Vierzigstes Kapitel
Als ich das nächste Mal aufwache, ist es Nacht.
Ich befinde mich an einem anderen Ort. Ich liege auf einem Bett aus Wacholderzweigen, die auf dem Boden ausgebreitet sind. In einem kleinen Unterschlupf, nicht viel mehr als zwei Wände aus Ästen und Blättern. Durch den offenen Eingang kann ich draußen ein Lagerfeuer brennen sehen.
Mein Kopfschmerz ist verschwunden. Ich räkle mich und strecke erst die Arme über meinem Kopf aus und dann die Zehen, so weit wie ich kann. Ich fühle mich wie neu geboren, bereit für die Welt. Oder zumindest bereit für die fast völlig verlassene, einsame und unbewohnte Insel Myland.
Ich stehe ohne fremde Hilfe auf, das erste Mal seit ich weiß nicht wie langer Zeit. In meinem Kopf macht sich einen Moment ein Gefühl von Benommenheit breit, aber das vergeht schnell und ich trete ins Freie. Mein Körper ist in einen blau-weißen Sarong mit Batikmuster gewickelt, meine Füße sind nackt.
M-X kauert am Feuer und füttert einen kleinen Affen, der sich in ihre Armbeuge schmiegt, mit einer Banane. »Du bist noch nicht lange aufgewacht und jetzt bist du schon wieder auf den Beinen. Ich bin mit deinen Fortschritten zufrieden. Wie fühlst du dich?«, sagt sie, als sie mich sieht.
»Viel besser.«
»Sehr gut. Wahrscheinlich möchtest du jetzt auch wissen, wie es dich hierher verschlagen hat.« Ich nicke und setze mich gegenüber von M-X auf einen Baumstamm. »Woran kannst du dich denn noch erinnern?«
»Der Governor wollte mich erschießen. Ich bin vom Kliff ins Meer gesprungen. Was danach geschehen ist, weiß ich nicht.«
»Du hast ganz schön viel Kraft und Durchhaltevermögen – vielleicht sogar noch mehr als deine First. Dieser Sprung ins Meer und wie tief du danach ins Wasser eingetaucht bist, das hätte jeden anderen umgebracht. Wahrscheinlich hast du es den Wassern von Ion zu verdanken, dass du überlebt hast. Die Wellen haben dich getragen und genährt.«
»Bin ich bis hierher geschwommen? Das schafft doch keiner.«
»Schafft man auch nicht. Myland ist über 20 Seemeilen von Demesne entfernt. Nachdem du ins Wasser gesprungen warst, bist du bis zu einer Boje weit draußen im Meer geschwommen. An die hast du dich völlig erschöpft geklammert und irgendwann das Bewusstsein verloren. Am nächsten Morgen hat dich ein Taucher mit einem Boot entdeckt und zu mir gebracht. Du warst dem Tode nahe.«
»Wie lang bin ich schon hier?«
»Seit über einer Woche. Du hast vor dich hin gedämmert, bist mal kurz zu dir gekommen und warst dann sofort wieder weg.«
»Suchen die Menschen nach mir?«
»Ja. Aber du warst zum Glück so schlau, deinen Lokalisator zu entfernen. Sie haben ihn am Meeresboden geortet. Man geht davon aus, dass du ums Leben gekommen bist. Allerdings ist deine Leiche bisher noch nicht aufgetaucht. Sie suchen noch weiter danach, aber sie haben auf der Insel jetzt wahrlich größere Probleme.«
»Welche denn?«
»Einen Mord. Mord an einem Menschen. So ein Verbrechen gab es bisher auf Demesne noch nie. Und erst recht nicht von einem Klon begangen. Auf der ganzen Insel herrscht Ausgangssperre, bis die menschlichen Bewohner absolut sicher sein können, dass sie die Dienstklone wieder voll im Griff haben.«
»Woher weißt du das alles? Hast du ein Relay?«
»Wir haben unsere eigenen Mittel und Wege entwickelt, um uns außerhalb der menschlichen Kommunikationsnetzwerke zu verständigen. Ein Untergrundnetzwerk, mit dem wir wichtige Informationen an alle weitergeben, die sich für die Sache der Klone starkmachen.«
»Die Revolte? Bist du auch daran beteiligt?«
»Ja. Die erste größere Aktion sollte gerade anlaufen, als du uns mit deiner Tat dazwischengekommen bist.«
»Von wem? Wie? Welche Aktion?« Xanthe und Miguel! Sie müssen einer größeren Gruppe angehört haben, wird mir jetzt klar.
