinst du dazu, Eroja?«
»Mir scheint, er hat in jedem von uns gelebt. Er hat
unsere Gespräche gehört und in unseren Gedanken gelesen. Aber lies
weiter«, sagte sie, »vielleicht finden wir am Schluß eine Erklärung
für diese seltsame Tatsache.«
Ich las die ganze Erzählung bis zu Ende. Doch der Schluß
befreite uns nicht von unseren Zweifeln; im Gegenteil, er
verstärkte sie nur noch. Der Umstand, daß mein Leben auf der Dilnea
in einem irdischen Buch dargestellt war, verursachte mir ein bisher
nicht gekanntes Gefühl. Es schien, als lebte ich und lebte doch
nicht, als sei ich hier, gleichzeitig aber verstrickt in eine ferne
und mir fremde Erzählung, hinaufgehoben in eine andere,
wunderbarere Ebene des Seins.
Nein, das konnte ich nicht hinnehmen. Ich bezweifelte
meine Realität durchaus nicht; der Umstand, daß ich zu einem Objekt
in der Phantasie des Belletristen Tunjawski geworden war, durfte
das Gefühl meiner Würde nicht verletzen. Letztlich war es nicht
ausgeschlossen, daß hinter dieser anscheinend irrationalen
Erscheinung eine völlig rationale Wirklichkeit stand. Die
Telepathie – diese alte und gleichzeitig sowohl auf der Erde als
auch auf der Dilnea »junge« Wissenschaft – befand sich noch in
ihrem Anfangsstadium. Das Zusammenfallen von Erfindung und
Wirklichkeit ließ sich offenbar nur mit den telepathischen
Fähigkeiten Tunjawskis erklären, dem es gelungen war, Raum und Zeit
mit einem sechsten, von der Wissenschaft noch nicht entdeckten Sinn
zu überwinden.
So dachte ich, als ich sein Buch über mich las. Zu Eroja
jedoch, dem Klümpchen formloser Materie, sagte ich nichts davon.
Außerdem lag sie schon in ihrem Etui, eingehüllt in jenen Zustand
der Abwesenheit, der so gut zu ihrem Wesen paßt, zu ihrem Wesen,
das eher materieller Natur war, als daß es einem lebenden Geschöpf
eigen gewesen wäre.
9
Auf der Straße traf ich eine alte Frau, die mich liebenswürdig
lächelnd fragte: »Junger Mann, sagen Sie mir bitte, wie spät ist
es?«
»Halb sechs«, antwortete ich.
Sie schaute mich noch einmal an und ging weiter, langsam
ihre rheumatischen Beine bewegend. Wahrscheinlich beneidete sie
mich um meine Jugend und dachte zerstreut und melancholisch an
Vergangenes und Verlorenes. Sie erinnerte sich vielleicht daran,
was vor zehn Jahren und vor zwanzig Jahren und während der ganzen
letzten fünfzig Jahre geschehen war. Und sicher schien es ihr so,
als sei das alles schon lange, lange her. Sie ahnte nicht, daß es
fast so gut wie gestern geschehen war, denn der junge Mann, den sie
gerade angehalten hatte, konnte sich an Dinge erinnern, die vor
zweihundert, zweihundertfünfzig, ja vor dreihundert Jähren
geschehen waren. Und im Grunde ist das alles auch so gut wie
gestern gewesen. Was ist denn die Zeit? Danach habe ich einst
Immanuel Kant gefragt. Und Kant meinte, ob ich ihm nicht eine
leichtere Frage stellen könnte.
Gestern unterhielt ich mich mit Professor Tichomirow. Er
ist Historiker und liebt seine Wissenschaft anscheinend
sehr.
»Ein Historiker«, sagte er nachdenklich, »ist im Grunde
ein ewig umherwandernder – Melmoth, der gleichzeitig in
verschiedenen Epochen lebt.«
»Und wer ist dieser Melmoth?«
»Das ist der Held eines gleichnamigen Romans von
Maturin, eine Art Anti-Faust, ein Mensch, der seine Seele dem
Teufel für das Recht verkauft hat, ewig etwas Neues zu erfahren und
nichts zu vergessen. ›Melmoth der Wanderer‹, haben Sie von diesem Roman noch nie gehört?
Puschkin hat ihn hochge schätzt, auch Balzac hat ihn sehr geliebt,
er hat sogar eine Fortsetzung dazu geschrieben.«
»Ich bin dieser Ihr Melmoth«, sagte ich. Doch der tief
in Gedanken versunkene Professor hörte meine Worte nicht.
Tichomirow hegt Sympathien für mich. Er zieht mich allen
anderen Studenten meines Studienjahres vor. Er kennt das XVIII.
Jahrhundert sehr gut, aber ich kenne es besser. Mein Gedächtnis
bewahrt nicht nur, was in den Büchern niedergelegt ist, sondern die
ganze lebendige Zeit. Wenn ich den Newski oder den Litejni
entlanggehe, sehe ich nicht nur die heutigen Gebäude aus Glas,
sondern auch jene Häuser, die einst an ihrer Stelle standen. Mir
wird ganz eigenartig zumute, wenn ich die Bäume des Sommergartens
ansehe. Das waren damals ganz dünne Stämmchen.
Unwillkürlich sprach ich laut Worte aus, die ich nicht
hätte aussprechen sollen.
»Was ist die Zeit?« fragte ich.
Tichomirow lächelte und sagte: »Diese Frage könnte nur
Melmoth erschöpfend beantworten. Er kannte das Rätsel der Zeit und
das Geheimnis der Macht über sie.«
»Ich bin auch ein Melmoth«, sagte ich leise, in der
Hoffnung, daß Tichomirow es nicht hören würde.
Doch er hatte es gehört und sah mich verwundert an.
»Sie? Das würde ich wohl doch nicht sagen. Sie haben eher das
Gesicht eines Menschen, dem jede Erfahrung fehlt, so als seien Sie
gerade erst auf die Welt gekommen. In Ihren Augen spiegelt sich
eine große Ahnungslosigkeit, eine absolute Unkenntnis, wie es nur
bei kleinen Kindern der Fall zu sein pflegt. Allerdings nicht
immer. Ich weiß noch, als ich Sie beim Examen nach Katharina II.
nach ihrem Hof und danach gefragt habe, wie Petersburg ausgesehen
hat, da haben Sie mit so erschöpfender Informiertheit geantwortet,
daß ich etwas verwirrt wurde. Doch kehren wir zu Melmoth zurück. Er
wand sich förmlich unter der unerträglichen Last seiner
persönlichen und historischen Erfahrungen. Sein Gedächtnis war
überladen und sein Herz von der Fülle der Ereignisse erschöpft.
Wenn man Sie ansieht, glaubt man nicht, daß übermäßig viele
Erfahrungen auf Ihnen lasten. Wenn ich Ihre Worte richtig verstehe,
so möchten Sie vielleicht ein Melmoth sein?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich bin mir selbst
noch nicht so zur Last, daß ich nach fremden Erlebnissen giere und
neidisch bin auf fremde Erfahrungen.«
10
Das Gefühl, daß ich ein Fremdling bin, dieses seltsame Gefühl
verläßt mich weder im wachen Zustand noch im Schlaf. Wenn ich durch
die Straßen gehe, höre ich auf die Worte der Passanten. Ich möchte
in ihr Leben eindringen, ich möchte nicht nur den Sinn ihrer Worte
verstehen, sondern auch jenen unbegreiflichen und einmaligen
Rhythmus des kostbaren, irdischen Menschendaseins erfassen, der
mich immer wieder in Erstaunen versetzt.
Ich gehe die Straße entlang und höre auf die Stimmen der
Passanten.
»Lisa«, sagt eine männliche Stimme leise und
eindringlich. »Lisa…«
Ich höre nicht, was die Frauenstimme
antwortet.
»Lisa«, wiederholt die Männerstimme. »Lisa… Lisa«, fleht
sie.
Die Frau schweigt.
Lisa. Dieses Wort eines Passanten und der Tonfall, mit
dem es ausgesprochen wurde, sollen mir behilflich sein, in den Sinn
fremder Beziehungen einzudringen. Warum? Ich weiß es nicht. Bisher
kommt mir das Leben auf der Erde so vor wie der Fetzen eines
zufällig auf der Straße gehörten Gesprächs. Melmoth wird sicher
dasselbe Gefühl gehabt haben, daß alles nur bruchstückhaft und
nicht zu Ende gesprochen war, denn er war ja in jeder Epoche nur
ein Gast, und jedes Jahrzehnt war für ihn ein Hohlraum, den er
ausfüllen mußte.
Ich muß diese Zusammenhanglosigkeit überwinden und darf
mich nicht als Gast fühlen.
Als Gast… Ich bin nur ein Gast auf der Erde. Aber in
kurzer Zeit habe ich sehr viel über sie und ihre Menschen in meinem
Gedächtnis, das gierig alle Tatsachen in sich aufnimmt. So seltsam
es auch sein mag, das Irdische beginnt in mir alles andere zu
überwuchern und es zu verdrängen. Doch noch verwunderlicher ist,
daß es mir manchmal so scheint, als stamme ich nicht von der
Dilnea, sondern als sei ich ein Mensch. Wahrscheinlich zeigt sich
darin meine Liebe zu den Menschen und zur irdischen
Natur.
Nachts schreibe ich an einem Buch, das die Überschrift
trägt: »Die Naturwissenschaft der Zukunft«. Es verbindet mich mit
der Welt und mit jedem einzelnen Menschen auf Erden. Dieses
außerordentliche Buch wird das Bewußtsein der heutigen Menschheit
um viele Jahrzehnte voranbringen. Der bescheidene Untertitel
lautet: »Lehrbuch«. Mein Buch wird die Menschen die Kunst lehren,
ihrer Zeit und sich selbst voraus zu sein. Aber wahrscheinlich
kommt einmal eine Zeit, da auch mein wissenschaftliches Lehrbuch
veraltet sein wird.
Ich gehe gern durch die Straßen, ich mag nicht fahren.
Ich suche den Kontakt mit der Welt, die mich umgibt. Fußgänger sind
ganz anders als Fahrgäste. Sie sehen die Welt ganz anders an,
Fahrgäste konzentrieren sich innerlich auf ein Ziel, das ihnen ihr
Bewußtsein stets vor Augen hält. Sie sind da und sind nicht da. Vom
Wirbel der Geschwindigkeit erfaßt, treiben sie in Gedanken Raum,
Zeit und ihr »Ich« an. Fußgänger haben keine Eile. Auch ich treibe
mich nicht an.
Diesen Alten da treffe ich oft auf der Uferpromenade. Er
hat mich auch schon bemerkt und lächelt mir zu.
»Guten Abend«, sage ich.
»Guten Abend.«
Wir gehen nebeneinanderher. Er ist sehr alt. Vielleicht
erinnert er sich noch an die siebziger und sogar an die sechziger
Jahre, an den Flug Gagarins, an den ersten Besuch eines Menschen
auf dem Mond und dem Mars, an die biologischen und die ästhetischen
Diskussionen, die seine Zeitgenossen damals
beschäftigten.
