Vierundvierzigstes Kapitel
Nach der unruhigen Nacht wecken mich am nächsten Morgen helle, friedliche Sonnenstrahlen, als hätte der Himmel nie gewütet und getobt.
»Du hast mir versprochen, dass wir zusammen schwimmen«, sage ich zu Alex, der die beim Sturm abgebrochenen Äste aufsammelt. »Ich hätte große Lust auf eine nette, kleine Erfrischung in ruhigem Wasser.«
Er lässt den schweren Ast fallen, den er gerade wegschleppt. »Dann komm«, sagt er. »Für eine Runde im Wasser bin ich immer zu haben.«
Wir paddeln mit dem Kanu zu dem nahe gelegenen Atoll, das er mir am Vortag gezeigt hat. Es handelt sich um ein großes Korallenriff, das kreisförmig so hoch aus dem Wasser ragt, dass darauf sogar Bäume wachsen. Der Strand ist wunderschön und in der Mitte liegt ein großes natürliches Schwimmbecken. An einem Tag wie heute, mit strahlender Sonne und wolkenlosem Himmel, Delfinen, die sich rings um das Atoll tummeln, grünen Schildkröten, die über den Sand kriechen, und Seevögeln, die hoch über uns fliegen, kann man sich hier wie im Paradies fühlen.
Zhara wäre bestimmt ganz entzückt gewesen, sich mit Alexander Blackburn auf einer so einsamen Insel aufzuhalten. Bestimmt hätte sie sich wie im siebten Himmel gefühlt. Und ich? Hübsch hier, würde ich sagen, aber ich sehne mich danach, wieder mit Tahir zusammen zu sein.
Eine schwangere Teen-Beta darf wohl auch mal träumen, oder?
Alexander und ich sind nicht die Ersten hier auf der Insel. Vor uns waren schon andere da und haben überall ihre Spuren hinterlassen. Sie haben ihre Namen in Kakteen geschnitzt: Amber – Piere. Jake + Nicholas. Gott ist eine Schildkröte. Ezechiel. Sie haben auch Kleidungsstücke zurückgelassen – T-Shirts und Badesachen –, die von den Ästen baumeln.
Alex führt mich zu einem Platz in der Mitte des Atolls, wo smaragdgrüne Bäume eine Lagune von perfektem Blau, gesäumt von einem rosa Sandstrand, umgeben. Ein Paradies. Irgendwie scheint er zu glauben, dass ich seine Hilfe brauche. Ha! Das Paradies ist der einzige Ort, an dem ich mich auskenne. Er versucht, meine Hand zu nehmen, um mich vorsichtig in das warme Wasser zu geleiten, als müsse er auf mich besonders aufpassen. Ich ziehe die Hand weg.
»Ich bin sechzehn«, sage ich. »Alt genug, um allein ins Wasser zu gehen.«
»Du bist sogar schon siebzehn«, sagt Alex. »Letzten Monat war Zharas Geburtstag.«
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Ich möchte ihn gern so vieles fragen, aber es fällt mir schwer. Jedes Mal, wenn er mich anschaut, weiß ich, dass er nicht mich, sondern sie sieht. Natürlich bemerkt er auch meine Tätowierungen und meine fuchsiaroten Augen. Bestimmt ist er dann jedes Mal traurig. Und jedes Mal, wenn ich ihn anschaue, erst seinen muskulösen Körper in der schwarzen Badehose, dann seine blonden, in der Sonne golden schimmernden Haare, die ihm locker ums Gesicht fallen, und schließlich seine türkisblauen Augen, kann ich nichts anderes denken als: Du hast es mit ihr getan. Mit ihr, die mein zweites Ich ist.
Alexander Blackburn beim Schwimmen zuzusehen ist eine reine Freude. Das kann ich nicht leugnen.
Er schwimmt nicht einfach nur, er tanzt. Seine Schwimmzüge sind kraftvoll, aber zugleich auch anmutig. Er wirkt wie ein Mensch, der zum Fisch geworden ist. Sein Element ist das Wasser.
