Achtunddreißigstes Kapitel

Ivan weiß jetzt, dass ich defekt bin, aber er hat beschlossen, es nicht weiterzusagen. Noch nicht. Das verkündet er mir am Morgen, kurz nachdem wir beide aufgewacht sind. Er nimmt mich in den Würgegriff und bläst mir seinen ekligen Atem ins Ohr. »Wenn du irgendjemandem davon erzählst, bist du so gut wie tot, du kaputte Beta. Schweig, dann schweig ich auch.«

Gestern Abend in der FantaSphere drohte er damit, seinem Vater sofort alles zu berichten. Aber jetzt am Morgen hat sich die Lage geändert. Er wird nichts sagen. Er will, dass ich ebenfalls den Mund halte.

Er steht auf und verlässt das Zimmer, als ob nichts geschehen wäre. Morgen wird er ins Ausbildungslager fliegen. Ich muss warten, bis er weg ist. Danach kann ich klarer denken. Ich werde mir einen neuen Fluchtplan ausdenken. Ich muss einen Weg finden, Tahir wiederzusehen.

Sobald Ivan auf dem Mainland ist, werde ich hart trainieren, bis sich mir eine Fluchtmöglichkeit bietet. Schneller rennen, schneller schwimmen, tiefer tauchen. Ich muss den Umgang mit Waffen lernen, Messer und Gewehre – echte Waffen, nicht die Kopien aus der FantaSphere. Der Governor liebt die Jagd. Irgendwann wird er sowieso zu mir kommen. Warum soll ich ihn nicht benutzen, um mehr Wissen zu sammeln? Meine Fähigkeiten erweitern. Die anderen so benutzen, wie sie mich benutzen.

Ich könnte mich auch auf die Suche nach den anderen defekten Klonen machen, nach denen, die den Aufstand planen. Ich könnte mich auf die Suche nach dem Aquino machen. Alexander Blackburn hatte eine Liebesbeziehung mit meiner First. Selbst wenn die Sekte, der er angehört, grundsätzlich gegen Klone ist, so war er doch hier auf Demesne, um für die Rechte der Klone einzutreten.

Ich will wissen, was meine Rechte sind.

Ivan weiß, dass ich einen Defekt habe.

Ich weiß, dass ich einen Defekt habe.

Aber hat einer von uns beiden eigentlich eine Ahnung, wozu ein Klon mit einem Defekt, wie ich, in der Lage ist?

Ich konnte mich nicht retten. Aber wenn ich nun wenigstens andere, die in einer ähnlichen Lage sind wie ich, rette?

Ich möchte das Mädchen sein, das Zhara einmal war.

Satansbraten.

Vielleicht bin ich das ja doch.

Und zwar ab jetzt.

Ich öffne Astrids Geheimfach. Ich nehme ihr Messer heraus.

An die Seite der Schublade hat Astrid etwas gekritzelt.

Dass du sollst öffnen die Augen der Blinden und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen, und die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker – Jesaia 42, 7

So sei es, Schwester.

Einer muss für ihre Sünden bezahlen.

Die Familie ist zum Mittagessen in Heaven, um dort mit Freunden Ivans letzten Tag auf der Insel zu feiern. Mutter wollte, dass ich auch dabei bin. Aber Ivan war dagegen. »Zum Abschied nur Familienmitglieder. Keine dummen Klone!«

In einem unbeobachteten Moment stehle ich mich aus dem Haus und spaziere allein zu der Stelle an der Steilküste, wo sie Xanthe ins Meer gestoßen haben.

Ich presse meine Finger auf die kleine Delle unter der Haut an meinem Handgelenk. Das muss verschwinden. Ich will zumindest einen Teil von mir besitzen.

Ich schlitze mir mit Astrids Messer die Haut auf. Blut quillt heraus, während ich danach suche. Dann habe ich es geschafft. Mein Lokalisator gleitet unter meiner Haut hervor. Ich presse ein Taschentuch auf die blutende Wunde an meinem Handgelenk. Dann werfe ich den Chip hinunter in die violettblauen Wellen ihres vielgepriesenen Meeres von Ion.