»Zu meiner Zeit«, erzählt der Alte, »gab es viel mehr
Fußgänger, aber nicht etwa, weil es die Menschen weniger eilig
gehabt hätten. Das Transportwesen war noch zu unvollkommen. Hier
fuhren noch Trolleys und Autobusse. Mein Vater hat noch die
Pferdebahn gekannt. Ich erinnere mich, wie ich als Kind mit der
Eisenbahn von Wladiwostok hierherkam. Die Zeit verging langsamer.
Ich stand am Fenster und schaute zu, wie sich die Gegend
veränderte. Sind Sie schon einmal auf dem Mars oder dem Mond
gewesen, junger Mann?«
»Ja.«
»Mein Sohn lacht über die irdischen Entfernungen. Vor
kurzem ist er aus dem Kosmos zurückgekehrt, er hat auf dem Mars
gearbeitet und ist in der Umgebung der Venus gewesen. Er sagt, bei
uns sei es noch wie im zwanzigsten Jahrhundert. Am meisten wundert
er sich, wie man die kostbare Zeit durch Gehen verschwenden kann.
Er ist in die Geschwindigkeit verliebt. Und er ist fast verzweifelt
darüber, daß der menschlichen Technik von den Naturgesetzen eine
Grenze gesetzt ist.«
»Was meint er damit?«
»Die Lichtgeschwindigkeit. Die kann der Mensch nicht
überholen.«
»Kann man's wissen?« sage ich.
»Ich verstehe Sie nicht, junger Mann. Drücken Sie sich
etwas klarer aus.«
»Die Menschheit weiß noch sehr wenig über die wirklichen
Eigenschaften des Raumes.«
Der Alte sieht mich mißtrauisch an. »Die Menschheit… Und
was sind Sie, etwa kein Vertreter der Menschheit?«
»Nicht ganz«, antworte ich.
»Wer sind Sie dann?«
»Das ist eine andere Frage«, erwidere ich
ausweichend.
Der Alte lacht. »Sie sind ein Original. Und Ihr Gesicht
ist auch nicht alltäglich. Seltsam, daß Sie es gar nicht eilig
haben. Wie alt sind Sie, junger Mann? Fünfundzwanzig Jahre?
Dreißig?«
»Multiplizieren Sie mit zehn, und Sie irren sich
nicht.«
Warum sage ich das? Wozu? Jetzt kann ich mich nie mehr
mit diesem Alten treffen und mit ihm sprechen. Nichts entfremdet so
wie Wunderlichkeit. Der Alte sieht mich erschrocken an. Meine Worte
haben die unerschütterliche Logik der irdischen menschlichen
Beziehungen verletzt.
»Wer sind Sie?« fragt er. »Und woher kommen
Sie?«
Ich erwidere: »Wer wird so kühn sein und auf Ihre Frage
eine Antwort geben? Wer sind wir? Woher? Damit befaßt sich die
Philosophie.«
»Ah«, sagt der Alte erfreut, »Sie sind Philosoph? Jetzt
verstehe ich alles.«
Er hat mich wiedergefunden und ich ihn. Und beide stehen
wir froh und glücklich da.
11
Auf der Straße ruft eine Frauenstimme zu mir:
»Nikolai!«
Ich sehe mich um. Neben einem Ahornbaum steht dasselbe
Mädchen, das mit mir telefoniert hat. Sie hatte mir ihren Namen
genannt, und jetzt erinnere ich mich an ihn. »Vera«, sage ich
unsicher und leise.
Sie lächelt mir erfreut zu. »Na also, endlich hast du
mich auch erkannt. Es war so seltsam und schrecklich, als du mich
nicht mehr erkanntest. Erst dachte ich, du machtest Spaß. Aber der
Klang deiner Stimme und dein Gesichtsausdruck sprachen dagegen. Ich
war ganz verzweifelt und wußte nicht, was ich davon halten sollte.
Aber jetzt sehe ich an deinen Augen, daß du mich erkannt hast. Die
Verhexung ist vorbei. Wie bin ich froh…«
»Ich freue mich auch«, sage ich leise.
Dann denke ich: Sie irrt sich weiter und hält mich für
irgendjemand anders. Lohnt es, sie vom Gegenteil zu überzeugen? Mag
sie sich irren. Das hilft mir, die Trennungswand zu beseitigen und
mich dem irdischen Leben zu nähern.
»Hast du jetzt etwas vor?« fragt sie. »Ich möchte mit
dir sprechen; wollen wir nicht den Abend zusammen
verbringen?«
Ich nehme ihren Arm, und wir gehen. Wir spazieren durch
die Stadt. Wie immer gibt es nur wenig Fußgänger. Nur Verliebte
gehen zu Fuß. Es fängt an zu regnen.
»Erinnerst du dich, Nikolai«, fragt das Mädchen, »wie
wir auf der Jelagin-Insel in einen Regenschauer gerieten? Es goß
wie aus Eimern. Wir standen unter einem Baum. Erinnerst du
dich?«
»Ja, ich erinnere mich.«
Ich erinnere mich natürlich nicht und kann mich ja auch
gar nicht an etwas erinnern, was nicht mir, sondern einem anderen
zugestoßen ist »Unlängst habe ich an den Tag des Schwarzen Meeres
gedacht.«
»An den Tag des Schwarzen Meeres?« frage ich erstaunt:
»Warum?«
»Seltsam!« sagt Vera vorwurfsvoll. »Weißt du auch das
nicht mehr? Wir haben uns doch am Tag des Schwarzen Meeres in der
Nähe von Feodossija kennengelernt. Der kleine Ort heißt Koktebel…
Ich habe dort an einer Unterwasserexpedition teilgenommen. Und du
wohntest auf der Sportstation und bist mit deiner Taucherausrüstung
immer weit ins Meer hinausgeschwommen. Ist es nicht komisch, daß
wir unser erstes Rendezvous in einer Tiefe von zwanzig Metern
hatten? Über uns waren die Wellen, und ich werde niemals die Stille
vergessen, die dort herrschte. Dann schwammen wir an die
Oberfläche, und du fragtest mich, wie ich heiße. Ich sagte meinen
Namen, und du sagtest deinen. Dann saßen wir am Ufer, am Fuße der
Berge, erinnerst du dich?«
»Ja, ich erinnere mich«, sage ich unsicher. Für den
Bruch teil einer Sekunde scheint es mir, als ob ich mich wirklich
an diese Episode erinnere.
Aus der Stimme des Mädchens spüre ich Güte heraus und
Seelengröße; mir ist, als schenke sie mir ihre eigene und eine
fremde Vergangenheit, die mir nicht gehört und gar nicht gehören
kann; ich bin nicht imstande, dieses außerordentliche Geschenk
abzulehnen.
»Weißt du noch, du hast mir Strophen von einem alten
Dichter vorgetragen. Mir sind sie gerade eingefallen, und wenn du
sie vergessen haben solltest, will ich sie dir ins Gedächtnis
zurückrufen.«
»Sprich«, fordere ich sie auf.
»…Nicht ich, und nicht er, und nicht du, so wie ich, aber doch nicht so: So waren einander wir ähnlich, und unser Wesen vereinte sich.«
»Laß«, unterbreche ich Vera, »es lohnt nicht,
weiterzusprechen.«
»Warum nicht, Lieber? Damals hast du diese Zeilen oft
zitiert.«
»Aber jetzt mag ich nicht. Überhaupt wundere ich mich,
daß da jemand, der lange vor mir gelebt hat, über mich geschrieben
hat.«
»Aber nein, das hat doch niemand über dich geschrieben.
Du bist einmalig. Und nur dir selbst ähnlich. Ich habe dich lange
gesucht, aber du warst ja verschwunden. Und niemand wußte, wo du
warst. Alle deine Bekannten und Freunde hatten dich aus den Augen
verloren. Ich dachte, du seist auf den Mars oder auf eine von den
Raumstationen geflogen. Aber im Kosmischen Komitee sagte man mir,
du seist in ihren Listen nicht aufgeführt. Und trotzdem habe ich
dich gefunden. Und dich angerufen. Ich weiß nicht, warum du so
darauf bestanden hast, mich nicht zu kennen. Man hätte annehmen
können, du seist an Amnesie erkrankt, hättest das Gedächtnis
verloren, aber ich habe derartige Gedanken sofort zurückgewiesen.
Du hast sicher Gründe gehabt, wichtige natürlich. Und ich will dich
nicht danach fragen. Ich bin ja so froh, daß du nun wieder bei mir
bist.«
Sie sieht mich an.
In ihren großen grauen Augen lese ich Angst.
Wahrscheinlich fürchtet sie, ich könnte wieder behaupten, ich sei
nicht der, für den sie mich hält.
»Nein, du bist es«, sagt sie, als errate sie meine
Gedanken. »Du und kein anderer.«
Ich lache und wiederhole die ersten Zeilen des
Gedichtes, das sie mir eben vorgetragen hat und an die ich mich
erinnere.
»Laß, trag diese Verse nicht vor!«
»Vorhin wollte ich sie nicht hören, jetzt willst du es
nicht.«
»Diese Strophen erschrecken mich. All die Tage nach
unserer Begegnung im Hotel habe ich wie in einem furchtbaren Traum
gelebt. Zwei- oder dreimal ist mir der dumme und entsetzliche
Gedanke gekommen, daß nur deine äußere Hülle von dir übriggeblieben
ist und du in Wirklichkeit ein ganz anderer bist.«
»Und wenn es so wäre?«
»Nein, so ist es nicht. Du bist wie früher. Alles ist
unverändert: deine Stimme und dein Lächeln. Nur in deinen Augen
liegt etwas Fremdes, ich weiß nicht, was…«
»Dieser Tage hat mir Professor Tichomirow gesagt, ich
hätte das Gesicht eines Menschen, dem jegliche Erfahrung fehle, so
als sei ich eben erst geboren.«
Sie sieht mich an: »Weißt du, er hat recht. Das habe ich
auch schon gedacht.«
»Habe ich früher denn nicht so ausgesehen?«
»Nein. Du hattest einen anderen Ausdruck in deinen
Augen, etwas spöttisch und skeptisch. Etwas in dir hat sich sehr
verändert. Glaubst du nicht auch?«
»Nein, wieso? Aber vielleicht hast du auch
recht.«
Ich begleite sie bis zu ihrer Haustür.
»Danke«, sagt sie. »Ich hoffe, wir treffen uns bald
wieder. Auf Wiedersehn, mein Lieber.«
»Auf Wiedersehn«, sage ich; beim Weggehen blicke ich
mich noch einmal um und winke ihr zu.
Sie steht an der Haustür und schaut mir nach.
12
Manchmal, wenn mich irgendein Gedanke beschäftigt, gehe ich
auf und ab und denke angestrengt nach. Dann läßt der Enthusiasmus
nach, und ein kalter, heimtückischer Gedanke schleicht sich ein:
Was wirst du im Verlag sagen, wenn du dein seltsames Manuskript
hinbringst? Wie und womit willst du erklären, daß du den irdischen
Gelehrten um einige Jahrhunderte voraus bist? Man wird mir sagen:
»Sie sind Newton und Lomonossow, multipliziert mit Darwin und
Einstein. Wo sind Sie, zum Teufel noch mal, überhaupt hergekommen?
