Zwölftes Kapitel

Was für ein Skandal!

Die Damen, die beim Luch zusammensitzen, haben mir von dem unerhörten Ereignis berichtet. Die Kakaobohnen, aus denen Schokolade produziert wird, sind auf dem Mainland nur noch in geringen Mengen vorrätig – in so geringen Mengen, dass Schokolade dort rationiert werden musste. Hier auf Demesne gibt es dieses Problem allerdings nicht, wir haben Schokolade in Hülle und Fülle, weil die Insel ihre eigenen Kakaoplantagen hat. Es ist sogar verboten, die Kakaobohnen zu exportieren. Das Besondere an den Kakaoprodukten der Insel ist, dass sie bereits von der Bohne an kalorienreduziert sind, sodass selbst bei übermäßigem Verzehr kaum eine Gewichtszunahme erfolgt. Die Einwohner von Demesne sollen sich nicht mit einem Schokoriegel pro Woche begnügen müssen, wie es bei den armen Menschen auf dem Mainland der Fall ist.

Ich kann also gar nicht zu viel Schokolade essen.

Wir sitzen hinter dem Hauptgebäude des Heaven Country Club auf der Gartenterrasse mit Blick auf die Nectar Bay. Nach dem Lunch haben Mutter und die anderen Damen eine Partie Mah-Jongg begonnen, und mir fällt die Aufgabe zu, die Punkte zu notieren. Die Society-Ladys der Insel tragen alle leichte Tunika-Kleider mit leuchtenden Blumen- oder Mosaikmustern, dazu hohe Riemchensandalen an ihren perfekt pedikürten Füßen. Sie sind alle schon etwas älter, aber ihre Haut hat durch die sauerstoffangereicherte Luft von Demesne ihren rosigen Schimmer bewahrt, wirkt außerdem straff, was wohl von der ständigen leichten Massage durch die Brise von Ion herrührt. Hinter dem großen Sonnenschirm, der die delikate Haut der Damen vor zu viel direktem Licht schützt, warten diskret die Dienstklone und schenken unauffällig immer wieder nach, sodass es wirkt, als würden die Ladys nur vornehm an ihren Getränken nippen, statt ganze Karaffen zu leeren. Neben ihrem Weinglas hat jede von ihnen als kleinen Snack ein Schälchen mit in Schokolade getauchten tropischen Früchten stehen. Ein Stück vom Tisch entfernt halten sich Masseure, Leibwächter, Kosmetikerinnen und Personal Trainer bereit, um ihnen auf Wunsch sofort zu Diensten zu sein. Doch im Moment sind die Damen mit ihrem Brettspiel beschäftigt.

Mehrere hundert Meter weiter, in einem entfernten Winkel des weitläufigen Areals von Heaven, sind Arbeiter am Werk. Mein Interface zoomt sie heran und spielt mir ein, dass die Bambus-Tätowierungen an ihren Schläfen Stärke und Robustheit symbolisieren sollen. Exemplare dieser niederrangigen Klone, die für körperliche Arbeit auf dem Bau oder in den Kloakenkanälen eingesetzt werden, legen gerade das Fundament für ein weiteres Gebäude in Heaven. Ab und zu weht von ihnen etwas Lärm herüber, als sie mit schwerem Gerät Betonplatten verlegen.

»Was bauen sie da eigentlich?«, frage ich Mutter.

»Ach, immer dieser Lärm«, jammert Mutter. »Wirklich unerträglich. Sie bauen da einen neuen Gästeflügel für Heaven. Immer diese neuen gesetzlichen Regelungen, die sie sich auf dem Mainland einfallen lassen, um uns zu ärgern. Es sollen mehr Besucher auf die Insel kommen dürfen und die müssen ja irgendwo untergebracht werden.« Hinter einer dichten Baumreihe versteckt, jenseits der Baustelle, befinden sich die Baracken für die Dienstklone und Arbeiter – einfache Bambushütten mit Etagenbetten, mehr nicht.