Vielleicht kann er dem Etwas, das in mir wächst, auch das Schwimmen beibringen. Ich werde diesem Wesen, das in einem Gewaltakt gezeugt wurde, nicht viel Glück bieten können. Aber ein Aquino könnte es lieben und beschützen, in einer Weise, wie ich es nie könnte.
Ich schwimme jetzt ebenfalls, folge Alex in die Mitte der Lagune, wo das Wasser tiefer ist. Doch auch dort kann man noch den Boden berühren. Ich versinke mit den Füßen im warmen Sand. Die Sonnenstrahlen umspielen Alex, als wäre er eine Lichtgestalt. »Erzähl mir von Zhara«, bitte ich ihn.
Wir schwimmen langsam nebeneinander her, um ruhig weiterreden zu können. »Ich war sechzehn, als wir uns kennengelernt haben«, sagt er, »und sie dreizehn. Ich war Hilfstrainer in ihrer Mannschaft. Zhara war eine talentierte Wasserspringerin und trainierte für Olympia, aber zu Hause gab es bei ihr Probleme. Sie hatte schon sehr früh ihre Mutter verloren und stritt sich andauernd mit ihrem Vater. Sie hatte das Zeug zu einer herausragenden Sportlerin, aber ihr impulsiver Charakter stand ihr dabei im Weg. Kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag wurde ich neunzehn und hatte beschlossen, zum Militär zu gehen. Im Wasser verstanden wir uns hervorragend, da war sie ganz in ihrem Element. Aber was den Rest betrifft, da war schwer mit ihr auszukommen. Sie war unglaublich egozentrisch und stur. Und sie versuchte dauernd, mich in eine Beziehung hineinzuziehen. Ich fühlte mich auch sehr stark zu ihr hingezogen, aber ich fand sie noch nicht reif genug für eine echte Beziehung. Doch eines Abends, nur wenige Tage vor meiner Abreise auf die Base, gab ich der Versuchung schließlich nach. Sie provozierte mich. Und ich konnte nicht länger widerstehen. Am nächsten Morgen beendete ich die Sache zwischen uns sofort. Ich erklärte ihr, es sei ein Fehler gewesen; dass sie noch zu jung sei, zu unbesonnen. Ja, und dann war ich auf der Militärakademie und hörte von ihr nur noch, dass sie allmählich immer wilder und unbeherrschter wurde, bis es schließlich zu dem Vorfall bei dem Zeltausflug kam. Seither gilt sie als vermisst.«
»Ich dachte immer, Aquinos binden sich fürs Leben. Wie hast du dann mit ihr Schluss machen können?«, frage ich ihn. Es gibt für mich keinen Grund, meine First zu verteidigen. Aber mir fällt auf, dass mein Tonfall anklagend ist.
»Auch Aquinos machen mal Fehler«, antwortet er. »So wie ihr. Wir sind nicht immer hundertprozentig perfekt. Ich habe versagt, das gebe ich zu. Es hätte nicht vorkommen dürfen, dass ich Zhara so behandle, wo wir doch alles miteinander geteilt haben. Trotzdem ist es geschehen.« Er berührt mit den Füßen den Boden und schaut mich an. »Ich habe mich herzlos verhalten und ganz anders, als es eigentlich der Natur meines Volkes entspricht. Darauf bin ich alles andere als stolz. Und jetzt bist auf einmal du da.«
Hallo, Sonne, möchte ich am liebsten zu den Strahlen sagen, die den Aquino zu einer Lichtgestalt verklären, sei lieber mal vorsichtig. Alexander Blackburn ist vielleicht doch kein Engel.
Er war ehrlich zu mir. Das weiß ich zu schätzen.
Ich schwimme um ihn herum und mustere ihn auf dieselbe Art und Weise, wie die Menschen mich so oft gemustert haben. Er gefällt mir. Seine wohlgeformten Muskeln an Brust und Oberarmen. Seine goldbraune Haut. Seine blonden Haare. Seine türkisblauen Augen, die mich jetzt so intensiv anschauen. Voller Begehren.
Alex schwimmt wieder los und diesmal jagt er mich. Ich lache, als er unter mir und neben mir durchs Wasser schießt, und mache mit ihm dasselbe. Gemeinsam vollführen wir einen Wassertanz, von dem ich weiß, dass er ihn unzählige Male mit ihr getanzt hat.