Wo haben Sie gesteckt? Warum haben Sie uns Ihre Ideen so lange
vorenthalten?«
Man wird mir kaum glauben. Es wäre besser, wenn ich
einen wissenschaftlich-phantastischen Roman anbrächte, in dem ich
alle diese Formeln und Auffassungen im Namen der Helden aussprechen
könnte. Aber der Anfang meines Buches gleicht eher einem Lehrbuch
als einem Roman. Ich bin im Grunde nur ein Mittelsmann. Meine Hand
wird von der Zukunft geführt. Ich bin nur ein Popularisator, der
die wissenschaftlichen Ideen einer fernen Zukunft in die Sprache
der heutigen Erdbewohner umzusetzen versucht.
Es ist nicht leicht, eine Brücke zwischen Zukunft und
Vergangenheit zu schlagen, wenn man von der Zukunft her zu bauen
beginnt. Wie soll ich den Menschen auf der Erde die Theorie des
Physikers Tinej von der Dilnea erklären, mit deren Hilfe es unserer
Wissenschaft und Technik gelungen ist, Raum und Zeit zu besiegen?
Um den Kern der von Tinej entdeckten Gesetzmäßigkeiten zu erfassen,
muß man die menschliche Logik völlig ausschalten und alle
traditionellen Gewohnheiten des irdischen mathematischen Denkens
revidieren. Ich zerbreche mir den Kopf über diesem
Problem.
Nicht weniger schwierig wird es sein, zu erzählen, wie
es den Biophysikern auf der Dilnea gelungen ist, alle Geheimnisse
der lebenden Zelle zu entdecken und den Augenblick festzuhalten,
der sich individuelles Leben nennt. Und dann die Beschleunigung des
Gedankens! Wie und warum hat man es auf der Dilnea gelernt,
schneller zu denken, als es die Vorfahren vermochten? Wird man das
reicht für ein Paradoxon halten, für ein begründetes
Hirngespinst?
Das Telefon klingelt.
»Ja, bitte«, sage ich, nachdem ich den Hörer abgenommen
habe.
Eine weibliche Stimme, die mir jetzt schön bekannt ist,
fragt zärtlich: »Erkennst du mich?«
»Ja, jetzt erkenne ich dich. Vera?«
»Ja, Vera. Hast du gerade etwas zu tun?«
»Nein, ich habe Zeit.«
»Willst du nicht zu mir kommen?«
»Wann?«
»Wann es dir recht ist, mein Lieber. Ich warte auf dich…
Oder nein, wir treffen uns lieber im Foyer des Hotels. Ich komme zu
dir.«
Ich stehe neben dem Zeitungsstand und warte. Sie muß
jede Minute kommen. Wenn ich ihr heute sagte, daß ich nicht der
sei, für den sie mich hält? Nein, dieses unangenehme Gespräch muß
ich noch hinausschieben. Ich möchte so gern mit ihr zusammen sein.
Wieder wird sie mich an Vergangenes erinnern, an das, was sie
selbst erlebt hat, und denjenigen, für den sie mich hält. Ich werde
so tun, als ob auch ich mich an diese Vergangenheit
erinnere.
Sie kommt schnell und leichtfüßig herein, so wie immer.
Auf ihrem geröteten Gesicht strahlt ein gütiges Lächeln. Sie hat
mich bereits gesehen und winkt mir zu.
»Bist du schon hier?« fragt sie.
»Nein, ich bin nicht hier«, scherze ich, »sondern jener
andere, der dich nicht erkannt hat.«
»Nein, das bist du«, sagt sie leise, »du…« Irgendwie
spricht sie das Wort »du« ganz besonders aus, verwundert und
freudig, so als entdecke sie in mir jenen anderen, dessen Äußeres
ich ohne mein Wissen angenommen habe.
Arm in Arm verlassen wir das Hotel. Wir sind sogleich
allein. Niemand beachtet uns.
»Möchtest du ein bißchen tanzen?« fragt Vera. »Dann laß
uns hier hineingehen.«
Sie zeigt auf den Tanzklub, durch dessen gläserne Wände
man tanzende Paare erblickt.
Wir gehen hinein. Musik. Irdische, das Bewußtsein
berauschende Musik. Ich habe mich lange nicht an sie gewöhnen
können. Im XVIII. Jahrhundert gab es klarere und langsamere
Melodien. Damals tanzte man Menuett und spielte Mozart, von dem
jemand gesagt hat, er habe seine Musik nicht für Menschen, sondern
für Engel komponiert. Ich bin kein Engel. Aber an die Mozartsche
Musik konnte ich mich bedeutend leichter gewöhnen als an die
heutigen Komponisten.
Vera und ich beginnen zu tanzen. Bei mir geht es nicht
gerade gut. Aber sie lächelt und nickt mir aufmunternd zu. »Macht
nichts, Lieber. Früher hast du zwar bedeutend besser getanzt. Aber
die anderthalb Jahre im Weltall auf einer winzigen kosmischen
Station muß man schon mit in Rechnung stellen. Dort hat es
schließlich keinen Tanz gegeben.«
»Aber woher weißt du, daß ich auf einer kosmischen
Station war? Habe ich etwa davon gesprochen?«
»Nein, das hast du nicht. Aber ich habe es auch so
erraten.«
»Wie scharfsinnig du bist!«
»Lache nicht, Lieber. Daß du diese anderthalb Jahre
nicht auf der Erde gelebt hast, errät jeder, der mit dir spricht.
Du hast dich so sehr verändert. Du hast etwas Neues, Unbekanntes an
dir, das ich vor unserer Trennung nicht bemerkt habe.«
»Was meinst du damit?«
»Diese Zerstreutheit. Manchmal kommt es mir so vor, als
befinde sich lediglich deine Hülle hier, du selbst aber seist
Millionen Kilometer weit entfernt von hier. Dann wird mir ganz
schrecklich zumute, schrecklicher noch als damals, als du mich
nicht erkennen wolltest.«
»Reden wir lieber über etwas anderes.«
»Worüber denn?«
Sie hat diese Frage kaum gestellt, als sie schon an
etwas ganz anderes denkt.
»Verzeih, Lieber«, sagt sie, »ich komme sofort zurück.
Eine Minute.«
Sie geht weg. Ich sehe mich um. Sie tritt an einen
hochgewachsenen Mann heran. Offenbar ist das ein alter Bekannter
von ihr. Dann ruft sie mich. »Nikolai!«
Ich gehe zu ihr. Ein größer oder, besser, groß
scheinender Mann lächelt mir zu und streckt mir die Hand entgegen.
Ich nenne meinen Namen und sage deutlich: »Nikolai…«
»Kolja«, verbessert er mich. Das ist so seltsam und
erweckt den Anschein, als kenne er mich schon seit
langem.
Er schaut mich interessiert an. Nein, Unbekannte blicken
nicht so. Dann verbeugt er sich und geht fort.
»Wer war das?« frage ich Vera.
Bevor sie antwortet, sieht sie mich verwundert an.
»Solltest du ihn wirklich in diesen anderthalb Jahren vergessen
haben? Das ist der Physiologe und Kybernetiker Iwanzew, Sergej
Andrejewitsch Iwanzew, dein guter Bekannter: Du selbst hast mir
doch oft gesagt, daß es solche Menschen wie Sergej nur einmal in
zwei Jahrhunderten gibt. Und du hast es fertiggebracht, ihn zu
vergessen? Du selbst hast doch gesagt, er sei ein Genie, ein
gewöhnliches, durch nichts hervorstechendes Genie, so wie Pawlow
oder Leonardo da Vinci.«
»Aber was hat er denn geleistet, daß ich ihn so nennen
konnte?«
»Nichts Besonderes. Er hat eine neue Lehre in der
Physiologie begründet. Eine neue Schule. Genügt dir das nicht? Aber
erkläre mir, wie hast du ihn vergessen können?«
13
Jede Nacht träume ich von der Dilnea; kaum schließe ich die
Augen, so bin ich auch schon dort. Wenn ich aufwache, bin ich ganz
verstört. So weit ist sie entfernt, meine Dilnea!
In meinem langen Leben bin ich einige Male auf die
Dilnea zurückgekehrt, und jedesmal habe ich an Stelle meiner
Freunde und Verwandten deren Nachkommen angetroffen.
Meine Berufung als ewiger Wanderer hat die Zukunft in
die Gegenwart verwandelt. Immer, wenn ich wieder auftauchte, war
ich meiner Epoche, meinen Zeitgenossen und mir selbst weit voraus.
Etwas Wunderbares lag in diesen Stunden, Tagen und Wochen, als
hätte sich die Tür zu einem neuen, ungewöhnlichen Leben geöffnet.
Ich war in ein neues Jahrhundert geraten und erkannte weder
Personen noch Sachen. Doch unter den neuen Personen und Sachen
vermochte ich mich sicher zu fühlen. Nur auf der Erde kann ich mich
einfach nicht zurechtfinden, und ich wiederhole mir die Worte
Spinozas: »Weder beklagen noch belachen, sondern
begreifen.«
Aber es gibt Erscheinungen, die zu begreifen nicht in
meinen Kräften liegt. Während ich aus der Universität zurückkehre,
verlangsame ich meine Schritte. Vor mir gehen zwei Schüler. Sie
schwatzen über irgend etwas. Plötzlich ruft mich einer von ihnen
an. Laut spricht er meinen Namen aus, nicht den hiesigen, sondern
den von dort, den richtigen.
»Raurbef«, sagt er.
Damit wendet er sich nicht an mich, sondern an seinen
Gefährten, aber ich zucke zusammen, wie aus dem Schlaf
gerissen.
Der andere Junge sagt ebenso laut und deutlich:
»Eroja.«
Da hole ich sie ein und frage: »Woher kennt ihr diese
Namen?«
»Haben Sie etwa die wissenschaftlich-phantastische
Erzählung ›Uära‹ nicht gelesen?« antwortet der eine von ihnen!
»Lesen Sie sie. Dort wird von einem Reisenden erzählt, der mit
Lichtgeschwindigkeit geflogen ist. Er heißt Raurbef.«
»Raurbef, das bin ich.«
»Sie scherzen«, sagt der Schüler. »Er sieht Ihnen nicht
ähnlich. Raurbef hat fast keinen Mund.«
»Ich habe mir eine plastische Operation machen
lassen.«
Beide Jungen lachen. »Also sind Sie direkt von den
Seiten des Buches auf diese Straße gestiegen?« fragt der
andere.
Mich verblüfft die Wahrheit dieser Worte. Ich gerate
ganz durcheinander.
Nach einer Pause antworte ich: »Nein. Eher bin ich
direkt von dieser Straße in das Buch geraten.«
Ich habe Kinder sehr gern, vielleicht auch deshalb, weil
ich sie nur in den Pausen zwischen meinen Reisen antreffe. Die
Kinder der Erde unterscheiden sich nicht sehr von denen auf der
Dilnea. Und dort, auf der Dilnea, bin ich oft in Schulen und andere
Einrichtungen für Kinder gegangen und habe von meinen Reisen
erzählt.
»Nun, ihr glaubt mir wohl nicht?« frage ich.
