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Suchscheinwerfer streiften das Gewirr von Stahlträgern, die die George Washington Bridge stützten und wo sich ein Selbstmordkandidat an die Trossen klammerte. Er war beleibt und über sechzig. Der Wind peitschte um seine Hosenbeine, sodass im grellen Licht seine fischbauchweißen Knöchel zu sehen waren. Marino konnte den Blick nicht von der Live-Übertragung abwenden, die auf dem Flachbildschirm am anderen Ende des Raums flimmerte.

Er wünschte, die Kameras würden das Gesicht des Mannes besser zeigen, weil er versuchen wollte, dessen Ausdruck zu deuten. Dabei spielte es keine Rolle, dass er schon häufig Zeuge solcher Notfälle geworden war. Bei jedem Verzweifelten war es anders. Marino hatte beobachtet, wie Menschen starben, wie ihnen klar wurde, dass sie weiterleben würden, wie sie andere umbrachten und wie sie selbst umgebracht wurden. Er hatte ihnen ins Gesicht geschaut, in dem Moment der Erkenntnis, dass es vorbei war – oder eben nicht. Der Ausdruck war nie der gleiche. Wut, Hass, Erschrecken, Trauer, Leid, Angst, Verachtung, Lächeln, Kombinationen davon oder einfach nur Leere. Kein Mensch war so wie der andere.

Der fensterlose, in Blau gehaltene Raum, in dem Marino in letzter Zeit ziemlich oft die Datenbanken durchwühlte, erinnerte ihn an den Times Square und an Nike Town. Er war von einer schwindelerregenden Ansammlung von Bildern umgeben, alle überlebensgroß und auf Flachbildschirmen. Die zwei Etagen hohe Datenwand bestand aus riesigen aneinandergesetzten Monitoren von Mitsubishi. Auf einem der Bildschirme lief eine Uhr, während die Software des Real Time Crime Center das mehr als drei Terrabyte umfassende Datenlager nach jemandem durchsuchte, auf den die Beschreibung des Mannes mit der FedEx-Mütze passte. Eine drei Meter große Aufnahme von ihm aus der Überwachungskamera war an der Wand zu sehen. Das Satellitenbild daneben zeigte das Granitgebäude am Central Park West, in dem Scarpetta wohnte.

»Wenn er springt, wird er es nicht ins Wasser schaffen«, meinte Marino. Er saß auf einem ergonomisch geformten Bürostuhl an einem Terminal und wurde von einem Analysten namens Petrowski unterstützt. »Mein Gott, er wird auf die verdammte Brücke knallen. Was hat er sich nur dabei gedacht, die Stahltrossen hochzuklettern? Will er etwa auf einem Auto landen und einen armen Teufel in einem Mini Cooper mit ins Jenseits nehmen?«

»Leute in seinem Geisteszustand denken nicht logisch.« Petrowski, ein Detective Mitte dreißig, trug einen ordentlichen Anzug mit Krawatte und interessierte sich nicht sonderlich für das, was in diesem Augenblick, kurz vor zwei Uhr morgens, auf der George Washington Bridge geschah.

Er war damit beschäftigt, Suchbegriffe in eine Datenbank mit Tätowierungen einzugeben. In Vino, Veritas, In Vino Veritas, Knochen, Schädel und Sarg. Auf dem Flachbildschirm war der Selbstmordkandidat noch immer unschlüssig und hing in den Trossen, als wäre er ein Trapezkünstler, der den Verstand verloren hat. Jeden Moment würde der Wind ihn in die Tiefe reißen. Das Ende.

»Wir haben nicht viele sachdienliche Hinweise«, stellte Petrowski fest.

»Ja, Sie wiederholen sich«, erwiderte Marino. Er konnte das Gesicht des Selbstmordkandidaten kaum erkennen, aber vielleicht war das ja auch gar nicht nötig, da er das Gefühl nur zu gut kannte. Scheiß drauf!, hatte sich der Typ schließlich gesagt. Die Frage war nur, was er damit meinte. An diesem frühen Morgen würde er entweder sterben oder in der Hölle bleiben, die das Leben für ihn bedeutete. Warum also war er auf den Nordturm der Brücke geklettert und hatte sich von dort aus zu den Trossen vorgearbeitet? Wollte er einfach nur Schluss machen, oder wollte er ein Fanal setzen, weil er zornig war? Marino versuchte, aus seinem Äußeren, seiner Kleidung und seinem Schmuck auf seinen gesellschaftlichen Status zu schließen. Kein leichtes Unterfangen. Weite Khakihose, keine Socken, undefinierbare Turnschuhe, dunkle Jacke, keine Handschuhe. Vielleicht eine Uhr aus Metall. Er machte einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck und war kahlköpfig. Möglicherweise hatte er ja sein Geld, seinen Arbeitsplatz, seine Frau oder alles drei verloren. Marino kannte das. Vor etwa anderthalb Jahren hatte er genauso empfunden und mit dem Gedanken gespielt, sich von einer Brücke zu stürzen. Er war kurz davor gewesen, mit seinem Pick-up das Geländer zu durchbrechen und viele Meter tief in Charlestons Coop er River zu fallen.

»Keine Adresse bis auf die des Opfers«, fügte Petrowski hinzu.

Damit meinte er Scarpetta. Sie war das Opfer. Es ärgerte Marino, dass er sie so bezeichnete.