Ich fühle keinen Schmerz. Ich fühle totale Raxia.

Der Prophet Jesaja hatte recht. Die Gefangenen müssen aus dem Gefängnis herausgeführt werden.

Auf Demesne widerfahren den Klonen schlimme Dinge, weil keiner von ihnen den Mund aufmacht. Das können die Klone auch gar nicht – außer sie sind defekt. Die anderen befinden sich alle in einem Dämmerzustand und vegetieren als Sklaven der Menschen dahin.

Ich bin defekt und ich bin lebendig, und ich will, dass einer der Menschen für all ihre Sünden bezahlt, bevor es zu spät ist.

Wenn ich die Wahrheit erzähle, werde ich frei sein. Warum soll ich damit noch einen Tag länger warten, bis Ivan die Insel verlassen hat? Das Ergebnis wird dasselbe sein.

Wenn Mutter die Wahrheit erfährt, wird sie mich wegschicken. Die Schande wird für sie zu groß sein.

Ich finde Mutter nach ihrer Rückkehr aus dem Country Club im Wellnessbereich der Villa, wo sie sich den Rücken massieren lässt. Sie spricht durch die Öffnung der Kopfablage der Massageliege mit mir. »Elysia, mein Liebling. Ich hätte dich ja gerne dabeigehabt, aber Ivan kann manchmal sehr hart und unnachgiebig sein. Vielleicht solltest du mit ihm am Nachmittag noch einen langen Lauf am Strand machen, damit er die Energie loswird, die er für die Base in sich aufgestaut hat. Der Koch bereitet für heute Abend ein großartiges Abschiedsmenü vor. Sorg dafür, dass der Junge einen gesunden Appetit mitbringt! Du hast gute Arbeit geleistet, Elysia. Du warst ihm eine wunderbare Gefährtin. Er ist in Topform. Der Governor ist sehr zufrieden mit dir.«

»Ich habe getan, was du gesagt hast, Mutter. Ich habe dafür gesorgt, dass Ivan seinen Spaß hat.«

Früher oder später bin ich sowieso tot. Mir ist inzwischen alles egal. Was auch immer sie jetzt mit mir anstellen werden, ich bin dafür bereit. Alles ist besser als die Qualen in diesem Haus.

Mutter hebt einen Moment den Kopf und sieht mich an. »Braves Mädchen«, sagt sie.

Tränen schießen mir in die Augen, was mich völlig unvorbereitet trifft. Ich habe vorher noch nie geweint. »Das ist noch nicht alles«, sage ich. »Ivan nimmt Raxia. Er bereitet sie selbst zu und hat einen ganzen Vorrat davon. Er ist total abhängig. Ohne Raxia kann er nicht mehr leben. Wie er es ohne das Zeug auf der Base aushalten soll, weiß ich nicht.« Mir strömen jetzt Tränen über das Gesicht, und ich versuche nicht einmal, sie wegzuwischen.

Ich will, dass Ivan bezahlt.

Aber Mutter ist es egal, dass ihr Sohn von derselben Droge abhängig ist, die angeblich auch die Klone auf Demesne verdirbt. »Du weinst?«, stößt sie stattdessen entsetzt hervor.

Unsere Blicke begegnen sich und auf ihrem Gesicht ist nach dem ersten Schock Wut zu lesen. Der Massage-Klon lässt vor Schreck die Flasche mit dem Öl fallen.

»Lass uns allein!«, brüllt Mutter ihn an. Der muskulös gebaute Mann, der nur ein weißes Handtuch um die Hüften gewickelt hat, verlässt den Raum.

Mutter setzt sich auf, rafft das weiße Laken vor der Brust zusammen. »Du bist defekt!«, ruft sie. »Du hast dir die Haare selbst abgeschnitten, richtig? Bahiyya hatte damit nichts zu tun. Du bist defekt!«

Ich habe ihr gerade erzählt, dass ihr Sohn mich vergewaltigt hat, und sie beschimpft mich, weil ich mir selbst die Haare abgeschnitten habe?