»Ins Haus kommen mir diese Gäste jedenfalls nicht«, sagt die Dame, die Mutter am Tisch gegenübersitzt. Weil ich inzwischen gelernt habe, was Sarkasmus ist, und weiß, dass er keine körperlichen Verletzungen zufügt, habe ich diese Freundin von Mutter ›Mrs Weinrot‹ getauft, weil sie sich nämlich erstens dauernd von dem Château Rothschild nachschenken lässt und zweitens bei fast jedem Gesprächsthema weinerlich wird, weil es immer etwas zu bejammern und zu beklagen gibt.

»Ganz richtig«, sage ich und nicke zustimmend, wie das von mir als guter Gesellschafterin erwartet wird.

Mutters Freundinnen strahlen. Die Dame links neben Mutter, die ich Mrs Lange-Weile nenne, weil sie bei allem, was sie sagt, die Wörter unglaublich in die Länge zieht und sich sehr stark nach Abwechslung zu sehnen scheint – ihre Blicke schweifen dauernd zu den nackten Oberkörpern der männlichen Badegäste am Strand ab –, sagt daraufhin: »Deine Beeeta ist sooooo viiiiel angeneeeehmer als Aaaastrid! Daaaaauernd diese Reeeeeden über Gleeeeeichheit und Naaaaachhaltigkeit und gerechte Güüüüüterverteilung. Wie laaaaaaaangweilig!«

»Astrids Verachtung für all das Gute und Schöne, was wir hier haben, konnte einem die Laune manchmal schon etwas verderben«, sagt Mutters Freundin zu ihrer Rechten, Mrs Beauty Queen, die mir als Erstes erzählt hat, dass sie immer noch dieselbe Kleidergröße trägt wie zu ihrer Zeit als Miss Teen Mainland – »Nur zehn Jahre her, haha!«

»Und deine Beeeta ist soooo hüüüübsch gekleidet!«

Mutter wollte, dass ich mich für ihre Freundinnen genauso wie sie kleide, deshalb trage ich eine Tunika mit rosa-gelbem Paisleymuster. Weil ich größer als Mutter bin, reicht mir das Minikleid gerade mal bis knapp über den Po. Darunter habe ich einen Bikini von Astrid angezogen. Den einteiligen Badeanzug ihrer Schwiegermutter wollte sie zu dieser Gelegenheit nicht an mir sehen.

»Ja, es ist wirklich eine große Freude mit ihr«, sagt Mutter.

Die anderen nicken. Ich habe keine Ahnung, was an mir eine große Freude sein soll, außer dass ich jeder Äußerung am Tisch zustimme, alle freundlich anlächle und ihnen nicht wie Astrid Reden über Gleichheit, Nachhaltigkeit und gerechte Güterverteilung halte. Scheint so, als hätten alle diese Ladys Kinder, die halb Monster, halb Engel sind – privilegierte Jugendliche, die verhätschelt wurden und mit der Überzeugung aufgewachsen sind, sie hätten ein natürliches Anrecht auf Ataraxia, sodass sie irgendwann außer Rand und Band gerieten, worunter dann als Erste ihre Mütter zu leiden hatten. Aber zum Glück haben diese ja einander und außerdem ihren Château Rothschild, ihre Mah-Jongg-Runden und all ihre Bediensteten, um ihre Pein zu lindern, wenn das allgemeine Streben nach Ataraxia auch einmal Enttäuschungen oder missratene, undankbare Kinder mit sich bringt.

»Zeig ihnen, was du kannst, Elysia«, fordert Mutter mich auf.

»Was denn?«, frage ich. Der Pool mitten in der Bucht ist viel zu weit entfernt, als dass sie einen guten Blick auf meine Kopfsprung- und Schwimmkünste haben könnten.

»Eine gute Wasserspringerin muss auch eine gute Turnerin sein. Führe uns ein paar Bodenübungen vor.«

Ich stehe auf und verbeuge mich höflich. Ich weiß, dass Mutter ihre Freundinnen am Tisch nur ablenken will, damit sie heimlich auf ihre Spielsteine schielen und sich eine Strategie ausdenken kann, wie sie am besten schummelt. Mutter gewinnt einfach so gern. Ich glaub, das ist ihr noch wichtiger als Schokolade.

