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In dem Raum, dem die Mitarbeiter im DNA-Gebäude den Spitznamen Blutgrotte verpasst hatten, tauchte Scarpetta einen Tupfer in eine Flasche mit Kohlenwasserstoff und benetzte damit den Bodensatz in einer Petrischale, die sie anschließend auf den aus Kunststofffliesen bestehenden Fußboden stellte. Danach schaltete sie das tragbare Analysegerät für vergrabene Leichenteile und Verwesungsgeruch, den »Lightweight Analyzer for Buried Remains and Decomposition Odor«, ein, dessen Name passenderweise mit LABRADOR abgekürzt wurde.
Die elektronische Nase, der sogenannte Schnüffler, erinnerte tatsächlich an einen Roboterhund aus einem Comic und bestand aus einem S-förmigen Stab mit kleinen Lautsprechern an beiden Seiten, die als Ohren durchgehen konnten. Die Nase selbst, eine Bienenwabe aus Metall, setzte sich aus zwölf Sensoren zusammen, die verschiedene chemische Eigenschaften erkennen konnten wie ein echter Hund Gerüche. Der Akku war mit einem Riemen versehen, den Scarpetta schulterte, bevor sie den Stab unter den Arm klemmte und die Nase über ihre Probe in der Petrischale hielt. Der LABRADOR reagierte, indem auf einer Konsole ein erleuchteter Strichcode erschien. Dazu ertönte ein Signal, das sich anhörte wie Harfenklänge aus der Konserve. Es war eine harmonische Abfolge von Tönen, ein eindeutiger Hinweis auf Kohlenwasserstoff. Die elektronische Nase war zufrieden. Sie hatte einen gesättigten Kohlenwasserstoff erkannt und die Prüfung bestanden. Der nächste Auftrag würde ein trauriger sein.
Scarpetta ging von einer einfachen Voraussetzung aus. Offenbar war Toni Darien in der Villa Starr ermordet worden. Nun lautete die Frage, ob auch noch weitere Opfer außer Toni ins Haus gelockt worden waren, und wenn ja, in welchen Teil des Gebäudes. Scarpetta nahm an, dass Toni sich in einem der Kellergeschosse aufgehalten hatte, und zwar aufgrund der Temperaturmessungen des BioGraph und der Obduktionsergebnisse, die darauf hinwiesen, dass die Leiche an einem kühlen Ort und nicht im Freien aufbewahrt worden war. Wo immer die Tote auch gelegen hatte, hatte sie Moleküle von Chemikalien und anderen Substanzen hinterlassen, Gerüche, die die menschliche Nase nicht wahrnehmen konnte. Vielleicht aber der LABRADOR. Scarpetta schaltete das Gerät ab, packte es in eine schwarze Nylontasche und löschte die beweglichen Scheinwerfer an der Decke, die sie an ein Fernsehstudio und damit an Carley Crispin erinnerten. Dann zog sie ihren Mantel an, verließ das Labor und ging, ein verglastes Treppenhaus hinunter, aus dem Gebäude. Inzwischen war es kurz vor acht Uhr abends. Der Garten mit seinen unbenutzten Granitbänken war menschenleer, windig und dunkel.
An der First Avenue bog sie rechts ab und folgte dem Gehweg, vorbei am Klinikum Bellevue, zurück zu ihrem Büro, wo sie sich mit Benton verabredet hatte. Da der Haupteingang des Gebäudes mittlerweile geschlossen war, bog sie an der Thirtieth Street erneut rechts ab. Sie stellte fest, dass aus dem offenen Rolltor einer Zufahrt Licht auf die Straße fiel. Drinnen stand ein weißer Transporter mit laufendem Motor und offener Heckklappe. Doch es war niemand in Sicht. Mit ihrer Codekarte öffnete Scarpetta die Zwischentür oben an der Rampe und wurde von den vertrauten weißen und petrolgrünen Fliesen empfangen. Musik wehte ihr entgegen. Soft Rock. Offenbar hatte Filene heute Dienst. Aber eigentlich war es gar nicht ihre Art, das Rolltor offen zu lassen.
