Dreiunddreißigstes Kapitel

Ich bin die erste Beta, die jemals zum Governor-Ball eingeladen worden ist.

Ich bin zwar dort nicht als Gast, aber auch nicht als Dienstklon. Ich trete als so etwas wie eine Performancekünstlerin auf, sitze auf einer weißen Schaukel, die von der Decke hängt, und schwinge hin und her. Von da oben habe ich einen guten Überblick über die Veranstaltung und biete den Gäste hoch über ihren Köpfen ein reizvolles Spektakel.

Alle Familien, die auf Demesne ein Anwesen besitzen, sind für den alljährlichen Ball auf die Insel gekommen. Er wird im großen Festsaal von Heaven abgehalten. Auf dieser großen Party sind nicht nur die mächtigsten Männer der Welt versammelt, jeder von ihnen hat sich auch noch spezielle Gäste dazugeladen, mit denen er sich schmückt wie Mutter sich mit mir: Stars aus dem Showbusiness, Politiker, weltberühmte Sportler, die alle nur zu gern die Chance nutzen, sich einen Abend lang unter die illustren Bewohner von Demesne zu mischen. Ich entdecke in der Menge Mutters Mah-jongg-Freundinnen, Ivans Clique, die Fortesquieus und alle möglichen Gesichter, die mir von Tahirs Karteikarten vertraut sind, einschließlich des Königs von Zakat und des weltberühmten Fußballspielers, dem Torminator.

Wenn die reichsten und mächtigsten Leute der Welt zu einem festlichen Ball zusammenkommen, dann ist das eine Riesensache – und entsprechend hoch sind auch die Anforderungen an einen angemessenen Rahmen. Der große Ballsaal in Heaven ist dem Spiegelsaal im Schloss von Versailles nachempfunden, mit einigen modernen Akzenten im Demesne-Stil. Vom Boden bis zur Decke ist alles eine einzige Pracht. Wie sein Vorbild in Versailles hat auch der Spiegelsaal von Heaven siebzehn große Bogenfenster und dazwischen marmorne Pfeiler mit vergoldeten Skulpturen. Die Spiegeleffekte sind noch raffinierter als in Versailles, sodass man im Saal gleichzeitig zwischen den lodernden Champagnerkelchen des Gartens hindurchzuschreiten glaubt. Siebzehn prächtige Kristalllüster hängen von der Decke und an den Wänden sind silberne Leuchter angebracht. Insgesamt erhellen tausend Kerzen den Saal. Der Boden ist mit dem aufwendigen Parquet du Nouveau Versailles ausgeschmückt, wie es in vielen Villen auf Demesne zu finden ist – große Quadrate aus Bambusstäben, zu komplizierten geometrischen Mustern angeordnet, in denen sich als Intarsien die Schwertlilien aus dem Wappen von Demesne befinden. Wo die Malereien in Versailles die Siege von Ludwig XIV. zeigen und Frankreich verherrlichen, schildern die Wand- und Deckenfresken im Ballsaal von Demesne die Pracht und Herrlichkeit der Insel: die sanften Wellen des Meeres von Ion, die erhabenen Felsen der Steilküste, den Vulkangipfel des Mount Orion, den undurchdringlichen grünen Dschungel, Anwesen wie das im Pueblo-Stil erbaute Domizil der Fortesquieus oder die Villa des Governor, ein Luftbild der ganzen Insel mitsamt des violettblauen Wasserrings von Ion, der Demesne vom Rest der Welt trennt, den Sonnenaufgang über Heaven und Gesichter von vollkommener Schönheit mit lila Schwertlilientattoos an den Schläfen.

In einer Ecke des Saals ist eine Bühne für die musikalische Umrahmung des Ereignisses aufgebaut. Dort sitzt das RSO von Demesne, das Replikanten-Symphonie-Orchester. Seine ausschließlich männlichen Mitglieder stammen aus sämtlichen Klonstämmen der Insel, solche mit den Bambustätowierungen der Arbeiter finden sich dort genauso wie andere mit den Stechpalmen der Tennislehrer. Alle tragen schwarz-weiße Smokings. Mit ihren durchtrainierten Körpern und markant geschnittenen Gesichtern sind sie wahrscheinlich das bestaussehende Orchester der Welt.

Aber es gibt immer etwas auszusetzen. »Perfekter Klang, aber ohne Leidenschaft«, lautet Mutters Kommentar. Unbeeindruckt wedelt sie mit ihrem Straußenfächer, während das Orchester sein Mozartstück beendet.

