Drittes Kapitel
Was sie über die Luft auf der Insel sagen, stimmt.
Obwohl ich keinen Vergleich habe, glaube ich zu spüren, wie die mit Sauerstoff angereicherte Luft einem menschlichen Körper und einer menschlichen Seele ein beständiges Glücksgefühl verschaffen kann. Die Luft auf Demesne ist so weich, dass ich allmählich begreife, wie mit einer Seele ausgestattete Menschen hier jeden Antrieb verlieren können. Kein Wunder, dass die menschlichen Bewohner der Insel deshalb auf Klone angewiesen sind, die für den Reichtum und die Idylle ringsum unempfänglich sind. Der süße Luxus, in dem hier alle baden, ist wahrscheinlich so einschläfernd wie die Anästhesie-Spritze in meiner linken Gesichtshälfte, deren Wirkung allmählich nachlässt.
Ich erwache aus meinem Schlummer, meine Augen öffnen sich. Wir gleiten wieder in dem Luftmobil dahin. Jetzt erinnere ich mich. Anästhesie hält bei Klonen nicht lange an. Nachdem meine Mutter mich gekauft hatte, legten wir einen Zwischenstopp in ihrem Country Club ein – er trägt den Namen seines Orts: Heaven –, und in der Schönheitsklinik auf dem Gelände erhielt ich mein zweites Tattoo. Die Menschen hier nennen die Prozedur, bei der uns Klonen auf der linken Gesichtshälfte die Ranken einer Pflanze eingraviert werden, das ›Ranking‹; an der ausgewählten Pflanze ist für jeden sofort erkennbar, für welche Aufgaben wir von unseren Eigentümern eingesetzt werden. Mutters Bodyguards auf den Vordersitzen des LUV sind mit Kapuzinerkresse gerankt, deren schildförmige Blätter und leuchtende gelbe oder orange Blüten in der Symbolsprache von Demesne Eroberung und Sieg bedeuten.
Ich berühre die linke Hälfte meines Gesichts, fahre mit dem Finger von der Schläfe zum Wangenknochen. Im Fenster des LUV kann ich schwach mein Spiegelbild mit den spitz zulaufenden dunkelblauen Blütenblättern erkennen. Mein Ranking teilt jedem mit, dass ich als Teen-Beta das große Glück habe, für eine der höheren Aufgaben als Gesellschafterin auserwählt worden zu sein. Dr. Lusardi sagte mir vorher, dass ich einen hervorragenden Preis erzielen würde, und sie hatte damit recht. Ich spüre ein Kribbeln im Magen, prickelnde Erwartung. Ich kann es gar nicht erwarten, dass mein Abenteuer beginnt. Bald werde ich mein Zuhause sehen.
»Dein Ranking sieht wunderschön aus«, sagt Mutter mit ihrer kindlichen, sanften Stimme. »Sobald die Brandmale verblassen, wird es sogar noch schöner sein. Ich bin so froh, dass wir uns für Rittersporn statt für Chrysanthemen entschieden haben, mit dem die meisten Gesellschafterinnen gerankt sind. Was für eine hübsche Wahl. Das Blau und das Violett auf der anderen Seite ergänzen sich so wunderbar.«
Rittersporn symbolisiert leidenschaftliche Zuneigung. Mutter scheint mich absolut hinreißend zu finden. »Ich habe noch nie einen so zauberhaften Klon wie dich gesehen, Elysia. Und auf dieser Insel hier will das viel heißen. Ich bin glücklich, dass wir jetzt zu Hause ein so liebes neues Mädchen haben werden. Was für eine großartige Idee von Dr. Lusardi, eine Teen-Beta zu erschaffen. So jung und so rein! Deine arme First, so viel Schönheit, alles vergeudet. Ihre arme Mutter, die ihr Kind so früh verloren hat.« Sie seufzt. »Aber ich kann’s kaum erwarten, dich den anderen vorzuführen!«
Sie zieht mich an ihre Seite. Ich checke die angemessene Reaktion – meinen Kopf auf ihre Schulter legen –, was ich dann auch ausführe und woraufhin Mutter mir einen Kuss auf den Scheitel drückt. »Was für ein liebes, süßes Mädchen«, haucht sie. Wärme von Mutters Umarmung durchströmt meinen Körper. Ich bin für sie nicht nur eine Gesellschafterin, ich bin für sie eine Tochter, wie ihre wirkliche Tochter, die Astrid heißt. Mutter erzählt mir, dass sie von jetzt an für mich sorgen wird. Was für ein Glück ich doch habe!
