Achtes Kapitel
Auf Anweisung des Governor beginnen Ivan und ich um acht Uhr morgens mit unserem Work-out. Wir machen zuerst etwas Stretching und Muskelaufbauübungen auf der Veranda, drehen dann eine längere Jogging-Runde oben an der Felsküste und beenden das Training mit einer Reihe von Sprints über die steilen Treppen, die vom Strand zur Villa des Governor führen, das treibt den Blutdruck noch mal richtig hoch und kräftigt die Beinmuskulatur.
Wir haben unseren fünften Sprint über die in den Fels gehauenen Stufen zur Hälfte hinter uns, als Ivan auf einmal stehen bleibt. Er hält die Hand schützend über die Augen und blickt in die Ferne. »Hast du eigentlich viel von Demesne gesehen, bevor du hierhergekommen bist?«, fragt er außer Atem.
Mir wird erneut bewusst, was für ein Wunder es ist, dass ich an diesem strahlend schönen Morgen hier mit ihm stehe. Bevor ich in diese Villa kam, kannte ich nur geschlossene Räume – Dr. Lusardis Labor, die Boutique – und durfte nicht die süße Luft der Insel einatmen oder konnte von einem Aussichtsplatz an der Steilküste den Blick hinunter auf das violette Wasser, den weißen Sandstrand oder die Palmen werfen und all die Schönheit ringsum genießen. Und das ist ja nur ein erster Eindruck. Wie spektakulär wird es erst sein, wenn ich mehr von der Insel kennenlerne?
Ich antworte auf Ivans Frage nicht. Ich wüsste gar nicht, wo anfangen und wo aufhören. Ich möchte so gerne alles hier sehen!
»Natürlich nicht«, sagt er. »Das hat man dir wahrscheinlich nicht erlaubt.« Und fügt dann noch ein überflüssiges »Tut mir leid« hinzu. Ivan greift in einen tiefen Spalt des zerklüfteten Felsens hinein, zieht ein Fernglas hervor und reicht es mir. »Hier, nimm. Mein Versteck. Ziemlich überwältigender Blick, was?«
Ich halte mir das Fernglas vor die Augen, nehme alles in mich auf, atme in tiefen Zügen die milde, honigduftende Luft ein. Das helle Himmelsblau ist mit einem leicht orange-rosafarbenen Hauch überzogen, eine Einfärbung – wie mein Chip mir meldet –, die entsteht, wenn die Sonne auf die Atmosphäre von Demesne trifft. Das violettblaue Wasser des Meeres von Ion kräuselt sich zu leichten Wellen und entlang der Küste sind die vom Laub der Bäume und Büsche fast versteckten Villen zu sehen. In der Ferne erstreckt sich eine Hügelkette, aus der als höchster Berg der Insel der Mount Orion herausragt. Unterhalb des Vulkans, über dem eine weiße Wolke schwebt, sind die Wälder so dicht, dass sie wie ein Dschungel wirken. Dort muss irgendwo auch Dr. Lusardis Labor versteckt sein, aus dem ich stamme, aber durch das Fernglas kann ich nichts davon erkennen.
Ich schwenke zu dem Sandstrand von Heaven, der ein gutes Stück entfernt liegt. Eine dicke Frau geht ins Wasser, taucht kurz in die Wellen ein und kehrt dann zu ihrem Liegestuhl zurück. Nach dem Bad, eigentlich nur ein kurzes Eintauchen, wirkt sie deutlich schlanker und jünger, als hätte sie eine Wunderkur hinter sich, die sie in Sekundenschnelle in eine strahlende Schönheit verwandelt hat. Sie beugt sich über ihren männlichen Begleiter, der seine Lektüre beiseitelegt, und setzt sich dann auf ihn. Er schlingt die Beine um sie, und sie küssen sich lange und gierig, als wäre es das erste Mal, obwohl aus ihrer Körpersprache hervorgeht, dass sie einander so vertraut sind, wie das nur bei langjährigen Partnern der Fall sein kann.
Bedienstete des Country Club huschen zwischen den Sonnenbadenden umher und servieren ihnen Drinks und Häppchen.
»Kein schlechter Ausblick, was?«, sagt Ivan. »Das schöne Leben auf Demesne.« Natürlich meint er nur das schöne Leben der Menschen auf Demesne, aber ich nicke trotzdem. Auch für mich ist das Leben hier schön, denke ich.
Nach unserem zehnten Sprint die Treppen rauf und runter hält Ivan am Fuß der steilen Stufen erneut an.
