Wladimir Firsow
Deine Hände sind wie der Wind
Drei Dinge gibt es auf der Welt, die mir
unbegreiflich sind, und ein viertes, das ich
nicht verstehe: der Weg des Adlers am
Himmel, der Schlange auf dem Felsen und
des Schiffes mitten auf dem Meer sowie
der Weg des Mannes zum Herzen einer
Frau.
unbegreiflich sind, und ein viertes, das ich
nicht verstehe: der Weg des Adlers am
Himmel, der Schlange auf dem Felsen und
des Schiffes mitten auf dem Meer sowie
der Weg des Mannes zum Herzen einer
Frau.
Alexander Kuprin:
Sulamith
»Sweta, ich liebe dich…«
Warnend hebt sich ihre Hand, und die sanften, ein wenig
traurigen grauen Augen sehen mich mit leichtem Vorwurf durch die
rechteckigen Gläser der modischen Brille an. Sogleich wird mir
schwer ums Herz, aber ich schlage die Augen nicht nieder, denn
diese Sekunden gehören noch mir, und sie gehen nur zu schnell
vorüber.
»Davon möchte ich nichts hören.«
Das schimmernde Prisma des Eingangs läßt das Mädchen
eintreten, die gläsernen Facetten vervielfachen sie, und ich sehe
zwei, drei, vier Swetlanas als lautlose Schemen entschweben und im
fernen Halbdunkel verschwimmen. Jetzt brauche ich nur ein Stück
zurückzutreten, unter die Zweige des Baumes, und zu warten, bis die
dunkle Fensterreihe durch ein aufflammendes Quadrat unterbrochen
wird, hinter dem – wenn ich noch eine Weile stehenbleibe –
vielleicht kurz ein undeutlicher Schatten auftaucht.
Jetzt sind meine Sinne geschärft, und jeder Nerv ist
gespannt und reguliert. Ich bin gleichsam ein höheres Wesen,
allmächtig und allwissend. Meine Augen sind wie Röntgenapparate,
die es mir ermöglichen, durch Mauern zu sehen, meine Ohren
vernehmen selbst das schläfrige Zwitschern eines Vögelchens, das es
sich auf der Spitze des Fernsehturms, dessen abendliche Lichter
bereits aufgeflammt sind, zum Schlafen bequem gemacht hat, meine
Haut spürt noch immer die Wärme von Swetlanas Händen durch die
dicken Stahlbetonwände hindurch. Ich sehe, wie sie den Korridor
entlangeilt, wie sich die Türen vor ihr auftun, höre das Klappern
ihrer Absätze auf den Fliesen der Werkstatt. Ich beneide jetzt die
Fliesen und die Türklinke, die ihre Finger gleich berühren, und das
Zeichenpapier, das willfährig vor ihr raschelt. Besonders aber
beneide ich die Steine, denen allein jetzt ihre Gedanken
gehören.
In der Umgebung des Steingefunkels erinnert mich
Swetlana an die kalte Schneekönigin oder Bashows Herrin des
Kupferberges. Ich weiß, daß dieser Eindruck ungerecht ist, aber
eine tiefe Kränkung erzeugt in mir heimliche Verbitterung, und es
tut mir wohl, so zu denken. Denn Swetlana liebt mich nicht, und
diese himmelschreiende Ungerechtigkeit schmerzt mich um so mehr,
als es in meiner Macht stünde, mit einer einzigen Fingerbewegung
alles zu ändern. Doch diese Bewegung zu tun, bringe ich nicht über
mich.
Swetlana aber zaubert in ihrem magischen Reich. Ergeben
liegen die ovalen Scheiben steinernen Feuers vor ihr in
harzduftenden Kästen und warten auf ihre Stunde. Ich sehe, wie
Swetlana nach ihrer Gewohnheit leicht die Stirn runzelt und wie
ihre Hand unentschlossen über einem Kasten verharrt. Ihr Blick
gleitet über die mit Linien bedeckte Wand, längs der Konturen der
sich erst andeutenden Lösung, und der Wirbel, der in den Milliarden
Zellen ihres Hirns tobt, fügt sich viel leicht schon zu dem einen
Bild zusammen, dem es beschieden sein wird, zu einem steinernen
Ornament zu erstarren.
Ich weiß, daß Wochen der Mühe vor ihr liegen, daß sich
auf den Pfaden der Phantasie noch wiederholt eine vollkommene
Lösung finden wird, daß es Verdruß, Enttäuschungen und vielleicht
sogar heimliche Tränen geben wird – all das liegt in der Natur der
Dinge, damit muß man fertig werden, wenn man auch nur einen Funken
Talent besitzt. Aber es ist nicht einfach, und in meiner Macht
liegt es, ihr diesen Weg zu erleichtern.
Das vage Wunder des Schaffens ist ebenfalls Gesetzen
unterworfen; fünf Jahre Experimente in den Laboratorien unseres
Instituts haben uns den Schlüssel zu vielen Geheimnissen des
Unbekannten geliefert. Mit Algebra haben wir die Harmonie
erforscht, und das Schöne zu beschleunigen liegt jetzt in meiner
Macht. Ich vermag Swetlana bei ihrer Suche zu helfen. Es ist eine
Wahrheit, so alt wie die Welt: Wenn der Mensch liebt, ist er
imstande, Wunder zu vollbringen.
In den Kästen liegen Steine. Ja nicht einmal Steine –
Glasstückchen. Seien wir ganz ehrlich: In ihnen steckt nicht mehr
Poesie als in Fässern mit Kalk, die zum Tünchen bereitstehen. Aber
in ganz bestimmter Anordnung ausgelegt, lassen sie den Herzschlag
stocken. Das Chaos wird zu einem Kunstwerk.
In der Sprache der Wissenschaft heißt dieser Vorgang
ganz nüchtern »Verringerung der Entropie«. Er kann mit einer
Genauigkeit von Tausendsteln eines Bit berechnet werden. Aber ein
Wunder zu klassifizieren kommt mir wie ein Frevel vor. Ich will nur
eines: daß es geschieht! Und in meiner Macht liegt es, dazu
beizutragen.
Ich fahre mit der Hand in die Tasche und berühre den
kalten Knopf des Apparats, kann mich jedoch wiederum nicht
entschließen, ihn zu drücken. Da kehre ich den dunklen, von einem
hellen Quadrat unterbrochenen Fensterreihen den Rükken und gehe
davon, ohne mich noch einmal umzusehen.
Wie an jedem Abend ist es im Laboratorium still und dunkel.
Die Mäuse und die Frösche rühren sich in ihren Käfigen; matt
leuchten die Lämpchen der Apparaturen. Auf dem Schrank, von wo
Flötenklänge aus einem Radio ertönen, atmet Fedja, ein
melancholischer Krake, und an seinen Fangarmen laufen blaue und
grüne Wellen entlang.
Nachdem ich die Frösche mit prächtigen fetten Fliegen
gefuttert habe, sehe ich zu, wie sie im Terrarium
auseinanderkriechen und wie dabei die Anschlußdrähte der Geber
blinken. Allmählich regt sich Groll in mir. Ich spüre, daß ich
gehen müßte, aber ich zögere immer noch und starre voller Haß auf
meine Lurche. Besonders reizt mich Pyschka, ein träger, dicker
Frosch, der vor Fettleibigkeit nicht einmal springen, sondern nur
watscheln kann und dabei eine Tüpfelspur im Sand hinterläßt. Ich
weiß, ich bin ungerecht ihm gegenüber, aber jetzt möchte ich ihn am
liebsten an seinem fetten Bein packen und auf den Fußböden
klatschen, nur um nicht seine widerliche glotzäugige und
selbstzufriedene Visage sehen zu müssen. Aus unerfindlichen Gründen
habe ich das Gefühl, die Frösche, mit denen der große Galvani
gearbeitet hat, müßten ganz anders gewesen sein, nämlich noble,
bescheidene Geschöpfe, die schicksalsergeben ihr Leben zum Wohle
des Menschen hingaben. Leider findet sich bei unserem Pyschka von
Noblesse keine Spur.