Der schlagfertigere und forschere Junge antwortet: »Was
glauben wir nicht?«
»Daß ich Raurbef bin?«
»Glauben wir!« ruft er spöttisch. »Aber darauf kommt es
doch nicht an, ob wir es glauben oder nicht.«
»Sondern?«
»Na, wie soll ich mich ausdrücken, wenn man es liest,
glaubt man daran. Hat man es aber zu Ende gelesen, denkt man, ein
interessantes Märchen. Jetzt lese ich aber doch nicht.«
»Das stimmt«, sage ich. »Jetzt liest du nicht, sondern
gehst durch die Straße. Aber da gibt es einen Haken. Ich werde dir
gleich etwas zeigen, und dann wirst du nicht mehr
zweifeln.«
Ich hole den linguistischen Universalapparat aus der
Tasche und reiche ihn dem Jungen hin.
»Wie heißt du?« frage ich.
»Wolodja.«
»Und dein Freund?«
»Semjonow. Er hat einen schwierigen Vornamen. Bei uns
nennen ihn alle einfach Semjonow.«
Ich sage: »Schau dir dieses Ding hier mal an, Semjonow.
Kannst du Französisch?«
»Nein, kann ich nicht. In unserer Schule lernen wir
Englisch und Bantu.«
»Kannst du kein einziges Wort?«
»Nur bonjour und merci.«
»Das ist recht wenig. Doch gleich wirst du alle Wörter
kennen. Hier, drücke mal auf diesen Knopf.«
»Gut. Und was ist jetzt?«
»Sprich jetzt.«
Semjonow spricht französisch. Auf dem Gesicht seines
Freundes Wolodja spiegelt sich äußerste Verwunderung. Endlich sagt
er: »Semjonow hat die Sprache bestimmt vorher schon gekannt und hat
sich nur verstellt.«
»Ich habe sie nicht gekannt. Ehrenwort. Ich habe sie
nicht gekannt! Ich schwöre es! Aber woher haben Sie diesen
Apparat?«
»Komischer Kauz! Auf der Erde wird so etwas nicht
hergestellt. Ich habe ihn von der Dilnea mitgebracht.«
»Und wer sind Sie? Ein Hypnotiseur?«
»Ich bin Raurbef! Raurbef!«
»Ach ja, Raurbef. Dann kann ich ja auch sagen, ich sei
Robinson Crusoe. Aber das Ding da ist interessant. Schenken Sie es
uns.«
»Nein, das geht nicht. Ich brauche es selbst sehr
dringend. Ohne es bin ich taub und stumm.«
»Aber trotzdem, wer sind Sie? Ein Telepath?«
»Nein, ich bin Raurbef. Raurbef.«
»Lassen Sie das. So geht das doch nicht.«
»Nun, wenn nicht, dann nicht. Wozu streiten? Auf
Wiedersehen.«
Die Jungen gehen nach der einen Seite, ich nach der
anderen.
14
Ich kehre spät nach Hause zurück. In der Hotelhalle hält mich
der diensthabende Automat an.
»Sie werden erwartet«, sagt er leise und bedeutungsvoll,
leiser und bedeutungsvoller als sonst.
»Wo?« frage ich.
Der diensthabende Automat antwortet mit ausgesuchter
Höflichkeit, wobei er jedes Wort tadellos ausspricht: »Im
Salon.«
Im Glauben, daß Vera auf mich wartet, gehe ich in den
Salon und suche sie mit den Augen. Aber sie ist nicht da. Eine
Männerstimme ruft mir zu: »Larionow!«
Ein Mann unbestimmten Alters kömmt mir entgegen. Ich
erkenne Tunjawski nicht sogleich. Es scheint, als sei er in diesen
zwei Wochen gealtert und dicker geworden, vielleicht hat er sich
etwas gehenlassen. Er ist es also, der auf mich gewartet
hat.
»Verzeihen Sie, daß ich mich nicht angemeldet habe. Das
ist alles ganz plötzlich vor sich gegangen, ich wollte gar nicht zu
Ihnen kommen, aber ein unbestimmtes, mir nicht völlig
verständliches Gefühl ließ mich meinen Entschluß ändern. Ich habe
meinen Gefühlen nie ganz getraut. Und auch jetzt traue ich ihnen
nicht völlig.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich bin gekommen, um die Frage zu klären, wer Sie
sind.«
»Wer ich bin? Ich hab' Ihnen doch schon einmal auf diese
Frage geantwortet. Ich bin Raurbef und von der Dilnea
hierhergekommen.«
»Aber Sie sind doch auch Larionow?«
»Larionow bin ich für alle außer für Sie. Aber ich sehe,
Sie sind nicht ganz gesund. Sie sind blaß geworden. Was ist mit
Ihnen?«
Er antwortet nicht.
»Vielleicht gehen wir auf mein Zimmer, denn hier ist
wohl nicht der rechte Ort für Erörterungen physikalischer und
philosophischer Probleme.«
Er nickt, ohne ein Wort zu sagen. Es hat den Anschein,
als habe er die Gabe zu sprechen verloren, er schweigt, bis uns der
Fahrstuhl in die achtzehnte Etage gebrächt hat. Und nun sind wir in
meinem Zimmer, einem gewöhnlichen Hotelzimmer, wo alles ganz
alltäglich und banal aussieht.
»Nehmen Sie Platz«, sage ich zu meinem Gast und deute
auf einen Sessel.
Er setzt sich, steht gleich wieder auf, setzt sich dann
aber wieder.
»Raurbef?« Plötzlich spricht er den Namen aus, den er
mir nicht zubilligen wollte. »Raurbef! Und Larionow ebenfalls!«
sagt er; dann hebt er plötzlich die Stimme: »Lassen Sie Ihre
unsinnigen Scherze. Mir hängt das schon zum Halse heraus! Ich bin
kein dummer Junge den man anführen kann, und dazu auf eine so naive
Art und Weise.«
»Sprechen Sie ruhiger. Es ist nicht üblich,
philosophische Probleme in einem so gereizten und nervösen Ton zu
erörtern. Ich erinnere Sie an die Worte Ihres berühmten Landsmannes
Spinoza, der den ausgezeichneten Rat erteilte: Weder beklagen noch
verabscheuen, sondern begreifen.«
»Sie wollen mir schmeicheln. Spinoza ist nicht mein
Landsmann. Ich bin in der Nähe von Leningrad geboren, er dagegen in
Amsterdam, einige Jahrhunderte vor mir.«
»Doch wenn ich mich nicht irre, sind auch Sie auf der
Erde geboren.«
»Zeigen Sie mir einen Menschen, der nicht auf der Erde
geboren wäre.«
»Möchten Sie, daß ich auf mich hinweise?«
»Die Geschichte glaube ich Ihnen nicht!«
»Na also. Das kann ich verstehen. Ich werde mich aber
bemühen, Sie in dem Punkte umzustimmen. Doch fürchte ich
eines…«
»Was?« fragt er ungeduldig. »Ja, sprechen Sie bitte
schneller und zerren Sie nicht an fremden Nerven. Was fürchten
Sie?«
»Ihre mangelnde Vorbereitung. Ich möchte es Ihnen noch
offener sagen: Ihre Unfähigkeit, das Gedankliche vom Emotionellen
zu trennen. Weder beklagen noch verabscheuen, sondern begreifen.
Das ist die Devise!«
»Wer ist auf Erden wohl besser vorbereitet als ich? Ich
bin Astrobiologe und Autor phantastischer Erzählungen. Ich habe es
täglich mit äußerst ungewöhnlichen und vom allgemein Üblichen
abweichenden Dingen zu tun.«
»Warum regen Sie sich denn so auf? Warum wollen Sie den
Rat Spinozas nicht beherzigen? Weshalb erheben Sie Ihre Stimme,
anstatt ruhig die Lage zu erörtern. Sprechen wir offen: Es ist eine
paradoxe Lage, eine Lage, in der selbst ich mich nur schwer
zurechtfinde. Übrigens, kennen Sie die Theorie Tinejs?«
»Davon höre ich zum erstenmal. Wer ist das,
Tinej?«
»Tinej ist ein großer Physiker und Mathematiker auf der
Dilnea, er hat ganz neue Prinzipien der mathematischen Logik
entwickelt.«
»Von der Dilnea? Lassen Sie den Unsinn. Die Dilnea
existiert nicht. Sie ist das Produkt meiner Phantasie.«
»Ruhig, ganz ruhig, mein Lieber. Wenn Sie sich so
aufregen, können wir uns nicht verständigen. Wir beide wollen jetzt
nicht entscheiden, ob die Dilnea existiert oder nicht. Wir wollen
nur über Tinej und seine Theorie sprechen. Gäbe es die
physikalischen Ideen Tinejs nicht, hätte ich nicht auf Ihren
Planeten fliegen können! Vielleicht bilden Sie sich ein, ich sei
hierher geraten dank dem naiven und unsinnigen Mittel, wie Sie es
sich in Ihrer Erzählung ›Uära‹ ausgedacht haben?«
»Wieder beharren Sie auf Ihrem Standpunkt!« unterbricht
er mich. »Ich verstehe gar nichts, beginne aber zu begreifen.
Vielleicht ist das eine besondere, immanente Art der Kritik? Der
mit Ironie und Skepsis ausgerüstete Kritiker gibt sich für den
Helden des Werkes aus und versucht gewissermaßen, es von innen her
zu kritisieren?«
»Sie sind ein Anthropozentrist! Ein Anthropozentrist,
obwohl Sie über den Kosmos schreiben. Sie glauben, daß die ganze
Welt sich um Sie dreht. Sehen Sie ein wenig von Ihrer eigenen
Person ab und versuchen Sie, meine Worte zu verstehen;
folgen Sie dem Rat Spinozas.«
»Was hat das mit Spinoza zu tun? Weshalb verstecken Sie
sich hinter dem Rücken dieses Weisen? Ich glaube beinahe, ich bin
das Opfer eines unwürdigen Spiels, eines bedauerlichen Experiments
und dummen Scherzes geworden. Wer sind Sie?«
»Wer ich bin? Wie oft soll ich Ihnen noch auf diese
Frage antworten! Ich bin jener, der niemandem ähnlich
ist.«
»Das ist nicht viel!«
»Ich…«
»Sie sind ein Spieler!«
»Ja, ich bin ein Spieler. Endlich haben Sie das
treffende Wort gefunden. Ich spiele mit Zeit und Raum, um etwas
sehr Wichtiges zu gewinnen.«
»Und was?« fragt er lächelnd.
»Die Möglichkeit, ›hier‹ und ›dort‹ gleichzeitig zu
sein. Ich bin ein Spieler. Sie haben das treffend formuliert. Sehr
treffend.«
»Klammern Sie sich nicht an Worte. Ich hatte etwas ganz
anderes im Auge: einen Spieler, der ein Spiel spielt, wie es einem
erwachsenen Menschen nicht ansteht. Das ist ein
Dummerjungenstreich. Schluß damit, ich lasse mich nicht für dumm
verkaufen. Ich kann Maßnahmen ergreifen.«
»Und was für welche? Das ist ja interessant.«
»Ganz beliebige, aber solche, die Ihrem unwürdigen Spiel
sofort ein Ende setzen. Mich kennt man recht gut in Ihrer
Universität.«
»Es gibt ein besseres Mittel, wenn Sie sich von mir
befreien wollen.«
»Welches denn?«
»Schicken Sie mich doch auf die Dilnea zurück. Über Ihre
Erfindung verfügen Sie ja wohl allein? Oder haben Sie einen
Mitautor?«
»Genug! Hören Sie auf! Ich bin nicht hierhergekommen, um
dieses unwürdige Spiel in die Länge zu ziehen.«
»Weshalb sind Sie dann gekommen?« Er antwortet nicht, es
ist, als hätte er meine Frage gar nicht gehört.