Mutter hat an der großen Flügeltür des Ballsaals Position bezogen, wo sie gemeinsam mit dem Governor alle eintreffenden Gäste begrüßt. Das Thema des diesjährigen Balls ist die griechische Götterwelt, weshalb Mutter als Hera kostümiert ist, die Göttin von Heim und Ehe – aber als Ehefrau des untreuen Zeus auch eifersüchtig und rachsüchtig. Ihr Wagen wird von Pfauen gezogen, weshalb Mutter jetzt wenigstens einen Pfauenfächer hat. Der Governor ist selbstverständlich als Zeus verkleidet. Liesel trägt als Göttin Iris ein Kleid in allen Regenbogenfarben, und Ivan, der bald zum Militär geht, ist in eine Uniform gekleidet, allerdings mit einem geklonten schwarzen Geier auf der Schulter, der Ares symbolisiert, den griechischen Gott des Krieges. Die Geier als Vögel, die sich auf den Leichen der Schlachtfelder niederlassen, waren in der Antike Ares geweiht.

Nicht alle Familien sind dem Götterthema folgend kostümiert. Der festliche Ball wird zur Feier von Frieden und Wohlstand veranstaltet, doch die Zerstörung und die schweren Verluste während der Water Wars liegen noch nicht lange zurück. Die Familien, die noch trauern, sind zu solchen Anlässen traditionell schwarz gekleidet. Auch die Fortesquieus zählen zu ihnen. Tariq und Bahiyya haben beschlossen, Tahir zum Ball mitzubringen. Während der Woche, die ich in ihrem Haus verbrachte, hatten sie mehrfach darüber diskutiert, ob Klon-Tahir tatsächlich schon weit genug sei, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Das Training mit den Karteikarten – und vielleicht auch die Tage mit einer Teen-Beta – muss so erfolgreich gewesen sein, dass sie jetzt tatsächlich mit ihm erscheinen. Tahirs wilde Frisur – die Haare halb geflochten, halb offen – ist verschwunden und durch acht Reihen perfekter Zöpfe ersetzt. Tariq und er tragen maßgeschneiderte schwarze Seidenanzüge, einfach und elegant. Bahiyya, die vielleicht mehr Verluste durch den Krieg als jede andere im Raum anwesende Person zu beklagen hat, ist in ein Gewand gekleidet, das ihrer königlichen Statur entspricht: kein Kleid, sondern ein schwarzes Seidenensemble mit Hose und locker fallender Jacke über einem mit Seidenkrepp, Stickerei und Spitze verzierten Oberteil, für das Stoffe aus einer Morgentoilette von Queen Victoria verwendet wurden, die Tariq auf einer Sonderauktion des inzwischen aufgelösten königlichen Museums erstanden hatte. In Bahiyyas langes weißes Haar, das ihr bis zur Hüfte reicht, sind juwelenbesetzte Bänder eingeflochten – Saphire, Diamanten, Rubine und Smaragde funkeln im Kerzenlicht.

Mutter hat beschlossen, dass ich Artemis darstellen soll, die griechische Göttin der Jagd. Als Kostüm hat sie für mich ein leichtes, flatteriges, kurzes weißes Kleid mit einem goldenen Zopf als Gürtel gewählt, das meinen Körper mehr enthüllt als verhüllt. Zwar fällt es mir bis knapp übers Knie, aber der Ausschnitt reicht mir fast bis zum Bauchnabel und meine Brüste werden von dem dünnen Stoff kaum bedeckt. Meine Haare sind jetzt so kurz, dass Mutter auf die für mich vorgesehene Hochsteckfrisur verzichten musste. Stattdessen habe ich nun eine Girlande aus weißen Blüten um den Kopf gewunden. Meine Augen sind von einem kupferfarbenen Lidstrich umrahmt. Meine Wimpern sind schwarz und lang. Violetter Lidschatten zieht sich bis zu meinen Schläfen. Ich trage einen helllila Lippenstift.

Mutters Beta, die bald an keine Geringeren als die Fortesquieus verkauft werden soll, ist ein zu wertvoller Besitz, um nicht beim Governor-Ball ausgestellt und vorgeführt zu werden. Die ganze Insel soll erfahren, was die reichste und mächtigste Familie der Welt von ihr begehrt. Alle können mich bestaunen, wie ich auf der Schaukel über ihren Köpfen hin- und herschwinge. Jetzt wird jeder eine solche Teen-Beta haben wollen und Mutter ist für dieses eine Mal die absolute Trendsetterin. Das hofft sie jedenfalls. Die bewundernden Kommentare der ersten Gäste des Abends haben ihr sehr geschmeichelt. »Wie reizend!« – »Was für eine Augenweide!« – »Das schönste Beta-Modell, das ich gesehen habe!« Kicher kicher murmel murmel.