Ich weiß selber nicht, weshalb ich noch so spät am Abend
hierhergekommen bin. Zu tun habe ich hier absolut nichts. Die
Berechnungen sind längst abgeschlossen, Kilometer von Emogrammen
analysiert, und der Generator ist fertig. Wie immer muß nun der
oberste Richter, das Experiment, sein Urteil sprechen.
Dazu kommt es früher oder später immer. Das Experiment
am Menschen ist die Krönung des Ganzen. Jedes Mittel gegen die
Grippe wie gegen die Beulenpest wird am Menschen ausprobiert. Der
Flug eines Raumschiffes ist ein Versuch am Menschen. Das Erlernen
der madagassischen Sprache im Schlaf ist ein Versuch am
Menschen.
Ich bin weder Arzt noch Kosmonaut noch Pädagoge. Ich bin
Physiker. Mein Fachgebiet sind die Felder. Physiker brauchen keine
Versuche an sich selbst zu machen.
Ich starre auf die Kassetten mit den Magnetbändern, die
Lochkartenstapel, die traurigen Augen der Oszillographen, und
allmählich überkommt mich eine schreckliche Schwermut. So ist es
immer, wenn ich Swetlana lange nicht gesehen habe. Doch jetzt hat
es eine andere Ursache. Ich denke die ganze Zeit nur an das
Experiment.
Auf dem Bücherregal neben dem Pult steht mitten unter
zerflederten hochfrequenztechnischen Nachschlagewerken das viele
Male gelesene Buch »Dramatische Medizin« von Hugo Glaser. Ich nehme
es heraus und suche wieder die bekannten Namen.
1802. Der Arzt White injiziert sich den Eiter eines
Pestkranken und stirbt. Im Jahre 1817 wiederholt Rosenfeld diesen
Versuch und stirbt ebenfalls.
Ein Jahr zuvor hat sich Valli auf Kuba mit Gelbfieber
infiziert. Vorher hatte er sich zwei Krankheiten auf einmal
eingeimpft, nämlich Pest und Cholera, genas jedoch wieder. Das
Gelbfieber aber führt zu seinem Tode.
Ich blättere in diesem Buch der Helden. Was für
Menschen! Metschnikow impft sich mit Rückfallfieber, John Hunter
und Lindmann infizieren sich mit Syphilis. Bekannte und unbekannte
Ärzte suchen an sich selbst Krebs, Poliomyelitis und Ruhr zu
erforschen, lassen sich von Giftschlangen und tollwütigen Hunden
beißen, schlucken tödliche Posen Gift, leiden wochenlang Hunger und
Durst, quälen sich in Thermo- und Druckkammern. Doch dann geraten
ihre Schmerzen und ihre Leiden der Menschheit zum Segen.
Ich aber, habe ich das Recht zu dem
Experiment?
Es ist gesundheitlich absolut ungefährlich. Ich selbst
habe viele Stunden im Feld des eingeschalteten Apparats zugebracht
und weiß das zuverlässig. Was mich beunruhigt, ist etwas ganz
anderes.
Das Problem ist nämlich, daß zu dem Versuch zwei
benötigt werden.
Der eine, das bin ich. Faktisch habe ich den Apparat
bereits an mir ausprobiert. Aber das ist erst die halbe Arbeit.
Jetzt gilt es, sie zu Ende zu führen. Das Experiment erfordert zwei
Personen.
Die zweite ist Swetlana.
Doch sie weiß noch nichts davon. Und sie darf auch
niemals etwas davon erfahren.
Ein schändliches, geheimes Experiment an einem geliebten
Menschen.
Kürzlich erst hat sie mich wieder gefragt, was ich mit
diesen ulkigen Fröschen mache.
»Dein Pyschka ist noch dicker geworden«, sagte sie und
berührte den glotzäugigen Faulpelz mit dem kleinen
Finger.
Ich zog mich aus der Schlinge, indem ich etwas von
Biofeldern faselte. Ich konnte ihr doch nicht erzählen, daß ich an
diesen allerliebsten Tierchen die Emotionen zu studieren suchte,
die mit der Erhaltung der Art verknüpft waren.
Die Frösche waren Zeugen meines großen Mißerfolgs. Die
Untersuchungen hatten mich in eine absolute Sackgasse geführt, aus
der ich erst nach einem ganzen Jahr wahllosen Vorstoßens in alle
Richtungen wieder hinausgelangte. Ich verlor für lange Zeit jedes
Vertrauen zu mir selbst und wiederholte die Versuche an Katzen,
Kaninchen und Hunden. Mit dem gleichen Ergebnis.
Das war jedoch schon vor langer Zeit – noch vor
Swetlana.
Heute wäre es natürlich lächerlich, anzunehmen, Frösche
oder Hunde könnten mir noch irgend etwas nützen. Dort, wo der
Mensch anfängt, endet die uneingeschränkte Herrschaft der
Physiologie. Ein qualitativer Sprung war notwendig, um sich von den
primitiven, in der Erbmasse kodierten Funktionen, vom
Fortpflanzungsinstinkt, vom Mechanismus der Selbstreproduktion zu
jener Höhe geistiger Schönheit zu erheben, die nur dein Homo
sapiens eigen ist. Der Affe brauchte eine Million Jahre
dazu.
Ich habe diesen Weg innerhalb von zwei Jahren
nachvollzogen.
Da liegt er nun vor mir, der Miniaturapparat, in dem
Jahrtausende der Evolution unseres Urahnen, des Affen, stecken. Ich
brauche nur den geriffelten blauen Knopf zu drücken, und schon
beginnt der Biofeld-Generator zu arbeiten, der auf die
Resonanzfrequenz eines einzigen Wesens abgestimmt ist.
Wie einfach das doch ist, den Knopf zu
drücken!
Jahrtausendelang hat der Mensch all seine Taten – die
guten wie die schlechten – selbst vollbracht. Und selbst die
Verantwortung dafür getragen. Doch dann kamen die Atombombe und die
Kybernetik, entstanden die Rechenzentren, die eine Reihe
menschlicher Obliegenheiten übernahmen. Und eben da, an der
Schwelle des Atom- und Kybernetik-Zeitalters, entstand auch das
»Knopfproblem«.
Einst führte die Maschine nur den Willen des Menschen
aus. Heute erteilt sie selber Befehle. In ihrer Macht liegt es, das
Schicksal eines ganzen Industriezweiges zu entscheiden oder das
Signal zum Atomschlag zu geben. Oder einen Menschen zu zwingen,
einen anderen zu lieben.
Natürlich ist mein Apparat keine Wasserstoffbombe. Und
eine Ameise zu zertreten ist leichter, als den Abzug einer Pistole
zu betätigen. Aber enthebt uns das auch nur eines Teils der
Verantwortung? Die Freude zu töten ist genauso verbrecherisch, wie
einen Menschen umzubringen.
»Sieh mal hier diesen Apparat, Swetlana«, sage ich in
Gedanken. »Während der Stunden, die du in unserem Labor zugebracht
hast, haben meine Mikrolokatoren dein Biofeld erforscht, die
Energetik und die Biophysik deiner Gefühle und Emotionen
analysiert, die Frequenzen und Amplituden von Freude und Zorn,
Hunger und Verträumtheit bei dir angepeilt, und das
Elektronengehirn hat Kilometer von Aufzeichnungen studiert und die
Resonanzfrequenz deines Biofeldes berechnet. Sieh her, hier ist die
Lochkarte mit dem Programm, auf der unter dem Mikroskop
siebenundzwanzigtausend Marken eingestanzt worden sind. Jetzt
stecke ich sie in den Apparats drücke auf den Knopf, und es
geschieht ein Wunder: Du verliebst dich in mich…«
Ihr Gesicht verzerrt sich, und sie, springt entsetzt
auf.
»Untersteh dich!« schreit sie. »Ich will deine
programmierte Liebe nicht. Was du da vorhast, ist niedrig, gemein
und schmutzig.«
Sie hat die Hände vors Gesicht geschlagen, Tränen rollen
darunter hervor, und ich zittere vor Schreck, als stünde sie jetzt
tatsächlich weinend vor mir in dem dunklen und leeren Laboratorium.