Wie alle Villen auf Demesne ist auch das Haus des Governor, mein neues Heim, nicht nur ein Gebäude, sondern zugleich Kunst. Die Insel ist mit über hundert solcher Luxusresidenzen übersät, alle von demselben Architekten entworfen; alles ist aus Holz, Glas, Titan und Kupfer, und die vorherrschende Farbe ist Weiß. Wie geometrische Skulpturen liegen sie inmitten der Landschaft von Demesne, eine Mischung aus den Tempeln, die alte Zivilisationen für ihre Götter errichtet hatten, und modernen intergalaktischen Raumschiffen.
Wir sind bei der Villa des Governor angelangt. Das Luftmobil senkt sich auf den Landeplatz nieder, der dicht von den Blüten gesäumt ist, für die Demesne berühmt ist: die Champagnerkelche. Es sind Blumen, deren Form an Fackeln erinnert, mit langen, hoch aufgerichteten Stielen, an deren Enden sich golden glänzende Kelche öffnen. Schimmernd und funkelnd umringen sie den Landeplatz, als warteten lauter Champagnerflaschen darauf, geöffnet zu werden.
Als das Luftmobil zum Stillstand gekommen ist, tätschelt Mutter mir die Hand. »Willkommen in deinem neuen Zuhause, mein Herzchen«, säuselt sie.
Ich brauche keine Führung, das Interface meines Chips visualisiert mir im Schnelldurchlauf alles, was ich über mein Zuhause wissen muss. Die Villa des Governor liegt am Rand der Steilküste, deren Felsen senkrecht zum Meer abfallen. Um den Blick auf die Weite des Ozeans genießen zu können, sind alle Zimmer der Familie mit vom Boden bis zur Decke reichenden Panoramafenstern ausgestattet. Auf ein prächtiges Foyer mit Marmorverkleidung und Kristalllüstern folgen die großzügig bemessenen Räume: luxuriös ausgestattete Schlafzimmer und Bäder, in heiteren, hellen Farbtönen gehaltene Wohnbereiche, eine Küche mit sämtlichen technischen Finessen, ein Massageraum und noch viele andere mehr. Und selbstverständlich verfügt die Villa auch über das brandneue Home Entertainment, mit dem alle Häuser in Demesne ausgestattet sind, die FantaSphere – eine Fantasy-Kampf- und Spielarena, in der man Sportarten wie virtuelles Rehbockschießen, Goldrausch oder auch Haifischjagd spielen kann. Außerdem spielen die Jugendlichen auf Demesne dort wie verrückt Z-Grav, wie Mutter mir erzählt hat, ein Schwerelosigkeitsspiel.
Die Villa des Governor wird mit Solarenergie und Klonenergie betrieben. Der Governor und seine Frau haben einen Butler bzw. eine Zofe, die ihnen alle Wünsche von den Augen ablesen, und verfügen außerdem über mehrere Zimmermädchen, einen Koch, mehrere Gärtner, eine Glamouresse für Mutter sowie die zwei Bodyguards. Der Bedarf an Fitnesstrainern, Physiotherapeuten und Bauarbeitern wird durch einen gemeinschaftlichen Pool an Klonen gedeckt, den sich die Bewohner von Demesne teilen. Diese Klone leben in Unterkünften auf dem Gelände des Heaven Country Club.