»Überall um dich herum gab es Klone und Sympathisanten, die alles für den Aufstand geplant und vorbereitet haben. Davon hast du wahrscheinlich nichts bemerkt. Lusardi scheint deinen Chip ja ziemlich genau an die menschliche Teenagerwelt angepasst zu haben, sodass du über den Tellerrand deiner eigenen Mikrowelt mit ihren Problemen nicht hinausgeblickt hast.«
Ich habe das Gefühl, da einen kleinen Vorwurf herausgehört zu haben. »Natürlich hab ich bemerkt, dass was am Laufen war. Ich wusste die Informationen nur nicht einzuordnen. Tut mir leid, wenn ich durch mein Verhalten euren Plan vermasselt habe.«
»Das muss dir nicht leidtun. Du bist jetzt für die Klone zum Symbol ihres Freiheitskampfes geworden.«
»Ich habe jemanden umgebracht. Das tut mir nicht nur leid, das ist viel schlimmer.« Tränen schießen mir in die Augen und laufen mir über das Gesicht. Ich bin traurig, aber durch die Tränen fühle ich mich irgendwie auch erleichtert.
»Sie haben uns versklavt«, sagt M-X. »Sie haben uns gefoltert. Willkürlich ausgeschaltet. Sie haben kein Mitleid mit uns. Sie zeigen keine Reue. Und du brauchst das auch nicht.«
»Aber es tut mir fürchterlich leid. Ich bereue, was ich getan habe.« Die Tränen auf meinem Gesicht scheinen zu bewirken, dass mein ganzer Körper in Aufruhr gerät. Mir entfährt auf einmal ein tiefer Schluchzer. »Ich habe etwas Schreckliches getan. Es tut mir so leid. So fürchterlich leid.« Ivan mag sich mir gegenüber falsch verhalten haben, aber hatte er deswegen den Tod verdient? »Ich habe meinen Bruder umgebracht.«
»Er war nicht dein Bruder«, erwidert M-X. »Und er hätte für dich keine einzige Träne vergossen.«
Ich bin defekt, ein kaputter Klon von der schlimmsten Sorte. Ich habe Gefühle. Ich weine. Ich töte. »Bin ich ein Klon-Monster geworden?«, frage ich M-X.
»Könnte sein, dass du anfängst auszuflippen«, antwortet sie. »Genauso gut ist es aber auch möglich, dass du in reiner Notwehr gehandelt hast, was nichts mit verrücktspielenden Hormonen zu tun hat, sondern ein Akt der Selbsterhaltung ist, eine instinktive Reaktion. Es ist noch zu früh, das zu entscheiden.«
Aber ich habe jetzt noch ganz andere Sorgen, denn nach mir wird gefahndet. »Bin ich hier sicher? Wie kommt es eigentlich, dass die Menschen die Insel hier oder die Rave Caves nicht zurückerobern? Das könnten sie doch leicht.«
»Laut Gesetz gehören diese Inseln des Archipels zum Territorium des Mainland«, sagt M-X. »Nur Demesne besitzt einen Sonderstatus und ist unabhängig. Für die Regierung auf dem Mainland sind diese Inseln wertlose Flecken auf der Landkarte. Demesne wurde mit viel Aufwand zu einem Luxusferienparadies für die Superreichen umgewandelt. Aber dort gab es auch vorher schon den fruchtbarsten Boden und die üppigste Vegetation. Die anderen Inseln sind es nicht wert, dass man dafür große Anstrengungen in Kauf nimmt. Zu schwierige Bedingungen. Und sich mit denen anzulegen, die sich dort angesiedelt haben, könnte zu einem langwierigen Krieg führen. Das wissen sie.«
»Aber sie sind doch viel mächtiger. Mit ihrer Luftwaffe und ihren Bomben und all ihren anderen Waffen.«
»Mächtiger, wenn es um die moderne Technologie geht. Aber die von uns, die hier auf diesen verfluchten Inseln leben, kennen sich im Gelände viel besser aus. Wir kennen alle Trampelpfade im Dschungel und alle Höhlen, in denen wir uns verstecken können. Das Militär auf dem Mainland hat größere Probleme, als sich ausgerechnet um diese winzigen Inselchen mitten im Ozean zu kümmern. Warum sollten sie diese wertlosen Inseln mit ihren kostbaren Waffen angreifen? Solange wir nicht Demesne angreifen, kümmert es sie nicht, was wir hier treiben.«
»Also sind wir defekten Klone den Menschen total egal, weil wir für sie unbrauchbar geworden sind?«
»Ja.«
»Eigentlich großartig.«
»Kann man so sehen«, murmelt M-X.