Ich schwinge unbeteiligt über ihren Köpfen hin und her, auf dem Fest weder Gast noch Dienerin.

Mein Blick fällt auf Tahir in der Mitte des Saals, der mit dem König von Zakat in ein Gespräch vertieft ist. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, dafür ist die Musik zu laut, aber ich kann erkennen, dass Tahirs Körpersprache Vertrautheit signalisiert. Gerade legt er als Reaktion auf einen Satz des Königs lachend den Kopf in den Nacken, woraufhin Tariq und Bahiyya einen zufriedenen Blick wechseln.

Meine Rolle ist die der Beobachterin. Nichts anderes habe ich bisher auf der Insel getan. Aber ich habe jetzt ein Bündnis mit Tahir geschlossen. Wir haben einen Plan. Bald werden wir unser Leben selbst in die Hand nehmen. Es wird etwas geschehen. Wir werden uns unsere Freiheit erkämpfen. Bald ist es so weit. Bis dahin schaffe ich es noch, sage ich zu mir. Du musst nur noch ein kleines bisschen länger durchhalten, Elysia.

Trotzdem fällt es mir schwer, nicht von der Schaukel zu springen, Tahirs Hand zu nehmen und mit ihm noch in diesem Augenblick davonzurennen. Ich flehe ihn innerlich an, zu mir hochzuschauen, damit ich in seinen Augen das Einverständnis zwischen uns erkenne. Wie gerne würde ich es jetzt spüren, während ich auf der Schaukel diese dumme Vorstellung gebe. Aber Tahir blickt nicht hoch.

Vielleicht ist es ihm zu peinlich. Oder vielleicht weiß er, dass dann seine Wut noch größer werden würde.

Die Musiker haben aufgehört zu spielen, aber Demenzia will tanzen. Sie muss tanzen. Sie kann gar nicht anders. Allein steht sie in der Mitte des Ballsaals, lässt ihre Hüften kreisen, ihren Bauchnabel, hin und her, auf und ab, und bewegt dazu in anmutig schlängelnden Bewegungen die Arme. Sie ist als Aphrodite verkleidet, die dem Meeresschaum entstiegene Göttin der Liebe, und hat sich dafür ein Kostüm entworfen, das nur aus Sprühschaum besteht, ein rosa eingefärbtes Nichts, das eigentlich nur an drei winzigen Stellen ihren Körper bedeckt. Sie ist nur Schaum und nackte Haut und tanzt nun vor aller Augen ihren Tanz.

Unter mir höre ich Greer murmeln, die neben Ivan und Farzad steht. »Noch fünf … vier … drei … zwei … eins … und da sind sie, auf die Sekunde genau!«

Demenzias Eltern, die Cortez-Oliviers, betreten in diesem Moment den Ballsaal. Sie sind superreiche Reeder, die ihr Vermögen mit schweren Tankern gemacht haben, welche den neuen mächtigen Wogen des Ozeans standzuhalten vermögen. Als sie jetzt mit einiger Verspätung eintreffen, fällt ihr Blick als Erstes auf ihre Tochter, die vor dem ganzen Saal als nackte Aphrodite tanzt. »Scheint ganz so, als hätten Mommy und Daddy sich vor dem Ball nicht groß um Demenzias Kostüm gekümmert«, murmelt Greer.

»Demetra!«, brüllt Mrs Cortez-Olivier. »Komm sofort hierher! Das ist unmöglich!«

Demenzias Vater hält sich nicht lange mit Reden auf, sondern winkt einen Security-Klon herbei, der sich auf Demenzia stürzt, ihr seine Jacke überwirft und die schreiende und strampelnde Demenzia dann aus dem Saal trägt.

Offensichtlich verlangt der Dresscode für menschliche Mädchen hier auf Demesne, dass sie bekleideter sind als ein weiblicher Klon.

»Demenzia immer mit ihren Aktionen«, sagt Ivan.