Als wir hineingehen, hält Mutter meine Hand. »Du bist der erste Klon in der Villa des Governor, der uns einfach nur Gesellschaft leisten soll, ohne weitere Aufgaben, und du bist das erste Beta-Modell in meinem Haus. Ich glaube, wir werden viel Spaß haben, dich auszuprobieren und zu sehen, was du alles kannst!«
Ivan, mein neuer Bruder, war in den letzten beiden Jahren in seiner Gewichtsklasse der Wrestlingchampion der Insel. Das teilt Mutter mir mit, nachdem er mich bei meiner Vorstellung gleich mit einem gezielten Griff auf den Boden geworfen hat. Ivan ist achtzehn, hat hellbraune, militärisch kurz geschnittene Haare, hellblaue Augen und die runden rosigen Wangen seiner Mutter, wodurch sein Gesicht fast weich wirkt – ein merkwürdiger Gegensatz zu seinem Körper.
»War nur Spaß«, sagt Ivan, als er sich wieder aufgerichtet hat. Er reicht mir die Hand, um mich hochzuziehen. »Wusste gar nicht, dass sie inzwischen auch Teen-Betas herstellen.«
»Mein Junge!«, sagt Mutter zu Ivan. »Jetzt hast du ein Mädchen in deinem Alter als Spielgefährtin. Nicht, dass du aus Versehen noch mal unserer kleinen zarten Liesel was zuleide tust.«
Die zarte kleine Liesel quietscht vor Vergnügen. »Wir haben eine Beta! Wir haben eine Beta!« Liesel ist ein dünnes zehnjähriges Mädchen, noch ein richtiges Kind, ohne die geringste Andeutung von Busen oder Hüfte. Ihre Haut schimmert genauso rosig wie die von Ivan und Mutter. »Kann ich ihr ihr Zimmer zeigen, Mommy? Bitte, bitte!«
»Nein«, sagt Mutter. »Dafür haben wir doch unsere Klone, Schätzchen. Sie sollen für uns die Arbeit tun.«
Mutter wendet sich an den weiblichen Klon, der hinter ihr steht. »Xanthe, bitte führen Sie die Beta in das Zimmer, in dem früher das Kindermädchen geschlafen hat, gleich neben Astrids Zimmer. Ich komme dann später nach.«
Xanthe, das Zimmermädchen, scheint in Menschenjahren gezählt knapp über zwanzig zu sein. Sie hat blasse, sehr helle Haut, schwarze Haare mit einem Pagenschnitt und schräg stehende fuchsiarote Augen. Ihr Ranking ist eine Stechpalme, die häusliches Glück symbolisiert. Ich folge ihr durch einen langen Flur mit Glaswänden, von denen man auf der einen Seite hinaus aufs Meer und auf der anderen Seite in einen üppig wuchernden Garten blicken kann.
»Was für ein hervorragend geführtes Haus«, sage ich zu ihr, um etwas Konversation zu betreiben und Xanthe ein Kompliment zu machen, weil sie ja ihre Arbeit gut zu machen scheint.
»Könnte es auch anders sein?«, fragt sie zurück.