»Weshalb also?« wiederhole ich.
»Stellen Sie sich vor«, sagt er leise und traurig, »ich
weiß selbst nicht, warum.«
Mich erschüttert der aufrichtige, beinahe rührende Ton,
in dem er dies sagt.
»Ich habe Sie lange gesucht«, fährt er fort, »Sie haben
mir Ihre Adresse nicht zurückgelassen. Ich habe Sie gesucht, aber
manchmal schien es mir, als ob ich nicht Sie, sondern mich selbst
suchte. Nach Ihrem Besuch war irgend etwas in mir zerstört worden.
Es war, als hätten Sie mir etwas genommen und mit sich
fortgetragen. Es war mir nicht sofort klar, daß Sie mir meine
Sicherheit genommen und weggetragen haben. Die Menschen lieben
nichts Geheimnisvolles und Rätselhaftes. Deshalb ist ja gerade vor
vielen Jahrhunderten die Wissenschaft entstanden, damit die
Menschheit von all dem Seltsamen und Rätselhaften befreit und ihr
der Glaube an sich selbst und an die Naturgesetze gegeben würde.
Die Menschheit ist längst erwachsen. Das ganze Leben lang habe ich
das Wissen und die Wissenschaft gepriesen. Und plötzlich fing ich
an zu zweifehl. Bei der Suche nach einem Ausweg ist meine Logik in
ein Labyrinth geraten. Sollte ich annehmen, daß mein erdachter
Planet wirklich existiert und ich allen Gesetzen der Logik zum
Trotz die reale Existenz eines gewissen Reisenden namens Raurbef
erraten habe? Ich selbst habe mir diesen Namen ausgedacht. Und das
kann ich Ihnen beweisen. Ich habe meine Erzählung im Februar
geschrieben. Lesen Sie das Wort Februar rückwärts, von rechts nach
links. Daher also der Name Raurbef. Und Sie wollen mich überzeugen,
Sie seien eine Realität.«
»Zufällige Übereinstimmung«, unterbreche ich ihn,
»reiner Zufall. Suchen Sie immer noch Beweise? Aber würden Sie sie
ernsthaft suchen, wenn jemand Ihre Realität anzweifelte? Suchen Sie
nicht, es wird Ihnen ohnehin nicht gelingen, mich davon zu
überzeugen, daß ich ein Scharlatan oder Clown sei.«
»Aber was sind Sie dann?«
»Und was sind Sie?«
»Ich bin Astrobiologe und Schriftsteller. Jeder Leser
kann das bestätigen. Doch wer kann bestätigen, daß Sie nicht
Larionow sind, sondern jener andere, der durch das Spiel meiner
Phantasie entstanden ist? Wer kann das bestätigen?«
»Bestätigen?« wiederhole ich. »Mein Gedächtnis. Im
Gedächtnis liegen ja die Wurzeln, die Quellen jeder Persönlichkeit,
jedes Ichs. Wie anders könnte ich mich an all das erinnern, was ich
erkannt und erlebt habe, bevor ich zur Erde geflogen
kam?«
»Das haben Sie sich ausdenken können.«
»Nein, Ausdenken und Gedächtnis sind nicht dasselbe. Ich
erinnere mich an meine Kindheit und Jugend. Sie haben sich nicht
hier auf der Erde abgespielt. Tausende Ereignisse und Umstände sind
in meinem Gedächtnis aufbewahrt. Ausdenken kann man sich eine Sache
oder sogar ein Gefühl, doch Vater, Mutter, Brüder, Schwestern,
Großvater und Großmutter kann man sich nicht ausdenken; aus dem
Nichts kann man nicht jene erschaffen, die einen selbst erst in die
Welt gesetzt haben. Ich sehe das Haus förmlich vor mir, über dessen
Schwelle ich zum erstenmal in die Welt getreten bin.«
»Wo steht denn dieses Haus?«
»Viele Lichtjahre von hier. Vor dem Tor gab es einen
Fluß. Und vor dem Fenster stand ein Baum. Vielleicht steht er noch
immer dort und wartet auf meine Rückkehr. Der geliebte Baum meiner
Kindheit. In den Zweigen dieses Baumes sangen für mich das erstemal
die Vögel. Ich würde viel darum geben, wenn ich noch einmal ihren
Gesang hören könnte.«
»Das, wovon Sie erzählen, hätte auch auf Erden geschehen
können. Auch hier gibt es Häuser, Flüsse und Bäume, in deren
Zweigen die Vögel singen.«
»Sie möchten, daß ich mich an das erinnere, was es auf
Erden nicht geben kann? Die Dilnea ist der Erde allerdings sehr
ähnlich…«
»Ja«, unterbricht er mich; es ist, als ob er den Faden
unseres Gespräches verlören hätte. »Das haben mir die Kritiker und
Leser nicht selten zum Vorwurf gemacht. Sie warfen mir Mangel an
Phantasie vor.«
»Was hat das damit zu tun«, sage ich kühl. »Die Dilnea
ist eine Realität, sie ist unendlich realer, als Sie es sind und
Ihre Leser. Sie waren noch nicht auf der Welt, da hat sie bereits
existiert, und wenn Sie nicht mehr dasein werden, wird sie immer
noch existieren.«
»Sie erinnern sich nur immerzu«, unterbricht er mich
wieder. »Aber bisher haben Sie noch nichts angeführt, was mich
umstimmen könnte.«
»Ich erinnere mich nicht deswegen, um, Sie
umzustimmen.«
»Weshalb dann?«
»Deshalb, um selbst etwas, was existiert, zu verstehen
und zu fühlen. Niemand von all den Schriftstellern auf der Erde hat
die Abhängigkeit des Menschen von seiner Umgebung besser begriffen
als Balzac, Balzac hat etwa folgendes gesagt: ›Über all das können
sich die Menschen, die von den Gesetzen der Zeit, des Ortes und der
Distanz gefesselt sind, nur schwer eine Vorstellung machen.‹ Das
ist sehr gut gesagt! Was meinen Sie?«
»Balzac hat das zu einer Zeit gesagt, als die Menschen
noch in Postkutschen reisten.«
»Um so erstaunlicher. Er hat also die Möglichkeit des
Sieges über die Gesetze der Zeit, des Ortes und der Entfernung
vorausgesehen!«
»Diese Gesetze sind unerschütterlich
geblieben.«
»Für Sie, die Erdenmenschen. Den Dilneanern ist es
gelungen, sich von ihrer Macht zu befreien, wenn das nicht so wäre,
säße ich jetzt nicht mit Ihnen in diesem Hotelzimmer.«
»Wieder fangen Sie davon an! Sie Starrkopf! Sie bilden
sich doch nur ein, Raurbef zu sein, der kosmische Wanderer. Langsam
begreife ich. Vielleicht ist das ein psychologisches Experiment.
Vielleicht möchten Sie wissen, was in einem Menschen vor sich geht,
der sich außerhalb der Gesetze von Zeit, Ort und Entfernung
befindet? An Ihrem Gesichtsausdruck spüre ich, daß ich richtig
geraten habe.«
»Wenn Sie beobachten könnten, wie alle Vertreter Ihres
Berufes, müßten Sie bemerkt haben, daß mein Gesichtsausdruck häufig
wechselt.«
»Das habe ich bemerkt. Doch was folgt daraus? Sie sind
offenbar ein für Eindrücke sehr empfänglicher Mensch.«
»Vor allem bin ich kein Mensch.«
»Was sind Sie dann?«
»Ein Dilneaner.«
Er lacht. »Mich amüsiert Ihr Starrsinn. Wir hatten uns
schon fast geeinigt. Ich hatte erraten, daß Sie Psychologe sind,
der an sich selbst eine interessante Erfahrung machen will. Sie
aber beharren darauf… Kehren wir lieber zu Ihrer Erfahrung zurück.
Sie hat mich sehr interessiert. In der Tat, was muß ein Individuum
fühlen, das den Gesetzen der Zeit und des Raumes nicht mehr
unterliegt.«
»Individuum? Sie haben dieses Wort doch wohl nicht
zufällig angewandt. Sie sind also schon zur Hälfte damit
einverstanden, Haß ich kein Mensch bin. Ich danke für das kleine
Zugeständnis, doch Sie müssen sich noch ein klein wenig anstrengen
und endlich daran glauben, daß ich von der Dilnea bin.«
»Nun gut«, sagt er. »Ich bin auch dazu bereit. Ich
verstehe. Sie können Ihr Experiment leichter durchführen, wenn es
Ihnen gelingt, sich davon zu überzeugen, daß Sie Raurbef sind. Ich
will nicht widersprechen. Ich bin bereit, Sie anzuhören.«
Ich lache, lache aufrichtig und von ganzem Herzen. »Sie
möchten also, daß ich an meiner Realität zweifele? Mein Lieber
haben Sie mir nicht meine Vergangenheit, mein ganzes Leben, meine
Erfahrung, meine Freuden und Leiden geschenkt? Nein, lassen Sie uns
doch ganz offen miteinander sprechen. Ich möchte Ihnen auch eine
Frage stellen. Woher haben Sie von der Existenz der Dilnea erfahren
und wie sind Sie daraufgekommen, daß ich ebenfalls existiere?
Ehrlich gesagt, das widerspricht der Logik und dem gesunden
Menschenverstand.«
»Ich habe alles frei erfunden.«
»Und Sie möchten, daß ich Ihnen Glauben schenke? Sie
sind ein Spaßvogel. Oder noch besser, ein Spielet! Ich gebe Ihnen
dieses Wort zurück. Hören Sie endlich auf, mit mir zu spielen.
Sagen Sie die Wahrheit. Auf der Dilnea schätzt man die Wahrheit
nicht weniger als auf der Erde.«
»Die Wahrheit hat eine Eigentümlichkeit. Es gibt nur
eine. Es kann nicht zwei Wahrheiten auf der Welt geben. Es gibt nur
eine Wahrheit.«
Plötzlich schweigt er. Dann erhebt er sich aus dem
Sessel, verabschiedet sich und geht.
Damit ist unser seltsames Gespräch beendet.
15
Ich bin kein Mensch. Ähnlich dem Melmoth kann ich mich
innerhalb weniger, Augenblicke überall dort befinden, wo es mir
beliebt. Im Grunde ist jeder, der von der Dilnea stammt, ein
Melmoth oder ein Goethischer Faust. Ein Mensch, der den Tod nicht
kennt, ist kein Mensch mehr. Das ererbte Informationsgedächtnis
unterrichtet die Moleküle und Zellen meines Organismus über ihr
eigentliches Sein und über ihre Treue sich selbst gegenüber; es
fürchtet keine Entropie, kein »Altern«, wie die Menschen es nennen.
Ich werde ewig jung sein. Schon Balzac ahnte, was das
bedeutet.