Mir wird ganz elend und traurig ums Herz. Mit einem Fußtritt
schleudere ich einen Hocker fort und stürze zur Tür
hinaus.
Einige Tage später.
Swetlanas Hände schweben über dem Farbenspiel der
steinernen Feuer. Ich stehe allzu nahe und sehe nur die einmalige
Schönheit der Minerale, ohne zu erkennen, in welcher Beziehung sie
zueinander stehen.
»So kannst du nichts erkennen«, meint Swetlana
lachend.
Ich erklimme eine hohe Stehleiter, und nun kann ich am
Boden der Werkstatt ein strenges steinernes Profil ausmachen. Die
Darstellung ist noch bruchstückhaft, und ich vermag noch nicht zu
erkennen, was ich da vor mir habe – einen Recken aus einer Sage
oder einen Erforscher des Mondes – aber mein Herz fühlt sich durch
die Schönheit angesprochen, und mir wird klar, daß die Lösung
endlich gefunden ist. In den Zügen des am Boden ausgebreiteten
Gesichts kommt mir irgend etwas merkwürdig bekannt vor. Ich
versuche, das Gefühl zu präzisieren, aber es entgleitet mir und
zerfließt, hinterläßt nur eine Spur von unbegreiflicher
Unruhe.
Swetlana steht unten, schlank und rank, und schaut, den
Kopf leicht in den Nacken gelegt, zu mir herauf. Durch die gläserne
Wand fällt die Sonne herein, funkelt in den Gläsern ihrer Brille
und bricht sich in dem zu ihren Füßen erstarrten steinernen
Wasserfall. Ich blicke nicht mehr auf das einprägsame Profil, denn
neben dem entstehenden steinernen Wunder sehe ich ein anderes
Wunder, wie es kein schöneres auf dieser Welt gibt.
»Warum sagst du denn gar nichts?« fragt sie eine Million
Jahre später leise, und das Lächeln ist von ihrem Gesicht
verschwunden. Bei diesen alltäglichen Worten wird mir weh ums
Herz.
»Deine Hände sind wie der Wind«, sage ich und steige
langsam wieder von der Leiter herunter. »Und du selbst bist wie die
Freude. Du hast dem Himmel seine Großartigkeit geraubt…«
Das helltönende Getröpfel ihres Lachens wird zum
Wasserfall.
»Du sprichst wie der alte, weise König Salomo«, meint
sie lachend. »Der mit den siebenhundert Frauen, dreihundert
Kebsweibern und Jungfrauen, Mägde ohne Zahl.«
»Mir genügt eine«, erwidere ich, dicht an sie
herantretend.
»Nicht doch! Du hast's mir versprochen.«
Ohne die Augen niederzuschlagen, steht sie vor mir – so
nahe, daß ich ihre langen Wimpern zählen kann.
»Ich bin noch weiser als König Salomo«, murmele ich,
»denn ich weiß, was ihm noch unbekannt war.«
Hinter ihren Brillengläsern tanzen die mir so vertrauten
kleinen Kobolde.
»O du mein König, deine Beine sind wie Marmorsäulen«,
zitiert sie in singendem Tonfall. »Dein Bauch ist wie ein
Weizenhaufen, umsäumt von Lilien…«
Betäubt weiche ich zurück; ich hasse mich wegen meiner
Feigheit.
Meine Hand liegt auf dem Knopf des Apparats. Aber ich
wage nicht, ihn zu drücken. Denn das wäre genauso, als schösse man
einem Davongehenden in den Rücken. Ich bin mir sicher, daß es keine
Panne geben kann. Dennoch habe ich Angst davor.
Der Sonnabendmorgen beginnt für mich mit dem fernen Tukkern
eines Motorboots, das in der Bucht umhersaust. Die warmen Hände der
Sonne, die durch einen Spalt des nicht ganz dicht zugeknöpften
Zelts hereindringt, berühren zärtlich mein Gesicht. Ich bin noch
nicht völlig wach, liege einige Minuten reglos mit geschlossenen
Augen und lausche den vertrauten Geräuschen des Waldes.
In der Nähe pocht eine Axt. Das ist Viktor Burzew,
Doktor der Wissenschaften, der da am Werke ist. Er ist heute für
das Lagerfeuer zuständig. Vom Ufer her tönt das unzufriedene Husten
des Bootsmotors, der wie immer nicht anspringen will.
Wahrscheinlich ist das Fedossejew, der vor dem Frühstück noch etwas
angeln will. Wenn Pjotr Iwanowitsch nur mit seiner Angel dasitzen
kann, vergißt er darüber das Essen. Ein Eimer klappert, und
gluckernd ergießt sich Wasser in den Teekessel.
Irgendein Käfer krabbelt mir übers Gesicht, aber ich bin
zu faul, mich zu rühren, um ihn wegzuwischen. Im Schlafsack ist es
warm und gemütlich, und solange die Augen noch geschlossen sind,
dauert die Nacht an. Deshalb ertrage ich es auch geduldig, um nicht
die Reste des Schlafs zu verscheuchen. Doch jetzt kitzelt es
unerträglich in der Nase, ich niese ohrenbetäubend, daß es das
Motorgeräusch übertönt, und öffne unwillkürlich die
Augen.
Neben mir sitzt Swetlana, einen langen Grashalm in der
Hand.
»Es ist schon Morgen, mein König«, sagt sie wieder in
singendem Tonfall. »Deine hungrigen Untertanen harren
deiner.«
Das bedeutet, daß ich aufstehen muß. Heute bin ich für
das Frühstück verantwortlich.
»Verkünde meinem Volke, daß seine Herzen und Mägen schon
bald von Dankbarkeit erfüllt sein werden«, antworte ich Swetlana
hochtrabend.
Auf ihrem Haar glitzern Wassertröpfchen. Sie hat bereits
gebadet.
Vor der Sonne die Augen zusammenkneifend, krieche ich
aus dem Zelt, und ein höchst angenehmer Anblick bietet sich meinen
Augen dar: In der Kasserolle über dem Feuer fangt es bereits an zu
kochen.
Befriedigt bricht Swetlana in lautes Lachen
aus.
»Hast du nicht mal versucht, ein Emogramm von deiner
Faulheit aufzunehmen?« erkundigt sie sich. »Schöne Vergleichswerte
würde das ergeben!«
Gleich nach dem Frühstück nehmen wir die Wasserskier und
eilen damit zum Ufer. Zehn Minuten lang rufen wir im Chor
Fedossejew, dessen gekrümmte Gestalt im Boot mitten in der Bucht
sich dunkel vom Wasser abhebt. Er tut, als höre er nicht, weil ein
Fisch bei ihm anbeißt. »Pjotr I-wa-no-witsch!« schreien wir uns die
Lunge aus dem Hals. »Schämen Sie sich!« Endlich hat er Mitleid mit
uns, holt seine Angeln ein und läßt den Motor an.
Aus unerfindlichen Gründen werden wir immer alle
zugleich von neuen Hobbys angesteckt. So war es schon mit dem
Motorrad, dem Bergsteigen und der Unterwasserfotografie. Wasserski
ist unser neuestes Hobby, dem wir an allen freien Tagen
frönen.
Eine schaumgekrönte Welle hinter sich herziehend, bohrt
sich das Boot mit dem Bug ins Ufer, und Fedossejew hält uns stolz
seinen kleinen Eimer mit dem Fang hin. Wir bemühen uns, so
glaubwürdig wie möglich unserer Begeisterung Ausdruck zu verleihen.
Jetzt steht uns nicht nach Fisch der Sinn. Burzew springt ins Boot,
befestigt die Schleppleine und wirft das andere Ende Swetlana zu,
die bereits mit den Skiern an den Beinen auf dem Startpfahl sitzt.
Wir schieben das Boot ins Wasser zurück.
Der Motor heult auf, die Leine schnellt aus dem Wasser,
ein Ruck, und auf dem Kamm einer schäumenden Woge saust Swetlana im
Zickzack über das Wasser.