»Ich kann’s einfach nicht fassen, dass du immer noch mithältst«, sagt er.
Ich kann nicht nur mithalten. Es wäre mir ein Leichtes, ihn abzuhängen, aber Mutter hat mir die Anweisung gegeben, ihn auf alle Fälle gewinnen zu lassen. »Sein Selbstvertrauen muss etwas gepäppelt werden, bevor er ins Ausbildungslager geschickt wird«, sagte sie. »Beim Militär wartet eine harte Zeit auf ihn. Sei ein braves Mädchen, Elysia, mein Liebling. Lass Ivan seinen Spaß haben.«
Ein Mädchen in Ivans Alter kommt die Treppen herunter und stürmt auf uns zu.
»Ivan! Hi!« Es handelt sich um eine kecke, sommersprossige Rothaarige im Tenniskostüm. »Man hat mir gesagt, dass du hier bist. Willst du mit mir und Demenzia eine Partie spielen?«
»Hi, Greer«, murmelt Ivan. »Heute nicht.«
»Was ist das denn?« Greer deutet auf mich.
»Wir haben seit gestern eine Beta«, sagt Ivan.
Greer mustert mich und sieht mir dabei tief in meine fuchsiaroten gläsernen Augen. »Fabrizieren sie jetzt auch Teenager? Da müssen wir aber echt aufpassen! Ich hab keine Lust, von Piraten geschnappt und in eine Untote verwandelt zu werden.« Sie spielt mit einer Haarsträhne von mir. »Deine First hatte wirklich tolle Haare. Wüsste gern, welche Pflegespülung sie verwendet hat. Hast du auch einen Namen?«
»Elysia«, sage ich.
»Die Lusardi hat aber auch immer abgefahrene Ideen. Spielst du Tennis?«
Ivan antwortet an meiner Stelle. »Sie ist hier, um mit mir zu spielen. Nicht mit dir, Greer.«
»Jetzt hab dich mal nicht so.« Greer schmollt. »Ich will ja nur ein gutes Doppel zustande bringen.« Sie geht die Stufen hoch und dreht sich dann ein letztes Mal zu uns um. »Wir sind jedenfalls auf dem Tennisplatz, falls ihr es euch doch noch mal anders überlegt. Oder vielleicht sieht man sich ja später im Club.«
Dann läuft sie die Treppe wieder hoch.
»Wer ist das?«, frage ich Ivan.
»Greer wohnt auf dem Anwesen nebenan«, antwortet Ivan und verdreht die Augen. »Ihr Vater ist der Heeressonderbeauftragte auf Demesne. Meiner Meinung nach ist ein solcher Posten was für reiche oder einflussreiche Typen, die sonst nicht viel draufhaben, so von wegen taktische Fähigkeiten und so. Die werden dann hierher geschickt, wo sie eine ruhige Kugel schieben können. Viel zu tun gibt es hier wirklich nicht. Ich glaub, er ist ganz glücklich damit.«
»Okay, also Greers Vater schiebt eine ruhige Kugel und ist glücklich. Sie auch?«
»Ich glaub schon«, meint er achselzuckend.
»Magst du sie nicht? Sie ist sehr hübsch.«
»Ich find sie ganz okay. Ich kenn sie schon ewig. Sie ist eine Schlampe. Irgendwie fehlt ihr was Rätselhaftes oder Interessantes.«
So viele neue Wörter. Aber mir fällt noch ein anderes ein. »Was bedeutet Demenzia?«, frage ich.
»Demenzia von Demenz. Sie ist Greers beste Freundin. Eigentlich heißt sie Demetra.«
»Und warum dann Demenzia?«
»Schlag mal unter Demenz nach. Wenn du sie kennenlernst, weißt du sofort, was gemeint ist.«
Demenz: Erkrankung des Gehirns, Verlust der Denkfähigkeit, mit Verhaltensauffälligkeiten einhergehend
Ich kann mir nicht vorstellen, wie man daraus den Namen für ein Mädchen ableiten kann, und bin gespannt, sie kennenzulernen.
Ivan gibt mir einen Schubs und startet zu einem Wettrennen am Strand entlang. Ich sprinte los und renne so schnell ich kann. Ivan läuft und läuft und müht sich ab, aber er kann mich nicht einholen.
Mein Chip sendet mir ein Signal, das ich als Befriedigung dekodiere. Menschen, so teilt er mir mit, gewinnen gern.