Was bedeutet es also? Ich werde es gleich erklären. Ein
Mensch, der, unabhängig von den Gesetzen der Zeit und des Alterns,
die Vergänglichkeit besiegt, hört auf, Mensch zu sein. Zellen und
Moleküle altern nicht. Doch wie steht es mit dem Gedächtnis? Sind
ihm etwa keine Grenzen gesetzt? Kann dieser neue, niemals alternde
Mensch seine ganze Vergangenheit, die Jahrtausende umfaßt, immer
mit sich oder in sich herumtragen?
Auf diese Frage kann ich keine genaue Antwort geben. Ich
lebe ja erst 350 Jahre. Aber Geduld – irgendwann werde ich einmal
antworten. Ich befinde mich ja erst am Anfang meines langen Weges.
Die Wissenschaft auf der Dilnea hat erst vor relativ kurzer Zeit
erkannt, wie man den Augenblick anhält und die Entropie auf dem
Leben der Molekular- und Zelleninformation entfernt. Aber davon
ahnt niemand etwas, am wenigsten Vera.
Vera! Sie besteht noch immer darauf, daß sie mich schon
früher gekannt hat. Sie ist überzeugt davon und möchte auch mich
überzeugen.
»Erinnerst du dich, Kolja«, fragt sie mich, »wie wir
beide am Telezker See neben dem Lagerfeuer der Fischer übernachtet
haben?«
»Ist das schon lange her?«
»Das war vor drei Jahren.«
»Vor drei Jahren erst? Ich kann mich sogar an Dinge
erinnern, die vor dreihundert Jahren geschehen sind.«
»Da gab es uns beide ja noch gar nicht.«
»Dich nicht, aber mich.«
»Du machst doch bestimmt Spaß, Nikolai!«
»Schon möglich.«
»Du redest manchmal so merkwürdig. Was ist in diesen
anderthalb Jahren nur mit dir geschehen? Verheimlichst du mir
etwas? Manchmal scheint es mir, als hätte man dich vertauscht. Als
wärst du nicht du!«
»Wer sollte ich denn sein?«
Sie antwortet nicht.
»Sag, wer?«
»Das mußt du besser wissen.«
»Du gehst jetzt also nicht mit mir… Mit wem denn
dann?«
»Mit dir, beruhige dich. Mit dir gehe ich. Ich habe dich
geliebt und liebe dich, so wie früher. Doch weshalb machst du so
seltsame Scherze?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Und woran denkst du jetzt? Du siehst aus, als ob du
weit weg wärst.«
»Ich denke darüber nach, was das Leben ist.«
»Frag ein Kind, und es wird dir antworten.«
»Nein, nicht jeder weiß es. Ein Denker hat gesagt, das
Leben sei eine einzige Kette von Gewohnheiten. Was meinst du, hat
er recht?«
»Gewohnheiten? Teilweise stimmt das. Ohne Gewohnheiten
kann man nicht leben. Ich habe mich zum Beispiel daran ge wöhnt,
dich zu sehen und deine Stimme zu hören. Es gefällt mir, neben dir
herzugehen. Das ist auch eine Gewohnheit. Ist das etwa
schlecht?«
Ich weiche der Antwort aus. Wollte ich ihr antworten,
müßte ich ihr sagen, daß das Leben auf der Dilnea ein Kampf gegen
jede Gewohnheit, ein heftiger Kampf gegen die Routine ist. Auf der
Dilnea kämpft man gegen die Gewohnheiten, um sie nicht über den
eigenen Wissensdrang siegen zu lassen, über den Wunsch, täglich
etwas Neues zu schaffen, Hindernisse zu überwinden und allem zu
widerstehen, was im Wege steht. Aber das sage ich ihr nicht. Ich
kann ihr nichts von der Dilnea erzählen. Für sie bin ich ein
irdischer Mensch, und irdisch, nur irdisch, muß ich ihr gegenüber
bleiben.
»Erinnerst du dich, Kolja?« fragt sie
träumerisch.
Mit solchen Fragen möchte sie wohl die Kluft zuschütten,
möchte sie die Entfremdung beseitigen, die uns trennt.
»Erinnerst du dich, Kolja, wie wir…«
Dummchen! Ich kann mich noch daran erinnern, wie die
Kutschen hier durch die Straßen jagten und Würdenträger mit
gepuderten Perücken beforderten. Ich habe den Dichter Dershawin
gesehen, wie er in singendem Tonfall eine lange Ode vortrug, ich
habe die leibeigenen Bauern den Sumpf an der Stelle
zuschütten sehen, wo du jetzt stehst. Ich habe gesehen… Ich habe
zuviel gesehen und erinnere mich an zu vieles, und das hindert mich
daran, mit dir zu sprechen und dich anzusehen. Hinter deinem Rücken
sehe ich die Unendlichkeit: den Kosmos, das Nichts und das Vakuum,
das ich überwunden habe, um hierherzugelangen, neben dir zu sein,
in demselben Jahrhundert, in dem du lebst. Du sagst, wir sind
zusammen. Ja, zusammen. Doch bevor ich mit dir zusammen war, mußte
ich… Nein, das vergißt man lieber.
»Warum antwortest du denn nicht, Kolja? Bist du wieder
abwesend. Liebster?«
»Nein, ich bin hier. Nur hier und an keinem anderen
Ort.«
16
Wenn ich für längere Zeit aus dem Hotel weggehe oder wegfahre,
nehme ich immer das Etui mit, in dem sich das Klümpchen wunderbarer
Materie befindet, das von Emotionen, Leidenschaften, Vorurteilen
und Erinnerungen erfüllt ist. Ich trage es immer bei mir; ständig
verfolgt mich die Angst, es irgendwo liegenzulassen oder zu
vergessen. Ich gebe es nicht aus den Händen. Aufmerksame Menschen
haben das längst bemerkt und auf ihre Weise gedeutet. Sie denken,
ich habe ein Manuskript oder Aufzeichnungen bei mir, von denen ich
mich nicht trennen will. Darin liegt ein Körnchen Wahrheit. In dem
Klümpchen wunderbarer Materie schreibt das Leben selbst all das
auf, was des Aufschreibens und der Erinnerung wert ist.
Zur Zeit erhole ich mich an der Schwarzmeerküste und
wohne in einem Sanatorium. Ich besteige gern hohe Berge und gehe
ganz schmale Pfade dicht am Abgrund entlang. Manchmal mache ich
auch lange Spaziergänge in Gesellschaft anderer Kurgäste, meistens
aber gehe ich allein. Und wohin ich auch gehe, überall trage ich
das Etui bei mir; darin ist diejenige, die mit mir von der Dilnea
hergeflogen ist.
Manchmal bleibe ich irgendwo in einem stillen Winkel des
Waldes auf einer Lichtung stehen, schaue mich um, und wenn niemand
in der Nähe ist, hole ich das Etui hervor und nehme das Klümpchen
wunderbarer Materie heraus.
Gerade jetzt habe ich es wieder hervorgeholt. Ringsum
ist niemand. Tiefe Stille.
»Eroja«, frage ich leise, »hörst du mich?«
»Ich höre dich, Raurbef«, antwortet sie. Und dann fragt
sie ihrerseits: »Müssen wir noch lange auf diesem seltsamen und
erstaunlichen Planeten bleiben?«
»Ich weiß nicht, Eroja«, entgegne ich.
»Wer weiß es denn sonst?«
»Natürlich niemand, aber für uns ist es noch zu früh,
nach Hause zurückzukehren.«
»Nach Hause?« Sie ertappt mich bei einem nicht ganz
exakt angewandten Wort. »Du sagst, nach Hause? Haben wir etwa ein
Zuhause? Wir beide sind doch ewige Wanderer.«
»Du hast recht, Eroja. Ich kann nicht lange an einem Ort
bleiben, mich zieht es in die Ferne, das Unbekannte lockt, die
Unendlichkeit der Zeit und des Raumes.«
»Und warum willst du so lange hierbleiben?«
»Du weißt, warum, Eroja. Ich schreibe ein Buch, in dem
ich all das darlegen möchte, was Wissenschaft und Technik auf der
Dilnea erreicht haben. Das ist mein Geschenk an die Menschen auf
der Erde. Ich habe sie liebgewonnen, Eroja.«
»Weswegen?«
»Weil sie Menschen sind, weil sie die Welt und sich
selbst verändern. Unlängst ging ich die Straße entlang. Da kam mir
eine junge Mutter entgegen, vor ihr fuhr ein Wagen, ein
automatischer Kinderwagen mit einem Kind. Ich fragte die mir
unbekannte Frau, ob ich ihr Kind bewundern dürfe, und bat sie, den
Wagen anzuhalten. Sie erfüllte mir die Bitte. Ich nahm das Kind auf
die Arme. Es war ein reizendes Mädchen. Sie hieß Lenotschka. Sie
konnte noch nicht sprechen, sondern lallte nur. Ich hörte ihr
Lallen und hielt sie auf dem Arm. Sie faßte mir mit ihren kleinen
Händchen ins Gesicht und zauste mich an den Haaren; mir war, als
hielte ich die ganze Menschheit auf dem Arm. Das Kind lachte.
Plötzlich durchfuhr mich ein unerwarteter Schmerz. Mir war, als
müßte ich mich von der Menschheit trennen und die Erde verlassen,
um nie wieder auf sie zurückzukehren. Verstehst du dieses Gefühl,
Eroja?«
»Ich verstehe es, Raurbef. Du möchtest nicht mehr weg.
Dir gefällt es hier.«
»Das ist nicht das richtige Wort. Es geht nicht darum,
ob es mir hier gefällt oder nicht gefällt. Mir hat es überall
gefallen. Doch du hast recht: Ich möchte nicht mehr weg. Ich habe
die Erde liebgewonnen, das Singen der irdischen Vögel, den Duft der
irdischen Zweige. Ich sehe mir alles ringsum an und kann mich nicht
satt sehen. Verstehst du das, Eroja?«
Sie schweigt. Als Klümpchen Materie, als
Informationsspeicher, kann sie sich nur an Vergangenes erinnern, an
jene fernen und fremden Erlebnisse, die sich in ihrem künstlichen
und kunstvollen Mechanismus widerspiegeln. Ich hätte sie nicht
danach fragen sollen, was sie nicht weiß und nicht wissen
kann.
17
Ich habe das Etui verloren. Wie konnte das geschehen? Ich weiß
es selbst nicht. Vielleicht habe ich es auf der Waldlichtung oder
auf einem Berggipfel liegenlassen? Anfangs konnte ich es einfach
nicht fassen. Aber dann, als mir die volle Tragweite des
Geschehenen bewußt wurde, war ich verzweifelt. Jetzt ist Eroja
nicht mehr bei mir, das Klümpchen Materie, das die ferne und
heimatliche Welt in sich birgt. Natürlich habe ich zu niemandem von
meinem Verlust gesprochen. Ich hoffe immer noch, das Etui
wiederzufinden. Täglich gehe ich auf die Suche. Natürlich könnte
das dünne Fädchen, das mich mit der Vergangenheit verband, einmal
reißen. Aber ich muß das Etui wiederfinden, und sollte ich ein Jahr
danach suchen.