Gemächlich nehme ich nun auf dem Startpfahl Platz und
blikke der durch die Sonnenreflexe enteilenden schlanken Gestalt im
rotblauen Badeanzug nach. Sacht berühren meine Skier das Wasser,
und die kosenden Wellen kühlen angenehm die Fußsohlen.
Noch ist kein Wind aufgekommen, das von den Skiern
durchschnittene Wasser wird rasch wieder unbeweglich-glasig, die
Sonne schickt schräge Strahlen hinter den Wipfeln der blauen
Kiefern hervor. Der Morgen ist außergewöhnlich still. Vor uns
liegen zwei Tage Erholung – man brauchte über nichts nachzudenken,
sondern sich nur über die Sonne, den Rauch des Lagerfeuers und das
sanfte Plätschern der Wellen zu freuen.
Doch selbst während dieser zwei Tage läßt mir der
Gedanke an das Experiment keine Ruhe.
Das Heiligste, was der Mensch besitzt, ist die Liebe.
Die Dichter behaupten, sie sei überhaupt das einzige, was den
Menschen vom Tier unterscheide. Das Geheimnisvollste aller
Geheimnisse, ein unbekannter Zauber, der der Welt einzigartige
Farben und unendliche Freude beschert.
Ich bin kein Dichter, sondern Physiker. »Deine Hände
sind wie der Wind…« ist das einzige, was ich verfaßt habe. Ein
schwaches Gedicht. Oder sagen wir ganz ehrlich: ein talentloses.
Mir fehlt es nicht an Geschmack, um das zu verstehen. Doch als
Physiker bin ich überzeugt, daß die Möglichkeiten der exakten
Wissenschaften auch auf dem Gebiet des Schönen unbegrenzt
sind.
Durch Kombination von Atomen, können wir eine lebendige
Zelle erhalten. Durch Kombination von Prozessen in dieser Zelle
können wir Emotionen und Gefühle simulieren.
Die kybernetischen Schildkröten Walthers waren mit
bedingten Reflexen ausgestattet, und das setzte niemand in
Erstaunen. Von der Simulation von Reflexen bis zur Synthese von
Liebesempfindungen ist es natürlich noch ein weiter Weg. Ohne die
neuesten Methoden der Mikrowellenlokation wäre es nicht gelungen,
ihn zu bewältigen.
Kann man den Sieger verurteilen? Handelt es sich im
Falle eines Erfolges doch nicht um ein Surrogat, einen Ersatz,
sondern um ein echtes Gefühl – jenes allbezwingende, mächtige, das
Petrarca, Shakespeare und Puschkin tausendfach besungen haben.
Keine Hypnose, keine Suggestion, sondern schlicht und einfach
Liebe, Dieselbe, die das Leben erst schön macht, durch die die
Kinder auf die Welt kommen, um derentwillen große Taten vollbracht
werden.
Aber zu diesem Zweck muß ein heimliches Experiment mit
einem geliebten Menschen durchgeführt werden.
Wieviel einfacher wäre es, ein beliebiges Paar zu nehmen
– einen jungen Mann und ein junges Mädchen – und sie zu zwingen,
einander zu lieben! Aber wenn es nun eine Panne gibt? Und wenn es
ein Erfolg wird? Was werden sie mir erzählen? Wenn Menschen
verliebt sind; sprechen sie nicht darüber. Man kann sie nicht gut
bitten, ein Testprotokoll auszufüllen.
Auch ich werde keine einzige Zeile ins Protokoll
eintragen können. Aber ich werde wissen, daß der Apparat
funktioniert. Und Tausende werden mir dankbar sein.
Jetzt habe ich mich bei einer primitiven Lüge ertappt.
Der Egoismus eines Verliebten und die Selbstzufriedenheit des
Erfinders – das ist es, was mich dazu treibt. Und alle meine
Argumente sind nur ein Deckmantel, unter dem ich einige meiner
nicht gerade anziehenden Eigenschaften vor mir selbst zu verbergen
trachte.
Gewiß, ich muß meinen Apparat nicht unbedingt an
Swetlana erproben. Hätte ich es nicht vor allen geheimgehalten, so
hätte ich schon längst Freiwillige gefunden, prächtige Jungen, die
sich in dem Experiment bereit gefunden und auch vor dem Protokoll
keine Scheu gehabt hätten. Denn mein Apparat wird wirklich
gebraucht.
Liebe ist das höchste Glück, das nur dem Menschen
beschieden ist. Doch vielen gelingt es zeit ihres Lebens nicht, sie
zu erfahren.
Ich spreche nicht von dem Problem »…liebt mich – liebt
mich nicht«, von der unglücklichen, unerwiderten, erfolglosen
Liebe, denn das ist nichtsdestoweniger Liebe. Gewiß, erwiderte
Liebe wäre besser. Ich meine vielmehr jene, die dahinleben, ohne je
erfahren zu haben, daß es noch etwas Höheres gibt als die
Befriedigung der mannigfaltigen Bedürfnisse des Menschen, der
physischen wie der psychischen, seien es nun Essen und Trinken,
Kinder zeugen, Sport, Briefmarkensammeln oder Erfolge auf
administrativem Gebiet. Solche Menschen sind Seelisch farbenblind.
Für sie existieren die Farben der Liebe nicht, und sie ahnen nicht
einmal, daß alles anders sein kann. In meiner Macht liegt es jetzt,
ihnen das zu geben, was ihnen die Umstände vorenthalten
haben.
Der Apparat braucht nur noch ausprobiert zu
werden.
Aber das Experiment muß eindeutig sein.
Würde ich irgend jemand anders die Prüfung anvertrauen,
so würde ich niemals erfahren, ob allein der Apparat die notwendige
Wirkung erzielt hat Swetlana liebt mich nicht – das weiß ich genau.
Und so wird das Experiment eindeutig sein.
Wie überzeugend doch die Argumente des Egoismus sein
können! Wie schön ich mir eingeredet habe, daß das einzige Objekt
männlichen Geschlechts, das für das Experiment geeignet ist, ich
selber bin. Ich möchte wissen, ob diese Argumente genauso
überzeugend wären, wenn meine Beteiligung an einem gefährlichen
Experiment erforderlich wäre!
Wieder einige Tage später.
Ich blicke auf die vertrauten Fenster, verspüre jedoch
nicht die frühere magische Kraft in mir, die mich noch unlängst
beflügelt hat. Die helle Fensterreihe ist von einem dunklen Quadrat
unterbrochen, und ich werde viele Tage warten müssen, bis es wieder
aufflammt und der vertraute Schatten dahinter auftaucht.
Swetlana ist nicht da. Sie ist nach Kriwoi Rog gefahren,
wo jetzt ihr Panneau an der Wand des neuen Kulturpalasts angebracht
wird. Ich habe ihr den Koffer zum Zug getragen, ihr ein
Veilchensträußchen und einen Polarkuß gekauft, und sie hat zum
Abschied aus dem Fenster gewinkt. Dann ist der Zug an mir
vorübergerollt.
Wie einfach doch alles auf dieser Welt ist! Noch gestern
konnte ich mir einen Tag ohne sie gar nicht vorstellen. Und nun ist
sie fort, und mein Leben geht weiter. Ich eile ins Labor, studiere
grafische Darstellungen von Emotionen, gebe dem Rechner
komplizierte Daten ein und futtere meine Lurche. Nur ist das Leben
etwas weniger interessant geworden, weiß ich abends nichts mit mir
anzufangen. Ich hocke bis spät in die Nacht im Labor, bis der
verärgerte Nachtwächter mich hinauswirft. Dann gehe ich hierher,
zum Fuß des Fernsehturms, um auf das dunkle Fensterquadrat zu
starren.
Bis zu Swetlanas Rückkehr muß ich über das Experiment
entschieden haben. Entweder – oder. Noch länger hinauszögern kann
ich es nicht. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch.
Die unglücklich Verliebten haben es wahrscheinlich viel
leichter. Ihre Lage ist eindeutig hoffnungslos. Wenn man weiß, daß
man nichts zu erhoffen hat, fangt man an, nach einem Gegengift zu
suchen. Meine Hoffnung aber liegt in meiner Hand. Hier ist er, der
blaue Knopf. Ich brauche nur leicht draufzudrücken.