Ich auch, ich gewinne auch gern.
Wir rennen im Bogen zurück und dann ein letztes Mal die steilen Stufen im Fels hoch. Ivan kommt eine Minute nach mir oben an, völlig außer Atem.
»Du betrügst«, sagt er. »Vor der letzten Trainingseinheit hast du einen Erdbeershake getrunken.«
Das stimmt. Ich habe in unserer kleinen Pause vor dem letzten Sprint einen Erdbeershake getrunken, aber Ivan hatte da seinen Weizengrasdrink.
»Du hast recht«, sage ich. »Ich hatte eine zusätzliche Energiespritze.«
Schweiß rinnt ihm übers Gesicht, während mir nichts anzusehen ist. Ich könnte gut noch mal tausend Stufen rauf und runter rennen. Ivan stützt die Hände auf die Oberschenkel, beugt sich erschöpft nach vorne.
»Morgen verbessern wir unsere Zeit«, sage ich.
»Du bringst mich noch um«, stöhnt er.
»Was ist eine Schlampe?«, frage ich.
»Ein Mädchen, das zu …« Er scheint nach Worten zu suchen. »Das zu freigiebig ist.«
»Zu freigiebig? Was verschenkt sie denn?« Ich sehe Greer vor mir, wie sie allen Leuten kleine Geschenke macht, und verstehe nicht, warum Ivan das nicht schön findet.
»Freigiebig mit … mit …« Sein vom Laufen roter Kopf wird dunkelrot. »Mit Sex.«
Greer verteilt an alle Sex?
Kein Wunder, dass das Wort Revolte nicht auf meiner Datenbank zu finden ist. Wogegen sollte man sich auf Demesne auch auflehnen wollen? Oder um es mit Ivans Worten zu sagen: »Das Leben ist hier einfach ein Traum.«
Ivan und ich liegen in der Sonne. Wir schaukeln auf zwei Luftmatratzen im Floating Pool der Nectar Bay, direkt vor Heaven. Das Becken ist vollständig aus Glas, sodass die Badenden die sich im Meer tummelnden bunt gestreiften und gepunkteten tropischen Fische bewundern können, ohne vorher mühsam über das Korallenriff der seichten Bucht klettern zu müssen oder überhaupt das Unterwasserökosystem zu beeinträchtigen. Es ist Mittag, die Sonne sticht herab, und das violette Wasser leuchtet hellrosa. Meine Haut hat einen goldenen Schimmer, das Wasser um uns herum plätschert leise. In einiger Entfernung kann ich die Leute in ihren Liegestühlen am Strand sehen. Die Menschen hier sind alle so glücklich und träge, fast apathisch. Sie könnten gar keinen Aufruhr anzetteln, selbst wenn sie es versuchten.
»Zeit für ein Nickerchen«, sagt Ivan, er liegt auf einer Luftmatratze neben mir. Dann breitet er sich ein Handtuch über die Augen. »Du hast mich heute ganz schön geschafft, Elysia.«
Unser sanftes Schaukeln auf den Wellen wird durch die Ankunft des Mädchens mit der verminderten Denkfähigkeit samt einhergehender Verhaltensauffälligkeiten unterbrochen.
Demenzia begrüßt Ivan und mich mit einer Wasserbombe. Mit einem lauten Begeisterungsgeschrei rennt sie den Pier entlang auf den Floating Pool zu. Sie trägt eine dieser Kombinationen aus Schnüren und Stoffdreiecken, die man Bikini nennt. Ich selber habe inzwischen in Astrids ausgemusterten Kleidungsstücken einen marineblauen Zweiteiler mit einem Sport-BH und Shorts gefunden, mit dem ich mich im Wasser wohler fühle. Als Demenzia den Beckenrand erreicht hat, macht sie einen hohen Sprung, zieht die Knie an und presst sie fest gegen ihren Oberkörper. »Wasserbombe!«, ruft sie, bevor sie auf dem Wasser aufklatscht. Die Wellen, die sie verursacht, werfen fast unsere Luftmatratzen um.
Demenzia taucht aus dem Wasser auf und umklammert den Rand von Ivans Luftmatratze.