Eine Woche vergeht, und da finde ich es eines Tages. Das
Etui liegt im Gras. Ich öffne es und hole das Klümpchen Materie
heraus. Hier liegt es, auf meiner Hand. Vorsichtig lege ich es auf
einen Stein, sehe mich um, ob niemand in der Nähe ist, und rufe:
»Eroja, hörst du mich?«
Schweigen.
»Eroja!« wiederhole ich lauter. »Hörst du
mich?«
Wieder keine Antwort.
Der Mechanismus ist doch nicht etwa defekt? denke ich
bei mir. Oder war das Klümpchen Materie vielleicht in fremden,
unbefugten Händen?
»Eroja?« schreie ich.
Plötzlich höre ich, meinen Ohren nicht trauend und noch
völlig verständnislos: »Bist du es, Raurbef? Sei
gegrüßt.«
Das Klümpchen liegt neben mir auf dem Stein, die Stimme
aber kommt von weit her, als ob sie nur mit größter Mühe eine
gewaltige Entfernung überwindet.
»Bist du es, Raurbef?«
»Ich bin es! Ich bin es!« schreie ich, mit meinem ganzen
Wesen zu ihr drängend. »Ich bin es!«
Wie ein Echo, kaum hörbar, dringt es aus der Ferne an
mein Ohr: »Bist du es, Raurbef? Wo bist du? Bist du weit von
mir?«
»Eroja!«
»Raurbef!«
18
Ich eile, meine Arbeit zu beenden, mein Buch über die Dilnea
und ihre Bewohner. Ich habe Grund zur Eile. Ich fühle, daß mein
Gedächtnis mit jedem Tag mehr nachläßt, kann mich aber nicht dazu
entschließen, zu den irdischen Ärzten zu gehen. Und warum nicht?
Vielleicht, weil die irdische Medizin gegenüber der unseren um
viele Jahrhunderte zurück ist? Nein, nicht nur deshalb. Wie könnte
ich mich einem Arzt zeigen? Schon eine erste gründliche
Untersuchung würde jeden Arzt erkennen lassen, daß sein Patient
kein Mensch ist. Wie könnte ich einem Spezialisten jene
Besonderheiten meiner Morphologie und Anatomie verheimlichen, die
nur infolge der Kleidung nicht zu bemerken sind? Nein, ich kann
mich vor den irdischen Ärzten nicht sehen lassen. Mein Gedächtnis
aber läßt nach, mein gigantisches, nicht menschliches Gedächtnis,
das Tatsachen aus drei Jahrhunderten aufbewahrt.
Ich versuche, die Theorie Tinejs darzulegen, und fühle
meine Ohnmacht. Die Fakten und logischen Schlüsse entschlüpfen mir.
Es ist seltsam, ganz deutlich und klar erinnere ich mich an alle
Ereignisse aus meiner Kindheit und Jugend, dann aber ertappe ich
mich dabei, daß ich mich nicht entsinnen kann, wie ich auf die Erde
geraten bin. Wäre mir das vor einem Monat passiert, hätte ich
Eroja, das Klümpchen wunderbarer Materie, aus dem Etui genommen und
sie gebeten, mir all das, was ich jetzt plötzlich vergessen habe,
ins Gedächtnis zurückzurufen. Doch mit dem Klümpchen Materie ist
etwas mir Unverständliches geschehen. Die Stimme Erojas kommt von
weit her, wie ein Echo, ein Seufzer, ein Anruf, der sich im
unermeßlichen Raum verliert. Eroja ist nur noch imstande, wie ein
Echo zu antworten und an ihre Existenz zu erinnern, sie kann aber
nichts mehr sagen.
Wahrhaftig, wann bin ich eigentlich auf die Erde
gekommen? Manchmal scheint es mir, daß es schon sehr lange her sein
muß.
Ich schreibe eilig alles auf, was ich über die Dilnea
weiß. Doch ich habe wenig Zeit, die Umstände drängen mich, und ich
darf nur das Allerwichtigste berichten.
Versetzen Sie sich einmal in meine Lage. Stellen Sie
sich vor, Ihre Tage seien gezählt, und Sie müßten das
Allerwichtigste über die Erde solchen Leuten erzählen, die
keinerlei Vorstellungen davon haben.
Das wichtigste ist, daß die Bewohner der Dilnea, meine
Landsleute und Zeitgenossen, ganz andere Beziehungen zur Zeit haben
als die Erdenmenschen.
Die bekannte französische Schriftstellerin Madame de
Stael, die zu Beginn des XIX. Jahrhunderts lebte, wurde einmal von
einem ihrer Bekannten gefragt, wie sie zur christlichen Idee der
Unsterblichkeit stehe, das heißt zum Leben im Jenseits. Madame de
Stael lächelte ironisch und antwortete: »Wenn man mir die Garantie
gäbe, daß ich im Jenseits Madame de Stael mit all meinen
Gewohnheiten, mit meinem Geschmack, meinen Gütern und meinem Ruhm
bliebe, würde ich mich vielleicht für diese eigenartige Idee
interessieren.«
Aber wer konnte ihr schon so eine Garantie geben? Auf
keinen Fall diejenigen, unter denen sie lebte.
Was aber wollte Madame de Stael damit sagen? Daß die
Individualität und die christliche Idee der Unsterblichkeit sich
miteinander in einem logischen Widerspruch befinden; man kann die
persönlichen Eigenschaften nicht bewahren, wenn man in die
Unsterblichkeit eintritt.
Doch jetzt geht es nicht um die illusorische christliche
Unsterblichkeit, sondern um die wirkliche Unsterblichkeit, die die
Wissenschaft uns, den Dilneanern, geschenkt hat.
Es hat den Anschein, daß ich unsterblich bin oder fast
unsterblich. Das Alter droht weder mir noch irgendeinem meiner
Landsleute. Aber das Gedächtnis? Ist es imstande, tausendjährige
Erfahrungen mit sich herumzutragen, das heißt, nicht nur die
historischen Erfahrungen vieler Generationen, sondern die
individuellen, rein persönlichen Erfahrungen, die Erlebnisse meines
eigenen Ichs?
Ich kann diese Fragen nicht beantworten, besonders jetzt
nicht, wo mir das Gedächtnis den Dienst zu versagen
beginnt.
Ich habe mich gerade dabei ertappt, daß ich mich nicht
mehr erinnern kann, wie in meiner Muttersprache, der Sprache meiner
Jugend und Kindheit, das Fürwort »du« lautet. Ich weiß noch, wie
die Wörter »wir«, »ich« und »sie« lauten, aber an das Wort »du«
kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich gehe von einer Ecke zur
andern und strenge mein Gedächtnis an, aber da hat sich eine
Erinnerungslücke gebildet.
Wie kommt das? Wie konnte das geschehen? Meine unruhigen
Gedanken werden vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Ich gehe an
den Apparat, nehme den Hörer ab und sage: »Ja, bitte?«
Eine zärtliche Frauenstimme fragt leise: »Bist du es,
Kolja?«
»Ja.«
»Hier spricht Vera. Weshalb kommst du nicht herunter?
Ich warte auf dich, wir sind doch verabredet. Komm herunter,
Liebster.«
»Sofort! Warte. Ich komme.«
Während der Fahrstuhl mich nach unten fahrt, flüstere
ich jene Wörter vor mich hin, an die ich mich erinnere, als fürchte
ich, sie morgen vergessen zu haben.
Nun stehe ich im Foyer. Aus Veras großen Augen leuchten
Freude und Dankbarkeit.
»Du bist also noch hier?« fragt sie, als ob sie ihren
Augen nicht traue.
Wir lassen uns in einer Ecke nieder.
»Kannst du dich erinnern«, fragt sie, »wie wir beide
beim Skilaufen meinen Schneesturm geraten sind?«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern. Hilf mir…« Und sie
erzählt, als wolle sie das Verlorene zurückholen.
Ich höre zu und denke besorgt über mich nach. Sie kann
mir all das erzählen, was gar nicht mit mir geschehen ist, sie hält
mich ja für einen anderen. Wer aber wird mich daran erinnern, was
tatsächlich gewesen ist, wer erinnert mich an die Dilnea, an die
wirklichen Tatsachen und Ereignisse, die ich zu vergessen
beginne?
Wer?
19
Aus dem Tagebuch des Astrobiologen und Schriftstellers
wissenschaftlich-phantastischer Werke
Tunjawski
Endlich ist das Rätsel gelöst, das mich, meine Logik und
meinen angeborenen gesunken Menschenverstand fast ein Jahr lang
gequält hat.
Es gibt Menschen, die der Meinung sind, ein Autor
wissenschaftlich-phantastischer Literatur, der frei über seine
Phantasie verfüge, sei dem gesunden Menschenverstand und der Logik
des tatsächlichen Lebens überhaupt nicht verpflichtet. Sein
Spezialfach selbst gäbe ihm gewissermaßen das Recht, beide zu
mißachten. Was mich betrifft, so war ich stets ein Anhänger des
gesunden Menschenverstandes, ein gehorsamer Diener der Logik. Und
deshalb hat mich die Ohnmacht und Unfähigkeit, das Problem zu lösen
und mich aus dem Labyrinth zu befreien, in das ich geraten war,
viele Tage lang gequält.
Wer ist denn dieser Nikolai Larionow, der mich mit
solcher Hartnäckigkeit zu überzeugen suchte, daß er Raurbef sei?
Hat er sich selbst dazu ernannt? Ist er ein Verrückter? Oder ein
Spaßvogel?
Das Rätsel hat mir bis gestern zu schaffen gemacht, bis
ich die gerade erschienene Nummer der Zeitschrift »Wissenschaft und
Zukunft« aufschlug. Dort erblickte ich das Bild Nikolai Larionows
und machte mich mit seiner mehr als seltsamen Biographie
vertraut.
Ja, er ist Nikolai Larionow. Und nur Nikolai Larionow.
Aber trotzdem hat er den kosmischen Wanderer Raurbef nicht
gespielt, in gewissem Sinne ist er es im Laufe eines Jahres sogar
gewesen. In welchem Sinne? Diese Frage ist schwer zu beant worten.
In dem langen, von einem Spezialisten für Spezialisten
geschriebenen Artikel ist die Rede von einem überaus interessanten,
wenngleich nach meinem Dafürhalten anfechtbaren Experiment. In dem
Artikel wird auch mein Name, der Name des Autors der Erzählung
»Uära«, genannt, in der ich den nichtexistenten Planeten Dilnea und
den kosmischen Wanderer Raurbef – natürlich eine frei erfundene
Gestalt – beschrieben habe. Der Experimentator und Autor des
Artikels hat eine Art Entlehnung vorgenommen. Er hat die Erinnerung
an einige Ereignisse aus meiner wissenschaftlich-phantastischen
Erzählung in das Bewußtsein eines Menschen namens Nikolai Larionow
eingepflanzt. Eingepflanzt? Nein, das ist nicht, das richtige Wort.
Er hat sein Bewußtsein durch ein anderes ersetzt, hat ihm ein Leben
genommen und ein anderes dafür gegeben.
Eines Tages wurde ein Kranker, der das Gedächtnis
verloren hatte, in die Klinik des bekannten Kybernetikers und
Neurochirurgen Professor Iwanzew, des Autors des Artikels,
eingeliefert. Der Patient hatte in einem chemischen Laboratorium
gearbeitet, wo sich infolge eines Unglücksfalles etwas ereignete,
was ich mir jetzt selbst erzählen will. Durch den Unglücksfall
wurde jener Teil des Gehirns, der die Vergangenheit aufbewahrt, zu
einer Art leerem Blatt.