Als ich meine Flickflacks und Saltos quer über den Rasen und wieder zurück ausführe, höre ich Mrs Weinrot sagen: »Könnt ihr euch vorstellen, dass eine von unseren verwöhnten Töchtern mal so aufs Wort zu unserer Unterhaltung beiträgt?«

Sie nicken alle beifällig und applaudieren, als ich nach einem letzten Salto direkt vor ihnen auf beiden Füßen lande. Sie stoßen mit den Weingläsern an, und Mrs Lange-Weile ruft aus: »Ich will auch so einen Beeeeta!«

»Komm mal her, Schätzchen«, sagt Mrs Beauty Queen zu mir. Sie ist von allen vieren an diesem Nachmittag am heftigsten beschwipst. Ich gehe zu ihr und sie umfasst mich mit ihren Händen. »Oh, diese winzige Taille ist ein Traum. Ihre First hätte bei einem Schönheitswettbewerb eine hervorragende Figur abgegeben. Weißt du auch, wie man dort über den Laufsteg stolziert, Schätzchen?«

Ich checke auf meinem Chip Schönheitswettbewerb, mein Interface spielt mir die Auftritte auf dem Laufsteg ein und ich antworte: »Ja.«

Sie klatscht begeistert in die Hände. »Du bist ein Goldstück! Meine Tochter und ich haben das immer miteinander gespielt, als sie noch klein war, aber sobald sie zwölf wurde – aus und vorbei. Danach war es unmöglich, sie noch dazu zu bringen, ihrer Mommy etwas vorzuführen. Also, dann zeig mir mal, was du kannst!«

Ich setze eine Miene auf, die Selbstbewusstsein ausdrückt, und stolziere am Tisch vorbei, Hüften und Schultern schwingend und mit einem strahlenden Lächeln.

Sie klatschen frenetisch Beifall. »Meine Beta!«, haucht Mutter begeistert. Sie trinkt mit einem Schluck ihr Weinglas aus und deutet dann ringsum auf ihre Freundinnen. »Vergesst nicht. Ich hatte zuerst eine.«

»Kann sie auch taaanzen und siiingen?«, fragt Mrs Lange-Weile.

Mrs Weinrot verdreht die Augen. »Ja, und zwar bitte unbedingt ›Children of Hope‹. Kein Talentwettbewerb kommt ohne diesen abgedroschenen Schwachsinn aus.«

»›Children of Hope‹ ist ein wunderschönes Lied!«, erwidert Mrs Beauty Queen. »Meine Tochter hat es geliebt, dieses Lied zu singen, wenn wir in der FantaSphere Schönheitswettbewerb gespielt haben.« Sie blickt zu mir. »Kannst du ›Children of Hope‹ singen, Elysia? Bitte sag ja!«

Wieder ein kurzer Check auf meiner Datenbank. »Ja!«, antworte ich dann.

»Dann sing es«, fordert Mrs Beauty Queen mich auf. »Mein eigener kleiner Teufelsbraten will ja nicht mehr.«

Ich habe noch nie gesungen. Ich weiß nicht, wie meine Stimme sich anhören wird. Aber ich weiß den Text und die Melodie dieses Lieds, einer gefühlvollen Ballade, die seit den Zeiten der Water Wars in allen Ländern sehr beliebt ist.

Und dann singe ich, meine Stimme ist kräftig und voller Emotion, in dem übertriebenen Stil, wie er bei Talentwettbewerben verlangt wird, mit leidenschaftlicher Miene und weit ausholenden Gesten.

»In these troubled times of darkness and fright, From them we receive the gift most sublime. They dream our dreams, our loves, Our children of hope.«

Die Damen kreischen vor Entzücken, als sie mit den Weingläsern anstoßen, um meine Darbietung zu feiern.

