Fünftes Kapitel
Die Sonne und das Herumtollen im Pool haben Liesel und Ivan hungrig gemacht. Beim Abendessen langen sie kräftig zu, während ich an meinem Erdbeershake nippe.
»Magst du eigentlich auch Makkaroni mit Käse?«, fragt mich Liesel zwischen zwei Gabeln voll. »Das ist nämlich mein Lieblingsgericht.«
»Du Schäfchen«, sagt Ivan. »Du weißt doch, dass Klone nur Erdbeershakes trinken.«
»Na, vielleicht mag ich ja auch Vanilleshakes«, sage ich.
Alle am Tisch lachen, als hätte ich einen besonders lustigen Witz gemacht.
Höflichkeitshalber bekomme ich auch dasselbe Essen wie die Menschen serviert, obwohl ich mit einem Erdbeershake ausreichend versorgt bin. Das reicht mir zum Überleben. Vor mir steht gegrillter Thunfisch mit Salat und Makkaroni mit Käse. Menschliches Essen kann ich zwar verdauen, aber nicht schmecken. Es bringt mir also gar nichts, ihre Speisen zu probieren. Sämtliche notwendigen Nährstoffe nehme ich mit meinem Shake zu mir. Die Erdbeershakes haben auch einen Geschmack, aber man hat mir gesagt, dass Menschen ihn aufgrund der chemischen Zusammensetzung der Nährstofflösung widerlich finden. Deshalb soll ich ihnen davon besser nichts anbieten.
»Du solltest die Makkaroni mal probieren«, sagt Liesel. »Schmeckt sooo gut.«
Außer Dr. Lusardis Erdbeershakes habe ich noch kein Essen probiert. Ich werfe Xanthe, die in einigem Abstand hinter dem Esstisch steht und die Speisen diskret auf- und abträgt, einen fragenden Blick zu. Xanthe nickt mir unauffällig zu. Ich kann ruhig mal probieren.
Ich spieße ein Stück Makkaroni mit der Gabel auf und stecke es in den Mund. Die Nudel fühlt sich weich an und die Käsesoße umhüllt samtig meine Zunge. Ich schmecke … und dann denke ich plötzlich: Ohmeingottschmecktdasgenial. Kann das sein? Spüre ich wirklich, wie sich in mir ein großes Entzücken ausbreitet? Ich checke das Wort, das mir da gerade eingefallen ist, auf der Datenbank meines Chips und lerne, dass damit ein Zustand großer Befriedigung und Dankbarkeit bezeichnet wird. Kann man so sagen. Ich bin echt dankbar und zufrieden, dass ich diesen göttlichen Nudel-Käse-Geschmack kennengelernt habe. Mein Magen scheint meinem Mund ganz klar zu signalisieren: Bitte mehr, mehr, mehr!
Mir kommt es so vor, als würde mein Steuerungssystem auf einmal über sich selbst stolpern. Mein Chip teilt mir mit, dass ich als Reaktion auf die Makkaroni mit Käse auf meinem Gesicht Entzücken simulieren soll, und zugleich teilt mein Magen mir mit, dass ich tatsächlich Entzücken empfinde. Wer auch immer dieses Gericht erfunden hat, samtig weiche Nudeln mit Käsesoße sind ein göttlicher Einfall!
Aber ich dürfte das gar nicht schmecken und erst recht nicht Freude daran haben. Ich sollte nur Freude ausdrücken können, ohne sie auch tatsächlich zu empfinden. Eigentlich dürfte ich jetzt keine zweite Gabel Makkaroni mit Käse essen. Aber ich kann nicht anders. Ich will noch mehr davon. Dieser Geschmack! Ich verstehe, dass Liesel das gerne isst. Wahrscheinlich jeden Abend.
Ich mache mich über die gesamte Portion Makkaroni mit Käse auf meinem Teller her und würde am liebsten noch mehr davon haben, aber das traue ich mich nicht. Ich kehre brav zu meinem Erdbeershake zurück.
Kann es wirklich sein, dass diese ernährungstechnisch völlig überflüssigen Kohlehydrate bei mir ein solches Entzücken ausgelöst haben? Klone verfügen zwar über Geschmacksknospen und sind in der Lage, verschiedene Geschmacksrichtungen zu analysieren, aber es ist für sie nicht mit Genuss verbunden. So hat man es mir zumindest gesagt.
»Und?«, fragt Liesel. »Schmeckt wahnsinnig gut, oder?«
»Absolut umwerfend«, antworte ich.
Ivan prustet los.
»WNS!«, kreischt Liesel fröhlich.
»Was ist denn WNS?«, frage ich.
»War nur Spaß!«, sagen Liesel und Ivan wie aus einem Mund.
Oh, das wieder.
Mutter strahlt mich an und wirft dann dem Governor, der am oberen Tischende sitzt, einen Blick zu. »Habe ich nicht gesagt, dass sie reizend ist? Sie probiert sogar für Liesel Makkaroni mit Käse, nur um uns einen Gefallen zu tun.«
Es hat wirklich wahnsinnig gut geschmeckt. Das hab ich nicht nur aus Spaß oder um irgendjemand einen Gefallen zu tun gesagt.
Aber das braucht hier keiner zu wissen. Man hat mir nicht befohlen, dass ich Unregelmäßigkeiten melden muss, die in meiner Teen-Beta-Version möglicherweise auftreten; wie zum Beispiel eine Vorliebe für Makkaroni mit Käse. Davon war in meinem Orientierungskurs nicht die Rede.
»Sie ist eine richtig gute Schwimmerin«, sagt Ivan. »Ich wette, dass ihre First eine Leistungssportlerin war.«
»Dann solltest du davon profitieren«, sagt der Governor zu Ivan. »Du solltest die Zeit bis zum Beginn deiner Grundausbildung nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wenn Elysia wirklich so sportlich ist, kann sie mit dir trainieren. Dich auf das Militär vorbereiten. Wenn wir sie schon hierhaben, kann sie auch was Nützliches tun, statt nur mit euch herumzulungern und zu eurer Belustigung Essen für Menschen zu probieren.«
Ivan wird nicht wie seine Schwester studieren, sondern in die Fußstapfen seines Vaters treten und zum Militär gehen. Er wird in die private Elitearmee aufgenommen, die auf der Base ihr Ausbildungslager hat, dem riesigen Militärkomplex auf dem Mainland, dessen Gelände sich auf einer Länge von hundert Meilen vom Ozean bis tief hinein in die Wüste erstreckt. Die Eigentümer von Demesne sind gleichzeitig auch die Betreiber der Armee und der Base, doch auf der Insel brauchen sie den Schutz des Militärs nicht. Auf dem friedlichen, idyllischen Demesne ist die Stationierung von Truppen nicht notwendig und würde den Schönheitssinn der Bewohner beleidigen.
»Cool!«, sagt Ivan.
Der Governor wendet sich zu mir. Wie sein Sohn ist er groß und kräftig gebaut und strahlt außerdem eine beeindruckende Autorität aus. »Seit fünf Generationen sind die Männer in meiner Familie Generäle«, verkündet er stolz. »Eines Tages wird Ivan der sechste sein. Elysia, du wirst ihm bei der Vorbereitung auf das Ausbildungslager helfen. Er fängt dort in drei Monaten an. Bis dahin muss er körperlich in Topform sein. Ab morgen trainierst du mit ihm.«
»Ja, Governor«, sage ich.
Er hat nicht zu mir gesagt, dass ich ihn ›Vater‹ nennen soll.