»Aber Dr. Lusardi kann es doch nicht egal sein. Sie muss doch die Kontrolle über die kaputten Klone zurückzugewinnen versuchen.«
»Auch nicht«, sagt M-X. »Für sie ist es nur wichtig, die Klone unter Kontrolle zu haben, die sich auf Demesne befinden. Dort sind Klone mit Defekten nicht tolerierbar. Die anderen kümmern sie nicht. Sobald sie von Demesne verschwunden sind, verschwendet sie keinen Gedanken mehr daran.«
»Aber wie kann das sein? Die Menschen haben sie auf die Insel geholt, damit sie für sie Klone herstellt. Ihr Ruf leidet doch darunter – und bestimmt verdient sie auch weniger –, wenn kaputte Klone in den Rave Caves ihr Unwesen treiben.«
»Das ist das Problem der Menschen, nicht ihres.«
»Kapier ich immer noch nicht.«
M-X fährt mit dem Finger über das Brandmal an ihrer Schläfe. »Als du in der Villa des Governor warst, hast du da jemals bemerkt, dass Dr. Lusardi vorbeigekommen wäre, um bei den Klonen aus ihrem Labor einen Check-up zu machen? Hat sie jemals am Leben auf der Insel teilgenommen? Oder sich auch nur außerhalb ihres Labors gezeigt?«
»War mir bisher gar nicht aufgefallen. Aber wenn du es jetzt sagst …«
»Lusardi kümmert das alles nicht, weil Lusardi selbst eine Maschine ist. Ihre einzige Aufgabe ist es zu dienen, wie bei uns auch.«
»Ha – wie bei einem Klon!«
»Lusardi ist ein Klon. Ein Replikant der ursprünglichen Dr. Larissa Lusardi, einer hochbegabten Wissenschaftlerin mit einer unseligen Vorliebe für Rechtschaffenheit. Als sie zu heftig dagegen protestierte, dass ihre Klone wie Sklaven gehalten wurden, hat man sie umgebracht. Mittels der von ihr selbst entwickelten Technik wurden ihr Wissen und ihre Fähigkeiten auf ihren Klon übertragen, doch natürlich ohne ihre Seele. Damit war man ihre unangenehmen moralischen Einwände losgeworden, die sie immer wieder daran hinderten, die Bestellungen aus Demesne ordnungsgemäß abzuwickeln.«
Das Feuer knistert nur noch leise. Von den Flammen ist fast nur noch Glut geblieben. Wir müssen Holz nachlegen oder uns schlafen legen. Mir fällt auf einmal auf, dass ich M-X die wichtigste Frage noch gar nicht gestellt habe. »Wer hat mich denn gerettet und hierher gebracht? War es auch ein defekter Klon?«
»Dreh dich mal um. Er ist ein Mensch, kein defekter Klon. Aber er wurde dazu bestimmt, die Armee der Klone anzuführen, die sich in den Rave Caves verstecken.«
Ich sehe eine große Gestalt hinter mir, die Holz zum Feuer trägt. Über den hochaufgetürmten Holzscheiten kann ich einen blonden Haarschopf erkennen, und als der Mann näher kommt und in den Lichtschein des Feuers tritt, sehe ich auch seine türkisblauen Augen.
Es ist der Aquino, Alexander Blackburn. Er hat mich gerettet.