Scheint, dass ich ganz gut singen kann.

»Diese Beta ist nun wirklich nicht defekt«, murmelt Mrs Beauty Queen, die mittlerweile ziemlich betrunken ist.

Die drei anderen am Tisch halten spürbar die Luft an, und Mrs Weinrot hält es für ihre Pflicht, Mrs Beauty Queen zurechtzuweisen. »Sprich dieses Wort nicht aus!« Was an dieser Äußerung so schlimm gewesen sein soll, weiß ich allerdings nicht.

Mutter schlägt drei Kreuze.

Inzwischen sind die vier Freundinnen alle schon reichlich angesäuselt – auch eine Form von Ataraxia, wie ich vermute. Sie haben miteinander einen angenehmen Nachmittag beim Mah-Jongg-Spielen verbracht und nun macht sich Aufbruchsstimmung breit. Doch bevor sie auseinandergehen, mischt Demenzia, die aus dem Hauptgebäude auf den Tisch zugesteuert kommt, ihre Runde noch etwas auf.

»Oh nein«, kreischt Mrs Lange-Weile, »nicht dieser verrückte Teenager!«

»Da möcht ich dich mal sehen, wenn deine eigenen Eltern dich auf die Insel abgeschoben hätten, damit du hier von Klonen erzogen wirst«, zischt Mrs Beauty Queen.

»Es ist einfach nur traurig«, sagt Mrs Weinrot. »Wenn ich daran denke, wie sie damals versucht hat, sich ein Tattoo einzuritzen – dasselbe wie es ihre Nanny hatte, die sie großgezogen hat, seit sie ein Baby war. Es geschah an dem Tag, als bei der Kinderfrau die Dienstzeit abgelaufen war.« Was bedeutet, dass die Kinderfrau in Menschenjahren gezählt das Alter von 45 erreicht hatte. Wenn die körperliche Erscheinung oder die Fähigkeiten der Klone dann nicht mehr den Erwartungen genügen, werden sie ausrangiert.

»Demetra, mein Liebling, wie geht es dir?«, fragt Mutter, als Demenzia schließlich vor uns steht.

»Gut. Was sonst?« Demenzia kümmert sich nicht weiter um die Erwachsenen, sondern schaut mich an. »Der Unterricht ist für heute vorbei. Kann Elysia mit mir kommen?«

»Vielleicht keine so gute Idee?«, wendet sich Mrs Weinrot an Mutter.

Aber Mutter ist da anderer Meinung. »Natürlich, Demetra. Nimm Elysia mit, spielt ein bisschen zusammen.« Ich will schon aufstehen, aber Mutter spricht weiter. »Ich habe bei deiner Mutter bereits vor ein paar Wochen angefragt, ob sie nicht am Planungskomitee für den alljährlichen Governor-Ball teilnehmen möchte, aber bisher von ihr keine Antwort bekommen. Weißt du zufällig, ob sie mein Kärtchen erhalten hat? Das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis auf der Insel kann doch schwerlich stattfinden, ohne dass vorher dazu Elaine Cortez-Olivier ihr in Geschmacksfragen unbestechliches Urteil abgegeben hat, ist es nicht so?«

Demenzia greift nach meiner Hand und zieht mich vom Stuhl hoch. »Keine Ahnung, ob Mom das bekommen hat, tut mir leid, Mrs Bratton, aber es ist mir völlig egal.« Sarkasmus beherrscht Demenzia wirklich spitzenmäßig gut. »Meine Eltern sind gerade in BC. Sie können Mom über Relay erreichen.«

Ich weiß, dass Mutter bereits versucht hat, Mrs Cortez-Olivier über Relay zu erreichen, aber erfolglos. Sie erhielt von Demenzias Mutter keine Antwort. Diese Kränkung muss sie jetzt schnell vergessen. Mutter schnippt mit den Fingern, ein Dienstklon erscheint und stellt für sie einen Liegestuhl auf. Und auch eine Masseurin nähert sich, die ihren müden Füßen gleich eine Wohlfühlmassage verpassen wird.