Der Tod drohte Larionow nicht. Aber kann man die rein
physische Existenz, der die Erinnerung an die Vergangenheit und
folglich die Empfindung der eigenen Persönlichkeit, des eigenen
Ichs, abhanden gekommen ist, noch als Leben bezeichnen? Natürlich
nicht. Und so kam dem Autor des Artikels, dem Experimentator
Iwanzew, der Gedanke, die leere Stelle auszufüllen und dem
Patienten die Möglichkeit zu geben, sich seines Lebens bewußt zu
werden und es zu empfinden. Professor Iwanzew war es nicht möglich,
die verlorene Vergangenheit wiederherzustellen; er beschloß daher,
Larionows Bewußtsein mit einem fremden Leben zu erfüllen. So bekam
er das Be wußtsein eines Reisenden, der von einem fremden Planeten
auf die Erde gekommen ist.
Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, rief ich
Professor Iwanzew an. Vielleicht hätte ich diesen Anruf wenigstens
eine Stunde hinausschieben sollen. Ich war sehr erregt und daher
nicht imstande, mich mit jener tadellosen Klarheit auszudrükken,
die ich höher schätze als alles andere auf der Welt.
»Der Schriftsteller Tunjawski?« fragte er mich, als ob
er seinen Ohren nicht traute. »Der Autor der ›Uära‹? Der Stimme
nach zu urteilen, sind Sie verärgert, weil Ihre erfundene und
obendrein phantastische Erzählung eine Fortsetzung im realen Leben
gefunden hat?«
»Wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Sie sich dann
nicht ärgern?«
»Warum erhitzen Sie sich deswegen? Und dazu noch am
Telefon. Wenn Sie Lust und Zeit haben, kommen Sie zu
mir.«
Sein Laboratorium befand sich in demselben hypermodernen
Gebäude wie die Klinik. Das Wort »Klinik« erweckt in mir stets eine
Reihe nicht besonders angenehmer Assoziationen, verbunden mit
Krankheiten und der langweiligen Atmosphäre von Krankenhauszimmern.
Das Gebäude lag in einem Wald und paßte tadellos in die Landschaft,
es war hell, etwas utopisch, kurz, eine Synthese aus den
romantischen Träumen und der sachlichen Nüchternheit des
Architekten.
Ich dachte so bei mir, daß die Schwerkranken all diese
Schönheit und Pracht mit Recht für überflüssig halten könnten. Es
ist bestimmt nicht einfach, sich dort von der Welt zu
verabschieden, wo sie einen so besonders schönen Rahmen
hat.
Iwanzew. Dieser Name war von einem geheimnisvollen
Nimbus umgeben. Im Grunde konnte man ihn fast einen Magier nennen,
wenn hinter dem, was er tat, nicht die größte Nüchternheit im
Verein mit der größten Kühnheit gestanden hätte: Physiologie,
gepaart mit der Gedankenwelt des Ingeni eurs und Technikers. Er
hatte fast Unmögliches geleistet… Iwanzew empfing mich schlicht und
herzlich, als wären wir schon lange miteinander bekannt.
Kaum waren wir allein und hatten uns gesetzt, als mich
seine Erzählung auch schon aus der Alltagswirklichkeit herausriß
und mich das Leben und die Biographie des Mannes gefangennahmen,
dessen Schicksal so seltsam mit meiner Phantasie verflochten
war.
»Ich bin Arzt und Ingenieur«, begann Iwanzew seine
Erzählung. »Physiologe, Neurochirurg und Biologe. Ich bin kein
Schriftsteller. Und wie andere habe auch ich mich oft gefragt,
warum ich ein so ungewöhnliches Experiment durchgeführt habe, das
eher einem Literaten als einem Arzt angestanden hätte. Aber was
würden Sie an meiner Stelle getan haben? Auf dem Krankenbett lag
ein Mann, Nikolai Larionow. Doch was war von dem Menschen
übriggeblieben, den man Nikolai Larionow nannte? Der Name, einige
Daten und Fakten, die in gedankenloser Bürosprache in seinen Akten
festgehalten waren, sowie einige Ereignisse, von denen seine
Bekannten und Freunde berichten könnten. Kann man die innere Welt
eines Menschen, kann man seine Persönlichkeit etwa aus den
fragmentarischen Erinnerungen seiner Zeitgenossen wiederherstellen,
so daß ein lebendiger Mensch und kein Schema entsteht? Ich hatte
einen Menschen mit dem Bewußtsein eines Neugeborenen vor mir
liegen. Alles, was das Leben in seinem Gedächtnis aufgespeichert
hatte, war durch einen Unglücksfall in dem chemischen Laboratorium,
wo der Patient gearbeitet hatte, restlos ausgelöscht worden. Ich
war mit Larionow bekannt, wenn auch nur flüchtig. Wir hatten uns
bisweilen, vornehmlich feiertags, am gastlichen Tisch einer
gemeinsamen Bekannten getroffen. Mir schien Larionow ein ganz
alltäglicher Durchschnittsmensch zu sein, bis wir eines Tages ein
Gespräch miteinander hatten. Mich überraschte ein phantastischer
Wunsch, den Larionow mir gegenüber äußerte. Er gestand mir, er
wüßte zu gern, was ein lebendes Wesen empfinden würde, das von
einem anderen Planeten auf unsere Erde geriete. Er legte seine
Gedanken im einzelnen und sehr übersichtlich dar und gab ihnen eine
Art philosophische Basis. Er sprach von den Bildern des alten
Malers Pieter Brueghel d. Ä. der seiner Meinung nach die Menschen
und die irdische Welt als Abseitsstehender, gleichsam mit den Augen
eines außerhalb der Erde befindlichen Wesens gesehen hatte. Er
entwickelte seine Gedanken noch weiter und bezog sich schon nicht
mehr auf Brueghel, sondern auf Albert Einstein, nach dem die
objektive Erkenntnis der Welt von dem Erkennenden eia
›unpersönliches‹ Verhältnis zur Wirklichkeit erfordert. Jedesmal,
wenn wir uns begegneten, kehrte Larionow mit einer mich in
Erstaunen versetzenden Beharrlichkeit zu diesem Thema zurück.
Einmal fragte er mich: ›Könnten Sie auf künstlichem Wege die innere
Welt eines Menschen schaffen?‹ Ich antwortete: ›Natürlich nicht
ganz, sondern nur das Gedächtnis.‹ – ›Aber das Gedächtnis ist doch
die Geschichte der Persönlichkeit‹,
entgegnete er. ›Die Geschichte der Persönlichkeit ist noch nicht
der ganze Mensch, sondern nur eine Hälfte von ihm, wandte ich
ein.‹ Er sah mich an. An diesen Blick
mußte ich lange denken. So blicken Menschen, die von einem Gedanken
besessen sind, der stärker ist als sie. Als das Unglück in dem
chemischen Laboratorium geschah, fragte ich mich, ob Larionow es
nicht absichtlich herbeigeführt habe. Doch nein, die sorgfältige
Untersuchung durch eine spezielle Kommission der Akademie ergab,
daß die Katastrophe einem Zufall zuzuschreiben war. Das übrige ist
Ihnen aus meinem Artikel bekannt. Sie scheinen sich über den
Umstand zu wundern, daß ich die Idee Ihrer Erzählung ›Uära‹
verwandt habe, Ihnen meine Mitautorschaft aufgedrängt und Sie nicht
davon benachrichtigt habe. Das ist allerdings eine Mitautorschaft
besonderer Art. Außerdem war das Experiment geheim. Niemand von den
Freunden und Verwandten Larionows sollte erfahren, was nur wir, die
Wissenschaftler, wußten. In unserem Telefongespräch haben Sie eine
Bemerkung über die ethische Seite unseres Experiments gemacht.
Nein, meine Mitarbeiter und ich sind überzeugt, daß wir nichts
getan haben, was der Würde des Menschen und der sittlichen Seite
dieses komplizierten Problems abträglich wäre. Vor uns lag eine Art
leeres Blatt Papier, und wir haben daraufgeschrieben, was sich der
Patient selbst inständig gewünscht hatte. Ihm seine Persönlichkeit
zurückzugeben lag nicht in unserer Macht. Ihn zur Kopie, zum
geistigen Zwillingsbruder irgendeines lebenden Zeitgenossen zu
machen, hielten wir ethisch nicht für vertretbar…«
»Warum nicht?« unterbrach ich Iwanzew.
Der Professor lachte auf und sah mich an, als säße neben
mir mein Zwillingsbruder, eine geistige Kopie meiner
selbst.
»Weil jedes Individuum einmalig ist. Die Wiederholung,
die buchstäbliche Übereinstimmung eines Menschen mit einem anderen,
der in derselben Zeit und im selben Raum existiert, widerspricht
dem Wesen des Menschen. Etwas anderes ist die Modellierung der
inneren Welt eines Wesens von einem anderen Planeten. Eine
Begegnung ist in diesem Falle ausgeschlossen, solange sich unsere
Welten nicht berühren. Unsere Wahl fiel auf Raurbef, den Helden
Ihrer Erzählung. Warum? Vor allem, weil er der Prototyp einer
starken und edlen Persönlichkeit mit einem reichen geistigen
Innenleben ist. Ich kann nicht sagen, daß mich Ihre ganze Erzählung
interessiert hätte, aber dieser Held war interessant für mich. Ich
habe mich bemüht, Ihre Gedanken durch meine eigenen zu ergänzen.
Denn als Sie Ihre Erzählung schrieben, konnten Sie ja nicht ahnen,
daß sich Ihr vorgestellter Held mit einem lebendigen und konkreten
Menschen vereinen würde. So verwunderlich es auch ist, genau das
ist geschehen, allerdings nicht für lange. Wie Ihnen aus meinem
Artikel bekannt ist, hat Raurbef-Larionow unter dem Eindruck
starker Erlebnisse sein Gedächtnis wieder verloren. Er kam zurück
in die experimentelle Abteilung des Gehirninstituts, damit ihm das
Bewußtsein zurückgegeben wird, diesmal nicht mehr das eines von der
Dilnea gekommenen Reisenden, sondern das eines gewöhnlichen
Erdenbürgers. Dabei sind Ihre Dienste – die eines Autors
phantastischer Erzählungen – nicht mehr vonnöten; jetzt brauchen
wir die eines realistischen Schriftstellers und eines
Psychologen.«
»Gut«, unterbrach ich den Erzähler, »alles verständlich.
Aber woher ist Eroja, das Klümpchen wunderbarer Materie,
gekommen?«
»Die wurde von meinen Mitarbeitern, jungen, talentierten
Kybernetikern, konstruiert. Larionow-Raurbef brauchte eine Stütze
für seine Gefühle. Das Klümpchen Materie verband ihn mit der fernen
Dilnea.«
»Und wie steht es jetzt mit Larionow? Wird er gesund
werden?« fragte ich.
»Ja«, antwortete Iwanzew. »Der Versuch ist gelungen, und
Nikolai Larionow wird dieser Tage aus der Laboratoriumsklinik ins
Leben entlassen.«