»Ja«, sage ich, »es stimmt. Ich bin defekt! Und ich will meine Freiheit, oder ich werde dafür sorgen, dass jeder auf dieser Insel erfährt, was der Sohn des Governor treibt. Er ist es nämlich, der die Klone mit Raxia versorgt.« Die Lüge fällt mir einfach so ein.

Gut gemacht, Elysia. Scheint, als könntest du doch da draußen überleben.

»Du bist mein Eigentum!«, ruft Mutter. »Wie kannst du es wagen! Geh in dein Zimmer! Und bleib dort, bis ich entschieden habe, was jetzt mit dir geschehen soll!«

Es wird Abend und keiner spricht mit mir. Alles ist still. Schließlich wird ein Zettel unter meiner Tür hindurchgeschoben, auf dem in der Kringelhandschrift eines kleinen Mädchens zu lesen ist:

Liebe Elysia,

alle sind auf einmal so böse auf Dich, aber sie sagen mir nicht warum. Ich will Dir nur sagen, dass ich Dich immer noch mag. Wenn Du willst, schmuggle ich Dir Schokolade ins Zimmer.

Liebe Grüße

Liesel

PS Nicht nur Spaß!

Ich schiebe Liesel durch den Türspalt eine Antwort zurück.

Liebe Liesel,

geh schnell zurück in Dein Zimmer. Ich will nicht, dass Du Ärger bekommst. Vergiss nicht, nachts die Tür immer gut abzuschließen.

Ich mag dich auch

Elysia

Weder an der Tür von meinem noch an der von Astrids Zimmer befindet sich ein Schloss, aber seit heute Nachmittag ist eines an Liesels Tür. Während die Familie im Country Club war, habe ich den Butler gebeten, bei ihr eines anzubringen. Befehl von Mutter, verkündete ich ihm.

Mein Zimmer ist zu weit von den Räumen des Governor und von Mutter entfernt, um zu hören, was dort gesprochen wird. Aber ich kann es spüren, die ganze Villa befindet sich in Aufruhr.

Alles, was ich tun kann, ist warten. Unter meinem Fenster halten Bodyguards Wache, falls ich zu fliehen versuche.

Als es dunkel geworden ist, kommt Ivan ins Zimmer. Leise öffnet er die Tür. Vorsichtig schleicht er herein. Man hat ihm verboten, zu mir zu gehen, das merke ich sofort.

»Du Schlampe«, flüstert er. »Ich bring dich um.«

Er stößt mich aufs Bett und will erneut meine Beine auseinanderbiegen. Mit den Händen umklammert er meinen Hals. Er meint, was er sagt.

Als seine Finger sich in meinen Nacken krallen, schnappe ich nach Luft. Er will mein Leben aus mir herausquetschen. Er will mich töten. Mir wird schwarz vor Augen, und nur Verzweiflung und Furcht lassen mein Herz noch weiterschlagen, mit schnellen harten Schlägen.

Finsternis senkt sich über mich.

Und da spüre ich auf einmal, wie sich etwas in mir regt.

Etwas Schreckliches. Mächtiges.

Ivan hat keine Ahnung, wie ihm geschieht.

Und auch ich selbst bin davon überrascht.

Beim letzten Mal habe ich nicht hart genug gekämpft.

Aber dieses Mal werde ich es tun.

Ich greife nach Astrids Messer, das ich unter meinem Kopfkissen versteckt habe, und stoße es Ivan ins Herz. Er versucht, sich zu wehren, doch mein Angriff überrascht ihn viel zu sehr. Er steht unter Schock. Er kann nicht mehr schnell genug reagieren. Er ist größer und stärker, aber ich bin flinker und wendiger. Und ich habe mehr zu gewinnen.