»Wenn du erst einmal auf der Base bist, wirst du sie vermissen«, zieht Greer ihn auf. Greer ist heute Abend als Selene verkleidet, die Mondgöttin, deren Reittiere Drachen sind. Ihr weißes Gewand reicht ihr bis zu den Knöcheln und auf dem Kopf trägt sie einen silbernen Halbmond. An ihrem rechten Ringfinger glänzt ein dicker silberner Ring, der einen sich schlängelnden Drachen darstellt. »Ohne sie wäre es auf dieser Insel jedenfalls todlangweilig.«

»Am meisten werde ich Elysia vermissen«, sagt Ivan.

»Sie gehört euch doch sowieso nicht mehr. Ab nächste Woche wohnt sie bei Tahir.«

Farzad blickt mit hasserfülltem Blick zu mir hoch.

»Verdammt!«, ruft Greer auf einmal. »Tut mir echt leid für Demenzia, dass sie das jetzt verpasst.«

»Was denn?«, fragt Farzad.

»Endlich den schönen Aquino kennenlernen!«, sagt Greer mit einem tiefen Seufzer. Neue Gäste haben gerade den Saal betreten.

»Wen?«, fragt Farzad.

An den Uniformen kann ich erkennen, dass es sich um Offiziere handelt, die als Gäste von der Base auf dem Mainland gekommen sein müssen. Sie begrüßen den Governor und Greers Vater.

»Seht ihr den Typen in der Mitte?«, sagt Greer. »Der so groß ist? Das ist der Aquino. Soweit ich weiß, kehrt er morgen aufs Mainland zurück. Seine Mission auf Demesne ist beendet. Wie schade, dass er wieder abreist. Ich werde mir drei Tage lang die Augen ausheulen.«

Ich bemühe mich, den Aquino zu erkennen, von dem Xanthe mir erzählt hat, dass er nach Demesne geschickt worden ist, um die Rechte der Klone zu schützen. Doch wie sich inzwischen gezeigt hat, stellt er eher eine große Gefahr für uns Klone dar. Wegen ihm wurde Becky für weitere ›Experimente‹ zu Dr. Lusardi zurückgeschickt. Wegen ihm sind die Gerüchte von einer bevorstehenden Revolte der Klone hochgekocht … und Xanthe wurde deshalb vom Felsen ins Meer gestoßen. Wegen ihm wurde Xanthes Geliebter ausgeschaltet. Ich will den Aquino unbedingt sehen, doch vorher bleiben meine Augen noch einmal an Tahir hängen. Ich kann nicht anders, ich muss ihn immer wieder ansehen. Er unterhält sich gerade mit dem berühmten Fußballspieler, der ihn spielerisch (oder vielleicht auch nicht ganz so spielerisch) in die Seite boxt, wahrscheinlich um ihn zu provozieren. Ein Wortwechsel folgt, der dazu führt, dass der Fußballspieler Tahir laut beschimpft. »Du bist ein Mistkerl, Tahir Fortesquieu!« Der König von Zakat mischt sich ein, um den Torminator zu beruhigen. Tariq und Bahiyya wirken alarmiert und verlassen mit Tahir schnell den Saal.

Ich wäre jetzt am liebsten bei ihm. Er braucht meine Hilfe.

Farzad folgt den Fortesquieus und auch Ivan ist irgendwohin verschwunden. Nur noch Greer steht direkt unter meiner Schaukel.

»Komm zu mir, Aquino«, murmelt sie verführerisch, als wollte sie damit einen geheimen Zauber ausüben. Aus einmal blickt sie hoch zu mir. »Ich mach mich lächerlich, oder? Fällt dir vielleicht was Besseres ein, was ich sagen kann?«

»Zeig ihn mir erst mal«, antworte ich. »Dann überprüf ich auf meiner Datenbank, ob ich da was Cooles finde.«

»Der große Blonde, der jetzt in der Mitte des Saals steht«, sagt sie. »Umringt von lauter kichernden alten Weibern.«

Ich finde ihn schnell. Es ist nicht leicht, einen guten Blick auf sein Gesicht zu bekommen, aber ich kann erkennen, dass er sehr kurz geschnittene blonde Haare hat und athletisch gebaut ist. Als er endlich einmal den Kopf hebt, um sich einen Moment von seinen Verehrerinnen zu lösen, treffen sich für den Bruchteil einer Sekunde unsere Blicke. Seine Augen sind türkisblau. Erkennen leuchtet in ihnen auf. Wie ein Blitz trifft es mich, ich fühle mich genauso elektrisiert wie im Wasser des Pools. Nein, noch stärker.

Er ist es. Der Aquino ist der Mann, der zu meiner First gehörte, der Geliebte, dessen Herz sie besaß.