»Komm schon, lass uns etwas Raxia einwerfen«, sagt Demenzia zu mir. Als die Mütter sie daraufhin entsetzt anblicken, fügt sie hinzu: »War nur Spaß!« Aber kaum hörbar murmelt sie: »Wenn die erst wüssten, was für einen Riesenspaß wir haben werden!«

Hand in Hand spazieren wir von der Veranda des Country Club hinunter an den Strand. Wir betreten den Steg, der zum Pool mitten in der Nectar Bay führt, und gehen nebeneinander über die breiten Planken.

»Kommen deine Eltern bald zurück?«, frage ich.

Sie zuckt mit den Achseln. Ihr Zeigefinger streicht über ihre linke Schläfe, fährt über die Narbe, die ihr von dem Versuch, dort eine Schwertlilie einzuritzen, geblieben ist. »Meine Klonwächter, ähm, ich meine Babysitter, haben meinen Eltern von gewissen Vorfällen in jüngster Zeit berichtet. Kann sein, dass sie bald mal aufkreuzen. Wenn sie mich dann bloß nach Biome City mitnehmen würden.«

»Ich hab gehört, in BC geht die Megaparty ab.«

Demenzia lacht. »Ja, kann man so sagen. Alles ist dort echt und ziemlich abgefahren und auch richtig wild. Manchmal, wenn die Sandstürme zu heftig werden, kann man gar nicht raus und muss zu Hause bleiben und so Sachen machen wie FantaSphere spielen. Aber es ist ein Ort für ganz normale Menschen, und angenommen, du wärst ein ganz normales Mädchen …«

»Ich wär so gern ein ganz normales Mädchen!«, rufe ich.

»Nein, ich meine, wenn du wirklich in BC ein ganz normales Mädchen wärst und kein Klon hier auf Demesne, der so tut, als hätte er das Bedürfnis, ein normales Mädchen zu sein. Das Leben als ganz normales Mädchen kann ziemlich hart sein und ist nicht immer nur die Megaparty. Wenn es einen Wüstensturm gibt, hockst du einfach nur zu Hause rum, mit deinen Eltern, und wartest, bis es vorbei ist. Es haben da nämlich nicht alle eine FantaSphere, das ist nur auf Demesne so. In BC müssen die ganz normalen Leute zur Space Needle Arcade gehen und extra zahlen, wenn sie mal in eine FantaSphere wollen.«

»Wow«, sage ich.

Wir haben den Pool erreicht. Demenzia blickt von der Aussichtsplattform auf die Küste – Palmen, weißer Sand, violettblaues Wasser – und atmet tief die sauerstoffangereicherte Luft von Demesne ein. Dann breitet sie die Arme weit aus und schreit: »Mir ist so langweilig!«

Ich breite die Arme auch aus und schreie aus reiner Solidarität: »Mir auch!«

»Du bist echt cool«, sagt Demenzia. »Doc Lusardi hat bei der Programmierung deines Chips echt ganze Arbeit geleistet. Wär echt klasse, wenn ich auch eine Teen-Beta haben könnte, aber dazu werde ich meine Eltern nie überreden können.« Demenzias olivgrüne Augen bleiben an meiner Tunika mit dem gelb-rosa Paisleymuster hängen. »Oh mein Gott, zieh bitte das scheußliche Ding aus!«

Ich streife die Tunika ab und habe jetzt nur noch den Bikini an.

»Wer schneller ist!«, ruft Demenzia.