Jetzt kann ich mir das erlauben. Der Wirkungsradius des
Apparats beträgt nur wenige Meter. Und so drücke ich den Knopf so
lange, bis die Batterie entladen ist.
Das Ganze begann mit den Emotionen. Nachdem Fedossejew
vom Mond zurückgekehrt war, wo die Roboter plötzlich gegen ihn
rebellisch geworden waren, unterbreitete er uns so viel neue Ideen,
daß wir sie erst nach rund anderthalb Jahren einigermaßen in unsere
Pläne eingebaut hatten. Damals begann ich mich näher mit den
Emotionen zu beschäftigen, weil Pjotr Iwanowitsch selbst voll und
ganz davon in Anspruch genommen war, das Gedächtnis des neuen
Kristallhirns für seine Roboter zu schaffen.
Natürlich begannen wir mit den »Zentren der
Zufriedenheit«. Intelligente Ratten traten gehorsam Pedale und
vergaßen Schlaf, Essen und Trinken. Das ergab wenig Neues – diese
Experimente hatte Olds bereits im Jahre 1953 angestellt. John
Lilly, der bekannte Delphinforscher, hat sie mit Affen wiederholt.
Doktor Delgado lernte, Impulse per Radio zu übertragen, allerdings
mittels einer eingepflanzten Elektrode. Wenig später wurde der
Telestimulator erfunden, ein kleines, erbsengroßes Gerät, das unter
die Kopfhaut implantiert wird. Wir gingen noch weiter, denn wir
hatten Mikrolokatoren, die es uns gestatteten, ohne Elektroden
auszukommen. Unser Laboratorium wimmelte von Freiwilligen aller
Altersstufen. Einen gehörnten Plasthelm auf dem Kopf, hörten sie
die »Appassionata«, sahen Horrorfilme wie »Der Sarg öffnet sich um
Mitternacht« oder »Vampire des Universums«, genossen den Anblick
der Venus von Milo oder kosteten neue Gerichte. Wir begaben uns mit
unseren Apparaten zu Studenten im Examen, tauchten in Boxringen,
auf Kosmodromen, hinter den Kulissen von Theatern, in
Redaktionsbesprechungen und in Wagen der »Ersten Hilfe« auf. Wir
vollbrachten Wunder an Findigkeit, wir wurden zu wahren Diplomaten,
wir wandten Tricks an, wir überredeten, wir appellierten, und in
der Regel gelang es uns, dem Betreffenden den Helm im scheinbar
unpassendsten Moment auf den Kopf zu stülpen. Alle Zeitungen
brachten das Foto des Torwarts von »Torpedo« mit unserem Helm, als
man ihm fünf Minuten vor Schluß eines Halbfinalspiels einen
Elfmeter ins Tor setzte. Bis dahin hatte es null zu null gestanden,
und wir erhielten eine phänomenale Aufzeichnung, aber Fedossejew
gab seitdem uns die Schuld an der Niederlage seiner
Lieblingsmannschaft.
Dann begann die Simulation. Wir veranlaßten unseren
Rechner, in seinem metallenen Leib alle Emotionen zu imitieren, zu
denen Lebewesen überhaupt fähig sind. Wir lehrten ihn, Erregung und
Zorn zu empfinden, gaben ihm Sinn für Humor. Durchs Laboratorium
streunten elektronische Katzen, die wild mit den Augen funkelten
und bei dem Ausruf »Kusch!« zur Seite sprangen, und kybernetische
Hasen, die gerne an Blumen schnupperten.
Wir haben je ein Laboratorium für Kummer, für Erregung,
für Wehmut, für Affekt, für Langeweile, für Wut und so weiter. Ich
erinnere mich noch, wie ein neuer Laborant sich weigerte, im Labor
für Angst zu arbeiten. Glaubte er doch, man werde einen hungrigen
Tiger auf ihn loslassen, um die dabei auftretenden Emotionen zu
messen. Daraufhin schickte man ihn ins Labor für Lachen, und dort
hockte er lange über Emogrammen, deren Dechiffrierung die
langweiligste Beschäftigung der Welt ist. Aber seit uns vor zwei
Jahren auf einigen Emogrammen völlig unerklärliche Spitzen
auffielen, nahm meine Arbeit plötzlich eine unerwartete
Wendung.
Man kann nicht sagen, daß das ein Zufall war. Bei dem
modernen System der wissenschaftlichen Forschung wird früher oder
später jede Entdeckung mit absoluter Sicherheit gemacht. Selbst
wenn Röntgen nichts entdeckt hätte, wären die geheimnisvollen
X-Strahlen einige Jahre später dennoch gefunden worden. Beweis
dafür ist die Entwicklungsgeschichte der Atombombe, der
Quantengeneratoren und der Raumschiffe.
Die merkwürdigen Spitzen waren mit keiner der uns
bekannten Erscheinungen identisch. Wir studierten Tausende von
Emogrammen, ließen den Rechner sich mit Mutmaßungen abschinden,
stellten eine Unmenge von Kontrollversuchen an. Die geheimnisvollen
Spitzen blieben uns ein Rätsel. Sie traten zwar nicht allzu häufig
auf, vielleicht einmal bei hundert Experimenten, aber dafür ohne
jedes System. Wir fanden sie auf Emogrammen des Kummers und der
Freude, der Angst und der Erregung.
In ebenjener Zeit lernte ich Swetlana kennen.
Zu den Monumentalisten geriet ich ganz zufällig. Schon
einige dutzendmal war ich an diesem Gebäude vorübergegangen, ohne
es zu beachten. Und auch diesmal hätte ich es wohl wie der links
liegenlassen, wäre nicht die plötzlich durch die Glaswand sprühende
Farbeneruption gewesen, als die niedrigstehende Abendsonne noch
einmal jäh hinter den Wolken hervorlugte.
Ich werde wohl nie mehr den Zustand unwillkürlicher
freudiger Unruhe vergessen, in den ich in jenem Augenblick geriet.
Ich weiß noch, wie ich einmal als Junge am Strand von Gursuf eine
Taucherbrille mit gelbem Lichtfilter statt der Glasscheibe
aufsetzte und vor Entzücken beinahe aufgeschrien hätte, eine so
strahlende Welt tat sich vor mir auf. Etwas Ähnliches widerfuhr mir
auch jetzt. Ich bemerkte plötzlich, daß sich alles ringsum
merkwürdig veränderte: Das Grün des Rasens wurde smaragden,
kostbaren kleinen Laternen gleich flammten die verschiedenfarbigen
Blüten der Cannastauden auf, der Himmel wurde, blauer, und die kurz
zuvor von einem Regenschauer blankgewaschenen Keramikwände
leuchteten in einem lustigen Gelb. Eine merkwürdige Vorahnung von
einer nahen Begegnung mit etwas Schönem bemächtigte sich meiner und
veranlaßte mich stehenzubleiben. Noch zögerte ich, doch das
Vorgefühl verstärkte sich, und ich spürte, daß ich es mein Leben
lang bedauern würde, wenn ich jetzt wieder vorüberginge.
Ich ahnte bereits, was mir bevorstand, freute mich über
den glücklichen Zufall und durchschritt das gläserne Prisma des
Eingangs.
Ich erinnere mich noch deutlich des eigenartigen
Gefühls, das mich übermannte, als ich mich im Innern des Gebäudes
befand. Die helle Leere des riesigen Saals wurde jäh durch die
Glaswand unterbrochen, die von einem feinen Netz aus
Aluminiumrahmen überzogen war. Durch die dumpfe Stille hallte das
rhythmische Pochen eines unsichtbaren Schlegels, Tak-tak-tak tönte
es und hallte von den Wänden wider. Tak-tak antwortete ihm
bedächtig ein anderer. Auf dem Boden ballte sich ein zu Stein
gewordener Wasserfall von Farben. Es roch süßlich nach heißem
organischem Glas und frischgehobeltem Holz.