Scarpetta marschierte an der Bodenwaage vorbei zum Büro der Gerichtsmedizin, ohne jemandem zu begegnen. Der Bürostuhl vor dem Plexiglasfenster war zur Seite gedreht, Filenes Radio stand auf dem Boden. Ihre Jacke mit der Aufschrift OCME SECURITY hing an der Tür. Im nächsten Moment hörte sie Schritte. Ein Wachmann in dunkelblauer Uniform kam von den Umkleiden her auf sie zu. Vermutlich war er auf der Toilette gewesen.
»Das Rolltor ist offen«, sagte Scarpetta. Sie kannte seinen Namen nicht und hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
»Eine Anlieferung«, erwiderte er. Etwas an ihm erschien ihr vertraut.
»Von wo?«
»Eine Frau ist in Harlem von einem Bus überfahren worden.«
Er war schlank, aber kräftig. An seinen bleichen, sehnigen Händen traten die Venen hervor, schwarzer feiner Haarflaum lugte aus seiner Mütze, und seine Augen waren hinter einer grau getönten Brille verborgen. Sein Gesicht war glatt rasiert, und seine Zähne wirkten zu weiß und ebenmäßig. Wahrscheinlich ein Gebiss, obwohl er dafür noch ein wenig jung war. Außerdem machte er einen unruhigen und nervösen Eindruck, was sicher daran lag, dass es ihm unangenehm war, nach Einbruch der Dunkelheit in der Leichenhalle zu arbeiten. Bestimmt eine Aushilfe. Mit der Wirtschaftskrise hatte sich auch die Personalsituation verschlechtert, denn wegen der einschneidenden Mittelkürzungen hatte es sich als praktisch erwiesen, mehr Teilzeitkräfte und Leiharbeiter zu beschäftigen. Hinzu kam, dass derzeit die Grippe unter den Angestellten grassierte. Gedankenbruchstücke schossen Scarpetta durch den Kopf, und sie spürte plötzlich, wie ihre Kopfhaut prickelte und ihr Puls zu rasen begann. Ihr Mund wurde trocken, und sie wollte die Flucht ergreifen. Im nächsten Moment packte der Mann sie am Arm. Ihre Nylontaschen rutschten ihr von der Schulter, als sie sich wehrte. Aber er schleppte sie mit erstaunlicher Kraft zur Einfahrt, wo der weiße Transporter mit offener Heckklappe und laufendem Motor wartete.
In panischer Angst stieß sie wortlose Schreie aus, während sie versuchte, sich zu befreien und das Gewirr von Taschenriemen loszuwerden. Sie trat nach ihm und wollte sich losreißen, doch er öffnete die Tür, durch die sie gerade eingetreten war, mit so viel Schwung, dass sie mit einem Knall, so laut wie ein Hammerschlag, mehrere Male gegen die Wand aus Betonbausteinen prallte. Die lange Tasche mit dem LABRADOR verkeilte sich waagerecht im Türrahmen, und Scarpetta dachte zunächst, dass er sie deshalb losließ und vor ihren Füßen zu Boden stürzte. Eine Blutlache bildete sich auf der Rampe. Benton kam hinter dem weißen Transporter hervor und zielte mit einem Gewehr auf den Mann. Scarpetta wich von seinem reglosen Körper zurück.
Blut quoll aus einer Wunde an seiner Stirn, durch die das Geschoss, das den Hinterkopf getroffen hatte, wieder ausgetreten war. Am Türrahmen, nur wenige Zentimeter von der Stelle, wo Scarpetta gerade noch gestanden hatte, befanden sich Blutspritzer. Ihr Gesicht und ihr Hals fühlten sich kalt und feucht an, und sie wischte sich Blut und Hirnmasse ab. Als sie ihre Taschen auf den weißen Fliesenboden fallen ließ, erschien eine Frau, die eine schussbereite Pistole in beiden Händen hielt. Beim Näherkommen senkte sie die Waffe.