Aber jetzt tanze ich ihn. Sie ist nicht mehr da. Wenn ich will, gehört er mir.
Habe ich denn die Wahl, etwas anderes zu wollen?
Ich lasse zu, dass er mich fängt. Wir sind beide außer Atem. Er hat seine Arme um mich geschlungen und zieht mich nahe zu sich heran. Ich schaue in seine türkisblauen Augen und weiß, dass er nicht Tahir ist. Aber ich bin mit ihm zufrieden.
Mit Alex kann ich mich der Armee der defekten Klone in den Rave Caves anschließen. Alex kann mir alles beibringen, was ich können muss, um mich auch an der Revolte zu beteiligen. Um zu Recht das Symbol ihres Freiheitskampfes zu sein, das sie in mir sehen wollen. Sie wollen sich gegen die Unterdrückung erheben, ich begehre auch dagegen auf. Ich will meinem Leben einen Zweck und einen Sinn geben, es nicht vergeuden wie Zhara. Ich will vollenden, was Xanthe und Miguel angefangen haben.
Alex wird sich um das Wesen kümmern, das in mir heranwächst. Er ist nicht meine große Liebe. Aber er wird mir ein großartiger Gefährte sein. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich werde seinem Ruf folgen. Dem Lockruf seiner kräftigen Arme und seiner starken Schulter, an die ich mich lehnen kann. Mich in seine Arme zu schmiegen, kommt mir auf einmal sehr verlockend vor.
Plötzlich durchströmt mich alles, was auch Zhara für ihn empfunden haben muss – Zärtlichkeit, Begehren, Liebe, Leidenschaft. Ich schlinge im Wasser meine Beine um seine Hüften. Er drückt mich fest an sich und mein Herz beginnt zu rasen.
»Ja?«, fragt er mit seiner rauen Stimme.
»Ja«, murmle ich.
Alex’ Lippen nähern sich meinen, und meine Lippen öffnen sich, um seinen zu begegnen. Die Sonne, das Wasser, dieser Augenblick: Wir haben uns gefunden.
Ins Wasser springen. Schwimmen. Küssen. Uns umar-men.
So vergeht der Tag. Dann kündigt die tiefer stehende Sonne an, dass bald die Dämmerung hereinbricht. Wir müssen von der blauen Lagune des Atolls Abschied nehmen. Wir wollen vor Sonnenuntergang zurück auf Myland sein. Alex muss dort seine tägliche Meditation abhalten, und ich will noch genug Zeit haben, um mich von M-X zu verabschieden.
Morgen, so haben wir beschlossen, werden wir zu den Rave Caves hinübersegeln. Dann fängt für uns ein neues Leben an.
Während wir zum Kanu schlendern, das wir am Strand zurückgelassen haben, sehen wir ein kleines Segelboot auf die Insel zusteuern.
»Ich kenne dieses Boot«, sagt Alex. »Es gehört der Armee der defekten Klone in den Rave Caves.«
Wir schlendern Händchen haltend weiter.
Das Boot landet an der Insel und wird von zwei stämmigen Männern mit Stechpalmentattoo auf den Strand gezogen. »Neue Rekruten aus Heaven«, sagt Alex.
Die beiden Männer helfen einem Mädchen, aus dem Boot zu klettern. Ein Menschenmädchen, ohne Tattoos an den Schläfen. Sie sieht punkig und wild aus. In ihre langen blonden Haare sind schwarze und blaue Strähnen gefärbt. Der Wind auf dem Meer hat sie zerzaust. Als sie uns sieht, ruft sie laut: »Xander!«
Alex lässt meine Hand fallen. Die beiden stämmigen Klone und das Mädchen stehen vor uns.
Das Mädchen schaut mich an. Sie erstarrt. Auf ihrem Gesicht ist Schock und Bestürzung zu lesen.
Ihr Gesicht ist auch meines.
Das Mädchen ist Zhara.
Ich wusste immer, dass da etwas nicht stimmt. Und jetzt habe ich Gewissheit. Ich besitze eine Seele.
Weil meine First nie gestorben ist.