Im ersten Augenblick gewahrte ich niemand. Wie in einem
Traum pochten die Schlegel und flimmerte die Sonne im Glas. Zu
meinen Füßen dehnte sich ein Haufen steinernen Feuers: blauer
Lasurit, Saphir und Türkis, grün schimmernder Malachit, Serpentin
und Chrysopras, blutroter Karneol und Sardonyx. Ganz hingerissen
von ihrer Pracht, merkte ich nicht gleich, daß mich ein schlankes
junges Mädchen mit einer großen rechteckigen Brille aufmerksam
betrachtete.
Ich weiß bis heute nicht, wodurch sich die
Inkrustationstechnik vom Florentiner Mosaik unterscheidet, obwohl
ich an jenem Tag lange den Erklärungen Swetlanas zugehört habe. Wir
wanderten durch endlose Korridore, wir balancierten auf
Stehleitern, wir stiegen über steinerne Gesichter und über
Steinhaufen hinweg, und ich sog jeden Ton ihrer Stimme förmlich in
mich ein, begriff jedoch nur so viel, daß ich von nun an immer
wieder hierherkommen würde.
Am nächsten Tag brachte ich einen Helm mit. Alle meine
Versuche hätten nur einen, höchstens zwei Tage in Anspruch
genommen. Ich verteilte sie über zwei Wochen. Ich zeichnete
Emogramme von bildenden Künstlern und Reinemachefrauen auf, von
Mitgliedern des künstlerischen Rats, von zufälligen Besuchern und
von ungeduldigen und anspruchsvollen Auftraggebern. Mißtrauischen
demonstrierte ich die Wirkungsweise des Helms an mir selbst oder
Swetlana.
Rund zehn Tage später lud ich Swetlana ins Institut ein.
Sie war vom Laboratorium begeistert. Die Gummifrösche nahm sie in
die Hand und streichelte ihre elastischen Rücken. Die kybernetische
Ziege Maschka, unser unfehlbarer Geruchsindikator, zockelte mit
nervös bebenden Nüstern hinter ihr her wie an einer Leine. Wenn
Swetlana lachte, wurde Fedja, der Krake, blaßkarmesinrot, was ihm
sonst nur bei den Klängen der »Mondscheinsonate« widerfuhr, und
trachtete danach, ihr vom Schrank aus auf die Schultern zu
plumpsen. Die grauen Mäuse tanzten im stillen Reigen zu ihren
Füßen.
Ich führte Swetlana dechiffrierte Emogramme vor und
erklärte ihr lange und nicht sehr verständlich die Bedeutung der
Kurven. Ihr Gesicht wurde ernst, und die aufmerksamen grauen Augen
hinter den Brillengläsern nahmen einen rätselhaften Ausdruck an.
Wenn sie jedoch die Brille abnahm, verwandelte sich ihr Gesicht
vollständig und bekam etwas so HilflosVertrauensseliges, daß ich
unwillkürlich den Blick abwandte, als fürchtete ich, diese
Vertrauensseligkeit zu mißbrauchen.
Nicht lange danach stieß ich durch einen Zufall auf die
Erklärung für die rätselhaften Spitzen. Ich benötigte ein
bestimmtes Emogramm, doch ein Laborant hatte es verlegt, und
nachdem ich die Hoffnung aufgegeben hatte, es wiederzufinden,
setzte ich mir den gehörnten Helm auf. Als die Aufzeichnung fertig
war, setzte ich sie in den Projektor ein und entdeckte zu meinem
Erstaunen auf dem Bildschirm die bekannten Spitzen.
Urplötzlich kam mir die Erleuchtung. Ich wußte ganz
genau, daß sonst keine Spitzen auf meinen Emogrammen gewesen waren,
und so sah ich, meiner Ahnung mißtrauend, noch einmal fieberhaft
die Bänder durch, derentwegen wir uns bereits seit einem halben
Jahr vergebens den Kopf zerbrochen hatten. Allem Anschein nach
irrte ich mich nicht.
Zu jener Zeit war der Burzew-Generator bereits
konstruiert, und wir planten eine umfangreiche Versuchsserie über
die Erzeugung von Emotionen. Da kam mir der Gedanke: Was wäre,
wenn…?
Viktor Burzew hatte seine Dissertation erst kurz zuvor
verteidigt. Ein in der wissenschaftlichen Welt ungewöhnlicher Fall:
Ihm wurden gleich zwei wissenschaftliche Grade auf einmal zuerkannt
– der eines Doktors der physikalischmathematischen Wissenschaften
und der eines Kandidaten der Medizin. Gegenstand seiner
Dissertation war die Erzeugung eines Biofeldes.
Ich weiß noch, wie ich mit der Anforderung für eine
Apparatur zu Fedossejew kam. Aus irgendeinem Grund reduzierte er
sie auf die Hälfte. Ich beharrte auf meiner Forderung, und er
widersetzte sich immer noch. Viktor, der dabeisaß, versteckte sich
diskret hinter seiner Zeitung, warf mir jedoch ironische Blicke
zu.
Und plötzlich überkam es mich. Ich geriet förmlich außer
mir. Ich brüllte Fedossejew an, wie ich in meinem ganzen Leben noch
niemals gebrüllt hatte. Ich schüttelte die Fäuste, schimpfte ihn
einen Geizkragen und Bürokraten und was nicht noch alles, ich
geiferte, hieb mit der Faust auf den Tisch und stampfte mit den
Füßen auf. Irgendwo im Unterbewußtsein spürte ich, daß ich mich
unmöglich, unwürdig und abscheulich benahm, konnte mich jedoch
einfach nicht beherrschen. Es fehlte nicht viel, und ich wäre mit
den Fäusten auf Fedossejew losgegangen.
Auf einmal aber war alles vorüber. Ich verstummte mitten
im Satz und merkte gleich, wie ich vor Scham rot anlief. Mit
gesenktem Blick stand ich da wie ein kleiner Junge, der etwas
angestellt hat, suchte vergebens, Worte der Entschuldigung
hervorzuwürgen, und erwartete mit Schrecken, daß mir der erzürnte
Pjotr Iwanowitsch gleich die Tür weisen würde, zu der bereits die
erschrockene Sekretärin hereinschaute.
Doch merkwürdigerweise war Fedossejew gar nicht zornig.
Er machte nur große, erstaunte Augen und sah abwechselnd mich und
Burzew an. Der aber verging fast vor Lachen hinter seiner
vorgehaltenen Zeitung. Nun brach auch Fedossejew in Lachen aus. Da
verstand ich gar nichts mehr.
Nachdem sie endlich aufgehört hatten zu lachen, erhob
sich Burzew aus seinem Sessel, humpelte auf mich zu – seit einer
mißglückten Bergtour hinkte er – und legte mir den Arm um die
Schultern.
»Entschuldige«, sagte er. »Pjotr Iwanowitsch wollte sich
von der Wirkungsweise des Generators überzeugen. Und da kamst du
uns wie gerufen.«
Erst jetzt bemerkte ich in seiner Hand ein merkwürdiges
Gerät, das halb wie ein Taschenhyperboloid, halb wie eine
Räuberpistole mit trichterförmiger Mündung aussah. Es war das erste
Modell seines heute berühmten Emotionsgenerators.
Zu jener Zeit kam uns der klobige Apparat wie ein
Wunderwerk vor. Er wog rund drei Kilogramm und wirkte nur im
Bereich einer Emotion und auf eine Entfernung von höchstens vier
Metern. Schon sehr bald verwandelte er sich in ein flaches
Miniaturgehäuse mit kleiner trichterförmiger Öffnung und wurde mit
einem Bereichsschalter ausgestattet.
Ich war Viktor wegen dieses Scherzes lange böse und
fühlte mich erst gerächt, als ich bei der Verteidigung seiner
Dissertation seinem eifrigsten Opponenten zuflüsterte, die
Erzeugung von Emotionen sei bereits praktisch erprobt.
Der wollte sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen
lassen und verlangte eine Vorführung des Apparats. Er würde sich
freuen, sagte er, der Wissenschaft einen Dienst leisten zu können,
und sei bereit, die Wirkung des Generators an sich erproben zu
lassen; Burzew sah mich vielsagend an; ihm war sofort klar, wem er
das verdankte, zumal ich neben dem Opponenten saß. Ich aber wartete
schadenfroh darauf, wie er sich aus der heiklen Situation
herauswinden würde.