»Er ist tot«, stellte sie fest, und Scarpetta überlegte, ob vielleicht noch jemand erschossen worden war. »Die Verstärkung ist unterwegs.«
»Vergewissern Sie sich, dass sich hier draußen niemand mehr herumtreibt«, wies Benton die Frau an und tat einen großen Schritt über die Blutlache auf der Rampe hinweg. »Ich sehe drinnen nach dem Rechten. Bist du jemandem begegnet?«, fragte er Scarpetta und blickte sich dabei in alle Richtungen um. »Weißt du, ob noch jemand im Gebäude ist?«
»Wie konnte so etwas geschehen?«, erwiderte sie.
»Bleib in meiner Nähe«, sagte er.
Benton ging voraus, überprüfte die Flure und das Büro und stieß die Türen zur Herren- und zur Damenumkleide mit dem Fuß auf. Dabei erkundigte er sich immer wieder nach Scarpettas Befinden. Er erklärte ihr, im Haus der Starrs habe man in einem Kellerraum Kleidungsstücke sichergestellt, die den Uniformen von OCME SECURITY ähnelten. Offenbar sei es von langer Hand geplant gewesen, sie hier zu entführen. Und dass Berger ihm so dicht auf den Fersen gewesen sei, habe ihn vermutlich dazu gebracht, jetzt zuzuschlagen. Er habe seine Methoden gehabt, den Aufenthaltsort aller beteiligten Personen zu ermitteln. Benton konnte gar nicht mehr aufhören, über ihn zu sprechen und sie zu fragen, ob sie verletzt und ob alles in Ordnung sei.
Marino hatte Benton telefonisch über die Kleidungsstücke informiert und den Verdacht geäußert, wofür sie bestimmt waren. Bei ihrer Ankunft hatten Lanier und Benton das offene Rolltor bemerkt und waren sofort aktiv geworden. Sie standen noch auf der Thirtieth Street, als Hap Judd aus der Dunkelheit erschien und die Einfahrt betrat, um in den Transporter zu steigen. Er hatte sie gesehen und sofort die Beine in die Hand genommen. Während Lanier sich an die Verfolgung gemacht hatte, hatte Jean-Baptiste Chandonne Scarpetta durch die Zwischentür gezerrt.
Benton folgte dem weiß gekachelten Flur und warf einen Blick in den Vorraum und den Autopsiesaal. Hap Judd sei bewaffnet gewesen, sagte er. Nun sei er tot. Bobby Fuller, Bentons Ansicht nach Jean-Baptiste Chandonne, sei ebenfalls nicht mehr am Leben. Am Ende des Flurs jenseits des Aufzugs, mit dem die Leichen zur Aufbahrung gebracht wurden, entdeckten sie Blutspritzer auf dem Boden. Sie führten zur Tür des Treppenhauses. Auf dem Treppenabsatz lag Filene. Neben ihr befand sich ein blutiger Hammer, wie sie zum Zusammennageln der Kisten aus Fichtenholz benutzt worden waren. Offenbar war die Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes hierher geschleppt worden. Scarpetta kniete sich neben sie und hielt ihr die Finger seitlich an den Hals.
»Verständige einen Krankenwagen«, rief sie zu Benton.
Sie ertastete eine Verletzung rechts an Filenes Hinterkopf. Die geschwollene Stelle war nachgiebig und blutig. Als sie Filenes Augenlider öffnete, um die Pupillen zu untersuchen, war die rechte geweitet und unbeweglich. Ihr Atem ging stoßweise, ihr Puls war beschleunigt und unregelmäßig. Scarpetta befürchtete, der untere Hirnstamm könnte zu stark unter Druck geraten.
»Ich bleibe hier«, sagte sie zu Benton, während dieser Hilfe herbeitelefonierte. »Vielleicht übergibt sie sich oder bekommt einen Krampfanfall. Ich muss dafür sorgen, dass sie nicht erstickt. Ich bin bei Ihnen«, wandte sie sich an Filene. »Alles wird gut. Der Krankenwagen ist schon unterwegs«, fügte sie hinzu.