Und dann springt sie auch schon in den Pool, um einen kleinen Vorsprung zu haben. Ich hechte mit einem Kopfsprung hinterher, spüre das weiche Wasser um mich und fühle mich zu Hause. Demenzia in ein paar Zügen einzuholen und dann an ihr vorbeizuziehen dürfte für mich kein Problem sein, aber sobald ich ganz untergetaucht bin, geschieht es wieder. Wie ein Blitz fährt es durch mich hindurch. Da ist er. Ich kann sein Gesicht in dem klaren, ruhigen Wasser diesmal besser erkennen, seine hohen Wangenknochen und glänzenden weißen Zähne, seine braun gebrannte Haut. Seine türkisblauen Augen schauen mich unverwandt an, als könnte er in mich hineinsehen. Ich spüre seine Nähe so stark, dass mein ganzer Körper erschaudert. Seine blonden Haare wehen im Wasser, dann dreht sein muskulöser Körper sich einmal um sich selbst, und er schwimmt auf der Stelle. Er ist groß und kräftig, wie die Bauarbeiter mit dem Bambustattoo. So als könnte er die Welt auf seinen Schultern tragen. Du weißt, dass ich dir gehöre, Z, sagt seine Stimme, und mein Herz macht einen Hüpfer, als ich es höre, und plötzlich fühle ich mich so warm und lebendig. Seine raue Stimme berührt etwas in mir, wovon ich gar nicht wusste, dass es in mir steckt. Ich spüre seine Stimme auf meiner Haut wie ein Kitzeln und empfinde einen leichten Schauder. Du weißt, dass ich dir gehöre, Z.

Er war der erste und einzige Mann, mit dem meine First geschlafen hat. Sie spürte ihn in sich. Ich weiß nicht, woher ich das weiß; aber ich weiß, dass ich es weiß. Denn ich spüre eine schmerzliche Sehnsucht in meinem Herzen und nicht nur dort, in allen Gliedern und im innersten Innern meines Körpers. Meine Empfindungen überwältigen mich, ich will ihn berühren und spüren, sofort.

Wieder bewege ich mich verzweifelt auf ihn zu, doch anders als die anderen Male verschwindet er nicht, als ich ihn erreicht habe, sondern hebt die Hände, um mich von sich zu stoßen. Ich kann das nicht, sagt seine Stimme. Es ist nicht richtig und du weißt das.

Ich höre es ihn sagen und bin so verletzt, dass ich glaube zu ersticken.

Hass. Wut. Verrat.

Jetzt verstehe ich, was diese Wörter bedeuten.

Ich fühle es.

Ich tauche aus dem Wasser auf, atme gierig die sauerstoffangereicherte Luft von Demesne ein und hoffe wie verrückt, ihn vielleicht auch über Wasser noch zu sehen, in Fleisch und Blut. Wir können es trotzdem schaffen, will ich ihn anbetteln, um ihretwillen. Bitte.

Aber am anderen Ende des Beckens ist nur Demenzia zu sehen. »Du solltest mit mir um die Wette schwimmen! Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Steh hier nicht so dumm rum oder ich ritz dich.« Bevor sie wieder ins Wasser eintaucht, um die Bahn zurückzuschwimmen, fügt sie noch hinzu: »War nur Spaß! Na ja, fast!«

Ich tauche auch wieder unter, aber diesmal erscheint mir der sonnengebräunte Gott im Wasser nicht mehr. Ich lege mich auf den Boden des Beckens und halte den Atem an, halte aus, so lange ich nur kann. Mein Chip teilt mir mit, wenn ich ein normaler menschlicher Teenager wäre, der einen Ort ganz für sich allein sucht, dann würde ich ihn hier finden. Das hier wäre mein Heiligtum, im Wasser. Hier bin ich kein gefühlloser Klon.

Im Wasser kann ich spüren, wer sie war. Sie war aufrecht und stolz. Wenn sie jemanden liebte, dann liebte sie voll und ganz. Tief und leidenschaftlich. Sie liebte den blonden, blauäugigen Wassergott. Sein Herz gehörte ihr.

Aber wenn sie sich verraten fühlte, dann konnte sie hassen. Und konnte einen das Fürchten lehren.

Der Hass verlieh ihr Macht.

Wenn sie ich wäre (und sie ist ich, obwohl sie tot ist), würde sie die Erinnerungen und Gefühle, die ich eigentlich nicht haben dürfte, nicht fürchten. Sie würde denken: Was soll’s? Vielleicht verleihen mir diese Defekte ja auch Macht!