»Keine Ahnung. Ich war hier noch in keiner anderen Villa.«
»Auf der Insel ist es überall so«, antwortet Xanthe. »Voller Schönheit und Harmonie.«
Mir ist das Zimmer zugewiesen worden, in dem früher das Kindermädchen schlief, direkt neben dem Schlafzimmer von Astrid, meiner neuen Schwester, die zum Studium weggegangen ist. Der Raum ist klein, aber funktional. Es gibt dort ein Bett, eine Kommode für Kleidung, einen Schreibtisch und ein Fenster mit Blick aufs Meer. Weil Astrid und ich dieselbe Kleidergröße haben, überreicht Mutter mir einen Karton mit Kleidungsstücken ihrer Tochter, damit ich fürs Erste eine Garderobe habe. »Astrid hat das meiste davon nie angehabt«, sagt Mutter. »Mit ihrer Figur hätte sie so wunderbar diese engen Jeans und knappen Tanktops tragen können, aber stattdessen lief sie immer nur in einem grässlichen Grunge-Look herum. So überhaupt nicht kleidsam! Diese Müllsäcke aus handgewebtem Hanf, die die Hippies auf dem Kontinent tragen. Unmöglich! Aber dir dürften all die hübschen Teile, die ich für meine modemufflige Tochter gekauft habe, perfekt passen.«
»Was soll ich anziehen?«
Mutter wirft einen Blick auf ihre diamantbesetzte Armbanduhr. »Die Kinder spielen um diese Zeit gern im Pool. Zieh am besten einen Bikini an und dann raus mit dir, vergnügt euch miteinander!«
Während ich mich im Badezimmer umziehe, höre ich, wie ein Mann Astrids Zimmer betritt. Mein Chip signalisiert mir, dass es sich um den Governor handelt. Er scheint nicht gerade erfreut darüber zu sein, dass ich von nun an zu seiner Familie gehören soll, und streitet sich lautstark mit seiner Frau.
»Ich habe dir klipp und klar gesagt, keine weiteren Klone mehr!«, fährt er sie an. »Und erst recht keine Teen-Beta! Was hast du dir dabei bloß gedacht? Der Vertrag mit dem Mainland erlaubt nur erwachsene Klone, und auch die würden sie uns nehmen, wenn sie könnten! Hast du daran gedacht, welcher Kritik du mich damit aussetzt? Mit diesem leichtsinnigen Kauf hast du dich mal wieder selbst übertroffen.«
Mutter klingt unbeeindruckt. »Jetzt mach dich nicht lächerlich. Elysia ist ein sanfter kleiner Engel. Sie wird dir gefallen.«
»Das hat damit doch gar nichts zu tun.«
»Ganz herzallerliebst. Eine Teen-Beta! Wir sind die Ersten, die eine besitzen! Ich musste sie einfach haben. Ich verspreche dir auch, dass ich jetzt damit aufhören werde.«
»Sie ist ein Teenager. Sie wird sich verwandeln und zum Monster werden.« Ich checke, was das bedeuten könnte, und erfahre, dass damit die Phase gemeint ist, in der es durch den rasant ansteigenden Hormonspiegel bei Jugendlichen manchmal dazu kommen kann, dass sie sich wild und unverschämt verhalten, sodass die Erwachsenen in ihrer Umgebung sie dann gern als Monster oder als verrückt bezeichnen. Allgemein gelte dieses Verhalten bei Teenagern jedoch durchaus ihrem Alter gemäß.
»Weiß man doch gar nicht.«
Ich aber schon. Ich werde nie ein schrecklicher Teen-Beta-Klon sein. Mein Chip wird dafür sorgen, dass ich immer ein nettes, braves Mädchen bin.
»Aber warum dieses Risiko eingehen?«, fragt der Governor.
»Wenn sie sich nicht gut macht, können wir sie immer noch zurückgeben«, sagt Mutter. »Reicht dir das nicht?«
Ich schwöre mir selbst, dass ich Mutter niemals einen Grund geben werde, mich zurückzugeben. Ich werde mich ihrer Entscheidung, mich zu kaufen und mich in ihr Haus und ihre Familie aufzunehmen, würdig erweisen.
»Ich meine es ernst«, sagt der Governor. »Keine solchen Impulskäufe mehr.«
»Versprochen«, sagt Mutter.
»Und ich verspreche dir, wenn hier was schiefgeht, dann wird dir auf dem Relay dein Kredit gesperrt.« Sein Tonfall wird neckisch. »Oder besser noch, ich reiße dir gleich den ganzen Chip heraus!«
Mutter lacht. »Ach, Governor, du immer mit deinen Scherzen.«