Wußte ich doch sehr wohl, daß er nicht mit der Erzeugung
von Zärtlichkeit oder eines anderen erhabenen Gefühls davonkommen
würde. Die Demonstration mußte auf das Publikum Eindruck machen.
Also blieben nur Emotionen übrig, nach denen der Doktorand nicht
unbedingt mehr auf das Wohlwollen des Opponenten rechnen
konnte.
All das war Burzew nicht weniger bekannt als mir. Doch
er beschloß, nicht zu kneifen, und bat den Opponenten um sein
Einverständnis, die Erzeugung von Emotionen der Angst an ihm zu
demonstrieren.
»Probieren Sie's«, antwortete der hochmütig. »Aber ich
bin keiner von den Ängstlichen.«
Die Verteidigung fand bei uns im Institut statt. Auf
Viktors Bitte wurde aus dem Vivarium ein Versuchshündchen geholt,
ein zänkisches, rauflustiges Tier von der Größe einer Katze.
Währenddessen bat Burzew den Opponenten, nach vorn zu kommen, und
kündigte sich, ob er auch keine Angst vor Hunden habe. Mit großer
Bescheidenheit erklärte der Opponent, daß er sich selbst vor Tigern
nicht fürchte.
Dann richtete Burzew den Apparat auf den Opponenten und
rief dem Hündchen zu: »Beiß ihn!« Das zögerte nicht, von der
Erlaubnis Gebrauch zu machen, und fing an zu kläffen.
Daraufhin geschah etwas, das niemand erwartet hatte. Mit
der Schnelligkeit eines guten Sprinters flüchtete der Opponent vor
dem Hündchen in Richtung des Ausgangs. Und längs des Ganges, durch
den er spurtete, sprangen die Leute von ihren Stühlen auf und
warfen sich zur Seite über den Schoß ihrer Nachbarn hinweg –
offenbar reichte der fächerförmige Strahl des Apparats noch bis zu
ihnen. Im Saal entstand ein schreckliches Durcheinander, allerdings
nur für wenige Augenblicke, denn Burzew schaltete den Apparat
gleich wieder ab. Verdattert und rot wie ein Krebs kehrte der
Opponent zurück. Zum Glück erwies er sich als ein Mann mit Humor
und war dem Doktoranden nicht weiter gram. Lange und herzlich
schüttelte er Viktor die Hand und streichelte sogar den Schuldigen
an dem Tumult, der sich verängstigt an Burzews Beine schmiegte. Das
Hündchen ließ sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen und
schnappte nach seinem Finger.
Burzews Generator lag meinem Apparat zugrunde. Daran war
nichts Mystisches. Letztlich ist die Liebe ebenfalls eine Emotion,
allerdings eine von höchster Qualität. Wenn der Generator fähig
ist, Angst oder Zärtlichkeit hervorzurufen, warum sollte er dann
nicht auch Liebe wecken können? Nach der Analyse einiger hundert
Emogramme, die mich beinahe um den Verstand gebracht hätten,
erkannte ich, daß eine Lösung des Problems möglich war.
Warum geht die Freude immer mit Schmerz einher?
Zu der Zeit, als die Skizzen zu dem Apparat fertig
vorlagen, verrieten mir die Bänder der Emogramme, was ich
befürchtet hatte. Es war tatsächlich so: Auf keinem einzigen von
Swetlanas Emogrammen konnte ich die mir so vertrauten und nun nicht
mehr rätselhaften Spitzen entdecken. Swetlana liebte mich
nicht.
Diese Entdeckung änderte scheinbar nichts. Nur, daß sich
so etwas wie ein Schatten auf mein Dasein legte, und um ihn zu
verscheuchen, hockte ich bis in die tiefe Nacht im Laboratorium.
Ich opferte Hunderte von Fröschen und Kaninchen, ich malträtierte
das Elektronenhirn mit Berechnungen. Glaubte ich doch, daß die
Idee, die mir da gekommen war, sich als richtig erweisen könnte.
Nur diese Idee war es auch, die mir half, denn meine Liebe zu
Swetlana wurde immer heftiger.
Und wie Gift schwärte in meinem Gedächtnis die
Erinnerung an den Tag, da ich glaubte, nun werde alles
anders.
Nachdem wir eines Sonntags im Restaurant »Zum Siebenten
Himmel« einen kleinen Imbiß eingenommen hatten, machten wir noch
einen Spaziergang im Park. Es war Ende September, und Frauen in
blauen Joppen fegten das dürre und welke Laub von den Wegen. Kaum
noch eine Menschenseele war im Park, und, wie es schien, nur für
uns spielte in der Estradenmuschel ein Blasorchester die Polonäse
»Abschied von der Heimat«. Wir wanderten quer über den fahlen Rasen
und harkten mit den Füßen das raschelnde Laub auseinander. Die
grelle, aber nicht mehr heiße Sonne, der weiße Dunst am Horizont
und die durch die Entfernung gedämpften Klänge der messingnen
Blasinstrumente verliehen allem ein gewisses unruhvolles Kolorit,
das die diffuse Unwirklichkeit des Tages noch unterstrich. Es lag
etwas Trauriges und zugleich Freudiges in der Luft. In solchen
Augenblicken glaubt man an das Unwahrscheinlichste. Deshalb sagte
ich Swetlana, daß ich sie liebe.
Sie blieb stehen und wandte sich mir zu. Hinter ihr war
die akkurate Gestalt des Kapellmeisters zu sehen, der lautlos
seinen Taktstock schwang, und ihm widerspruchslos gehorchend,
blitzten die Instrumente rhythmisch mit ihren wohlgenährten gelben
Flanken. Die Musik war in diesem Moment nicht zu vernehmen – sie
verhallte, löste sich in der unbewegten Luft auf –, und ich spürte
nur, daß mein Herz wild hämmerte wie vor einem Sprung aus großer
Höhe. Kühle Finger legten sich mir auf die Augen, und da hatte ich
das Gefühl, ringsum schwebe alles, denn Swetlana küßte mich. Aber
als ich die Musik wieder hörte, war Swetlana nicht mehr
da.
Warum hatte sie das getan?
Wieder und wieder stellte ich mir diese Frage, auf die
es keine Antwort gibt. Hartnäckig ging sie jedem Gespräch aus dem
Wege. Ich war beleidigt, zog das Ganze ins Lächerliche, hüllte mich
in finsteres Schweigen, machte mich über mich selbst und über sie
lustig – alles vergebens.
Jede freie Minute widmete ich mich meinem
Apparat.
Als ich ihr spaßeshalber den Helm aufstülpte und sie in
dem abgeschirmten Sessel Platz nehmen ließ, ahnte sie nicht, daß
die Mikrolokatoren in die Tiefen ihres Hirns vor drangen, ihr
Biofeld erforschten, die Biophysik ihrer Empfindungen und Gefühle
studierten und deren Frequenzen und Amplituden maßen und daß das
Elektronenhirn analysierte, verglich, kombinierte und die eine
Resonanzfrequenz suchte, die in ihrem Emogramm eventuell jene
Spitzen erzeugte, die ich bisher vergebens bei ihr gesucht
hatte.
Jetzt liegt die Entscheidung in meiner Hand, aber ich
schiebe das Experiment immer wieder auf, weil all meine Zuversicht
das Gefühl der Oberflächlichkeit unserer Vorstellungen von der
Natur der Liebe nicht wegwischen kann. Hinter den Kurven der
Emogramme und den dicken Heften mit Diagrammen tun sich mir solche
Tiefen menschlichen Glücks und Leids auf, daß ich jeden Glauben an
die Macht von Kybernetik und Elektronik verliere.
Zugleich spüre ich, daß Swetlana sich von mir entfernt.
Es ist ein rein instinktives Gefühl, aber ich glaube ihm. Und
trotzdem kann ich mich nicht entschließen.