»Hey, Sexyboy«, sagt sie zu Ivan. »Ich hab gehört, eure Mom hat eine Beta gekauft.«
Ivan zeigt auf mich. »Das ist sie. Sie heißt Elysia.«
Demenzia taucht wieder ins Wasser ein, schwimmt unter Ivans Luftmatratze hindurch und erscheint auf meiner Seite. Sie ist auf genauso ungewöhnliche Art hübsch wie ihr ungewöhnlicher richtiger Name Demetra hübsch klingt. Sie hat olivfarbene Haut, schwarze Haare und olivfarbene Augen. Sie legt ihre Unterarme auf meine Luftmatratze und mustert mich. »Golden glänzende Haut und Haare. Was für ein hübsches Ding. Deine Mutter hat Geschmack, Ivan.« Sie legt eine Hand auf meinen Unterarm und ritzt mir mit dem Fingernagel die Haut auf, eine gerade Linie, den ganzen Arm entlang. Eine Geste irgendwo zwischen Kitzeln und Kratzen.
»Demenzia!« Ivan spritzt sie voll Wasser. »Hör auf, sie zu ritzen. Wie oft hab ich dir das schon gesagt? Tu’s meinetwegen bei dir selbst, aber lass die anderen damit in Ruhe.«
Demenzias Hand zieht sich von meinem Arm zurück und liegt wieder auf der Luftmatratze. Sie blickt verlegen weg. »’tschuldigung.« Erst jetzt bemerke ich die Narbe an ihrer rechten Schläfe. Anscheinend wollte sie sich mit etwas Scharfem – vielleicht einer Rasierklinge – ihr eigenes Schwertlilientattoo eingravieren, hat dann aber wohl nach der Hälfte aufgegeben. Vielleicht hatte sie auch kein Betäubungsmittel. Sie blickt mich wieder an, irgendwie erwartungsvoll. »Also, Elysia, dann sag mal … kannst du denn irgendwelche Kunststücke?«
»Irgendwelche Kunststücke?«, frage ich zurück.
Ivan antwortet für mich. »Sie ist eine Superschwimmerin. Zeig es ihr, Elysia.«
Ich lasse mich von der Luftmatratze gleiten, stelle mich auf den Boden des Pools und mache dann mit ausgestreckten Armen einen Satz nach vorne. Nach einer kurzen Tauchphase ziehe ich die Arme zum Butterfly kraftvoll nach vorne. Mit schnellen Arm- und Beinbewegungen durchpflüge ich den Pool. Ob der blonde Surfergott, dessen Erscheinung ich im Pool der Villa des Governor gesehen habe, auch wieder da sein wird?
Er zeigt sich nicht. Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert bin.
Als ich nach einer Wende schließlich wieder bei Demetra angelangt bin, steht ihr der Mund offen.
»Ich hab noch nie jemand so schwimmen sehen«, sagt sie. »So schnell und so perfekt. Du bist wie eine Maschine.«
»Wir sollten sie mal zum Hidden Beach mitnehmen«, sagt Ivan, »um zu sehen, welche Sprünge sie da von den Felsen vorführt. Der Pool ist dafür leider nicht tief genug.«
»Und außerdem sind hier viel zu viele alte Leute«, meint Demenzia verächtlich. Im Pool sind wir im Moment nur zu dritt, da übertreibt sie maßlos. Aber unter den Sonnenanbetern am Strand sind einige, die mit Ende dreißig, Anfang vierzig ihr bestes Alter bereits überschritten haben. Wir Klone steuern da schon heftig auf unser Verfallsdatum zu, das ist sogar so vorgeschrieben, bei Menschen jedoch verhält es sich anders. Sie beobachten uns, als warteten sie nur darauf, dass wir den Pool räumen. »Nicht gerade stimulierend für eine Runde Raxia«, sagt Demenzia.
Ich checke meine Datenbank, aber ich finde nichts. Keine Ahnung, was Demenzia damit gemeint hat. Trotzdem nicke ich, als ob ich Bescheid wüsste. Ich tue immer so, als gehörte ich dazu, das ist mein Job.
Ivan streicht sich über den Arm. Sein Relay leuchtet auf, er kommuniziert und blickt dann wieder zu Demenzia und mir. »Farzad ist am Hidden Beach.«
»Frag ihn, wie das Wasser ist«, sagt Demenzia.
Ivan kommuniziert wieder per Relay. »Er sagt, dort ist totale Raxia angesagt.«
»Los, auf geht’s!«, ruft Demenzia. Sie schüttelt ihren Kopf so heftig, dass ihre langen Haare wild umherfliegen und ringsum Wassertröpfchen versprühen. »Ihr könnt jetzt euern Pool zurückhaben, Oldies!«, ruft sie den Leuten am Strand noch zu.