Wieder und wieder stoße ich das Messer in sein Herz. Jeden Dolchstoß widme ich jemandem: Für Xanthe. Zustechen. Für Becky. Zustechen. Für Tahir. Zustechen. Für jeden Klonsklaven in dieser Inselhölle. Zustechen zustechen zustechen.

Einer muss für alle ihre Sünden bezahlen.

Ich werde es euch zeigen, ihr Menschen.

Euch zeigen, wozu eine Teen-Beta in der Lage ist.

Ich kann nicht einmal sehen, was ich tue. Ich weiß nur, dass alles von Wut, Panik und Dunkelheit erfüllt ist.

Nach einer Ewigkeit sackt Ivan über mir zusammen. Dunkles rotes Blut strömt aus seinen Wunden, über die weißen Laken, in die Matratze. Ich spüre es feucht an meinen Armen und unter meinem Rücken.

Ein ohrenbetäubender Schrei ist zu hören.

Er stammt nicht von mir.

Es ist Liesel, die mit einem Teller voller Nudeln in der Tür steht. Sie wollte mir Makkaroni mit Käse bringen.

Mutter und der Governor kommen nach Liesels Schrei ins Zimmer gestürmt.

Ich stoße Ivans Körper von mir herunter und richte mich auf. Ich stehe auf dem Bett.

Sie sehen ihren toten Sohn zu meinen Füßen. Blutverschmiert. Sie sehen mich, ihre Beta, eine Mörderin, mit dem Blut ihres Sohnes befleckt, vor Wut und Schock und Furcht zitternd.

»Wo ist mein Gewehr?«, brüllt der Governor. »Ich werde sie auf der Stelle erschießen. Liesel, geh sofort in dein Zimmer.« Er blickt Mutter an. »Da siehst du, was du angerichtet hast!«

Mutter sinkt auf die Knie. »Mein Baby!«, schluchzt sie. »Mein Liebling! Mein Junge!«

Was würde Zhara an meiner Stelle tun?

Ich blicke zum offenen Fenster neben meinem Bett.

Ich sollte aus dem Fenster springen.

Ich springe.

Keine Zeit, um nachzudenken. Einfach nur rennen.

Die Bodyguards unter meinem Fenster haben nicht damit gerechnet. Jedenfalls nicht in diesem Moment. Sie hörten die Schreie und wollten gerade ins Haus, um dem Governor zu Hilfe zu eilen, als ich aus dem Fenster springe. Ich lande mit beiden Füßen auf dem Boden, richte mich sofort auf und renne blitzschnell los, bevor sie überhaupt begriffen haben, was da gerade passiert. Schnell, zu den Stufen im Felsen, die zum Strand hinunterführen. Wenn ich es bis zu den magischen Gewässern von Ion schaffe, bin ich gerettet. Das Meer wird mich bergen und behüten. Daran glaube ich ganz fest.

Der Governor und seine Bodyguards folgen mir. Sie sind schneller, als ich gedacht habe. Sie treiben mich zur selben Stelle wie Xanthe. Ich kann ihnen nicht mehr entkommen.

Nur noch wenige Augenblicke.

An der Kante der Steilküste drehe ich mich um und blicke ihnen entgegen. Lieber durch eine Kugel aus dem Gewehr des Governor sterben, als vom Kliff ins Meer gestoßen zu werden. So bin ich schneller tot.

Der Governor steht wenige Schritte vor mir, rechts und links neben ihm seine Bodyguards. Sie packen mich nicht, um mich festzuhalten. Wohin sollte ich denn auch fliehen?

Der Governor drückt mit dem Finger auf den Abzug.

Sie werden meinen Körper danach einfach über das Kliff ins Meer werfen.

Oder ich springe doch?

Ungefähr dreißig Meter bis hinunter in die Gischt. Der Fels fällt steil ab. Nur an einer Stelle ragt eine Felsnadel hervor.

Ich wage es.

Besser beim Sprung ins Wasser sterben als durch eine Kugel des Governor.

Ich drehe mich blitzschnell um, gehe leicht in die Knie und

Ein Schuss.

Ich springe.