Das kleine Plastgehäuse liegt in meiner Hand. Ich
brauche den Finger nur ganz leicht zu bewegen, und der
Biofeldgenerator beginnt zu arbeiten. Doch ich denke an die
unerforschten Geheimnisse des Hasses, der Verachtung, der Angst und
der Verzweiflung, ich erinnere mich an die Tausende von Tragödien,
an deren Anfang die Liebe stand, und meine Entschlossenheit
schwindet dahin. Gewaltsam eingeimpfte Liebe, aufgezwungene Liebe,
ungewünschte Liebe – wird sie sich nicht in einem Augenblick in ihr
Gegenteil verkehren?
Doch Swetlana zu verlieren wäre schrecklich für mich.
Das kann ich nicht zulassen. Sie verlieren hieße mich selbst
verlieren.
Manchmal muß ich daran denken, daß es jemand gibt, der
mich beneidet. Ironie des Schicksals! Ohne alle Apparate merke ich,
daß Viktor Burzew Swetlana gleichfalls liebt. Und er ist überzeugt,
daß Swetlana meine Liebe erwidert.
Bald nach ihrer Abreise kam Viktor einmal zu mir ins
Labor. Lange humpelte er von einer Ecke in die andere und redete
über irgendwelche Belanglosigkeiten. Ich durchschaute ihn,
verspürte ihm gegenüber jedoch weder Eifersucht noch Feind
seligkeit. Ich weiß nicht, woran das lag: an unserer langen
Freundschaft oder an der Hoffnung, die ich immer noch nicht
aufgegeben hatte. Er bat rauchen zu dürfen und knetete die
Zigarette nervös zwischen den Fingern; dann erkundigte er sich mit
sichtlichem Überwindung, ob Swetlana schon geschrieben habe. Ich
log, indem ich sagte, sie habe mich angerufen. In Wirklichkeit
hatte ich sie angerufen. Er nickte, drückte die nicht zu Ende
gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und ging wieder. Ich hielt
ihn nicht zurück. Ich sah, daß es Viktor noch schlimmer erging als
mir. Aber wie konnte ich ihm helfen?
Jeden Abend, wenn ich aus dem Laboratorium komme, gehe
ich zu demselben Gebäude und stelle mir vor, wie ich in dem hellen
Fensterquadrat den vertrauten Schatten er blicke und die
trichterförmige Öffnung des Strahlers darauf richte. Ich sehe
förmlich vor mir, wie Swetlana zum Telefon stürzt und meine Nummer
wählt, nachdem ihr plötzlich klar geworden ist, daß sie mich liebt,
daß sie nicht eine Stunde, ja nicht eine Sekunde mehr ohne mich
sein kann, nicht ahnend, daß ich hier in der Nähe bin, daß ich
jetzt immer in ihrer Nähe sein werde. Ich höre ihre Absätze über
die Fliesen klappern, sehe einen vagen Schatten auftauchen, sich in
dem erleuchteten Prisma aufspalten und zwei, drei, vier Swetlanas
zu mir eilen, laufen, fliegen. Dann öffnen sich die Kristallwände
vor ihr, und ich mache einen Schritt auf sie zu…
Wüßte ich doch, was uns bevorsteht!
Man fand Viktor am Morgen auf dem Fußboden des Laboratoriums. Den gehörnten Helm auf dem Kopf festgeschnallt, lag er neben der eingeschalteten Anlage, und sein Gesicht war kreidebleich.
Die Unfallursache war rasch festgestellt. Es war weder
Selbstmord, wie ich vorschnell geschlußfolgert hatte, noch
Fahrlässigkeit während des Experiments. Es hatte zufällig eine
Panne gegeben, die unmöglich vorauszusehen und zu verhindern
gewesen war.
»Ja, er ist wieder bei Bewußtsein«, sagte mir der Arzt,
als ich am nächsten Vormittag ins Krankenhaus kam, »aber er wird
von Stunde zu Stunde schwächer. Vielleicht hat die lange Einwirkung
des Feldes bei ihm zu einem schweren psychischen Trauma geführt. Er
hat nicht mehr den Willen, um sein Leben zu kämpfen, und das ist
das schlimmste. Da sind war machtlos. Natürlich tun wir, was in
unseren Kräften steht, aber Spritzen und Medikamente helfen hier
nicht viel. Nur noch ein, zwei Tage, und es ist zu Ende.«
Da wird mir weh ums Herz, und ich tue mir selber
schrecklich leid, weil mir klar wird, daß Viktors Rettung allein
von mir abhängt. Ich gehe auf den Korridor hinaus und lasse mich in
einen Sessel fallen. Den Kopf in die Hände gestützt, sitze ich
lange und horche in mich hinein, wo sich im Herzen eine betäubende
Leere ausbreitet. Ich muß an Swetlanas Hände denken, wie sie über
den schillernden steinernen Feuern hin und her huschen, an die
Musik der Schlegel in dem riesigen Saal, an ihr Lächeln, die ein
wenig erstaunten Augen und die schon halbvergessene Weichheit ihrer
Lippen – an all das muß ich denken, worauf es heute zu verzichten
gilt, und das tut sehr, sehr weh. Erst später merke ich, daß
Fedossejew neben mir sitzt.
»Pjotr Iwanowitsch, wie schön, daß Sie hier sind!« sage
ich fast schreiend, aus Angst, meine Entschlossenheit könnte mich
wieder verlassen. »Ich weiß, wie Viktor zu retten ist!«
Hastig und unzusammenhängend erzähle ich ihm alles: von
Swetlana und mir sowie von dem in meiner Tasche steckenden Apparat.
Ich wisse, um die siebenundzwanzigtausend Marken auf die Lochkarte
zu übertragen, müsse man mindestens vierundzwanzig Stunden
pausenlos arbeiten, aber ich hätte alle Emogramme Viktors bei mir
im Labor, und die Jungens würden mir helfen; deshalb müsse man
unverzüglich, ohne noch eine Minute zu verlieren, Swetlana
herbeirufen und sie um ihre Zustimmung zu dem Experiment bitten,
das Viktor retten werde…
Hier verstumme ich, weil Pjotr Iwanowitsch mich irgend
wie merkwürdig ansieht und sich in seinen Augen Betroffenheit
malt.
»Sie glauben mir nicht?« frage ich erregt und lange in
die Tasche, um den Apparat hervorzuholen. »So begreifen Sie doch,
das ist die einzige Chance für Viktor!«
Doch Fedossejew gebietet mir Einhalt.
»Sie ist schon hier«, sagt er und dreht mich zur Tür.
»Ich habe ihr ein Telegramm geschickt.«
Da stockt mir für einen Augenblick der Herzschlag, denn
am Ende des Korridors sehe ich durch die weit aufgestoßene Tür die
vertraute schlanke Gestalt auf uns zu eilen, rennen, fliegen. So
nahe läuft sie an mir vorüber, daß der Luftzug ihrer Arme mein
Gesicht streift, und ein Blick genügt mir, um zu begreifen, weshalb
Fedossejew mich so merkwürdig angesehen hat. Sie reißt die Tür zu
dem Krankenzimmer auf, in dem Viktor liegt. Für einen Augenblick
kann ich sein markantes Profil auf dem blendendweißen Kopfkissen
sehen, und blitzartig fällt mir das andere, steinerne Profil auf
dem Fußboden der Werkstatt ein, das mir so bekannt vorgekommen war.
Mit sanftem Seufzer schließt sich die Tür wieder, und ich stehe,
seitlich an die Wand gelehnt, und suche mit Fingern, die mir nicht
gehorchen wollen, in der Tasche nach einer Zigarette.
»Deine Hände sind wie der Wind«, rezitiere ich laut,
doch die Zeilen entgleiten mir, und ich kann mich des Schlusses
einfach nicht mehr erinnern. »Deine Hände sind wie der Wind«,
murmele ich wie aufgezogen.
Meine Finger stoßen auf das glatte Gehäuse des Apparats.
Ich hole ihn hervor und ziehe die dünne Plastplatte mit den
mikroskopisch kleinen Lochmustern heraus.
Dann halte ich ein brennendes Streichholz daran und
schaue zu, wie die Platte mit rußender gelber Flamme verbrennt. Ich
halte sie so lange fest, bis mir das Feuer die Finger
versengt.