»Diese Tätowierung ist ungewöhnlich und deshalb unser bester Anhaltspunkt.« Marino beobachtete, wie der Selbstmordkandidat sich an die Trossen hoch über dem oberen Brückenbogen klammerte. Unter ihm erstreckte sich der schwarze Abgrund des Hudson. »Verdammt, sie sollen ihn nicht mit ihren dämlichen Scheinwerfern blenden! Wie vielen Millionen von Kerzen entsprechen die wohl? Inzwischen spürt er bestimmt seine Hände nicht mehr. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie kalt diese Trossen sind? Der alte Junge sollte sich einen Gefallen tun und sich lieber eine Kanone in den Mund stecken oder eine Dose Tabletten schlucken.«

Marino konnte nicht anders, als an sich selbst zu denken, an South Carolina und an die schwärzeste Phase seines Lebens. Damals hatte er sterben wollen. Er hätte den Tod auch verdient gehabt. Noch immer war er nicht hundertprozentig sicher, warum er nicht Schluss gemacht hatte. Warum war er nicht wie dieser arme Teufel auf der George Washington Bridge im Fernsehen gelandet? Marino malte sich Polizisten, Feuerwehrleute und Taucher aus, die seinen Pick-up aus dem Cooper River zogen. Mit ihm darin. Ein scheußlicher Anblick und absolut unfair gegenüber seinen Mitmenschen. Aber die Verzweiflung raubte einem den Verstand, sodass einem die Gerechtigkeit den Buckel runterrutschen konnte. Wasserleichen waren das Allerschlimmste. Die Gase trieben sie auf, verfärbten sie grün, ließen ihnen die Augen aus den Höhlen treten wie bei einem Frosch. Lippen, Ohren und vielleicht sogar der Schwanz wurden von Krabben und Fischen angeknabbert.

Die schwerste aller Strafen wäre gewesen, so widerlich auszusehen und derart zu stinken, dass es den Leuten den Magen umdrehte, das nackte Grauen auf dem Autopsietisch von Doc Scarpetta. Denn er wäre ihr Fall gewesen. Ihre Praxis in Georgetown war damals nämlich die einzige in der Stadt. Sie hätte ihn obduziert. Niemals hätte sie ihn Hunderte Kilometer weit zu einem anderen Gerichtsmediziner bringen lassen. Sie hätte sich um ihn gekümmert, davon war Marino überzeugt. Er hatte miterlebt, wie sie Menschen, die sie gekannt hatte, obduzierte. Dann breitete sie ihnen aus Respekt ein Handtuch übers Gesicht und bedeckte ihre nackte Leiche so gut wie möglich mit einem Laken. Weil sie wusste, dass sie die Einzige war, die ihnen diesen letzten Dienst erweisen würde.

»... so ungewöhnlich ist sie nun auch wieder nicht. Außerdem haben wir sie vermutlich nicht in der Datenbank«, sagte Petrowski.

»Wovon reden Sie?«

»Von der Tätowierung. Und was die Personenbeschreibung des Burschen angeht, trifft sie vermutlich auf die halbe Stadt zu«, sprach Petrowski weiter. Er verhielt sich, als handelte es sich bei dem Selbstmordkandidaten auf dem Flachbildschirm um die Wiederholung eines alten Films, der es nicht wert war, dass man auch nur den Kopf hob. »Schwarz, männlich, zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahre alt, zwischen eins fünfundsiebzig und eins fünfundachtzig groß. Keine Telefonnummer, keine Adresse, kein Autokennzeichen, nichts, wonach man suchen könnte. Im Moment bin ich ziemlich ratlos.« Er klang, als ob Marino sich den Weg in den siebten Stock des Gebäudes One Police Plaza hätte sparen können, ja, als ob er einen Analysten des Real Time Crime Center mit seinem banalen Anliegen nur belästigte.

Zugegeben, Marino hätte zuerst anrufen und fragen sollen. Doch es brachte meist mehr, einfach mit der CD in der Hand aufzukreuzen. Wie seine Mutter immer zu sagen pflegte: »Den Fuß in die Tür, Pete, den Fuß in die Tür.«

Der Fuß des Selbstmordkandidaten rutschte von der Trosse, aber es gelang ihm, sich weiter festzuhalten.

»Hoppla!«, rief Marino in Richtung Flachbildschirm und überlegte, ob der Fuß des Mannes ausgeglitten war, weil er, Marino, das Wort Fuß gedacht hatte.

Petrowski schaute in dieselbe Richtung wie Marino. »Die klettern rauf und ändern dann ihre Meinung«, stellte er fest. »So was passiert immer wieder.«

»Warum tut man sich das an, wenn man sich wirklich vom Acker machen will? Und weshalb dann der Sinneswandel?« Allmählich empfand Marino Verachtung für den Selbstmordkandidaten und ärgerte sich über ihn. »In meinen Augen ist das alles bloß Theater. Spinner wie der da wollen sich nur in den Vordergrund drängen und ins Fernsehen kommen. Sie verlangen, für irgendetwas entschädigt zu werden. Da steckt mehr als nur Todessehnsucht dahinter.«

In der oberen Etage der Brücke staute sich selbst um diese Uhrzeit der Verkehr. Auf der Fahrbahn unmittelbar unter dem Selbstmordkandidaten hatte die Polizei einen Bereich abgesperrt und breitete einen Sprungsack aus. Ein Verhandlungsspezialist versuchte, dem Mann sein Vorhaben auszureden, während andere Polizisten den Turm hinaufstiegen, um in seine Nähe zu kommen. Alle riskierten ihr Leben für jemanden, dem es scheißegal war und der aus unbekannten Gründen fand, dass sich die Welt ins Knie ficken konnte. Da der Fernseher ohne Ton lief, konnte Marino nicht hören, was gesprochen wurde. Doch das war auch nicht nötig, denn es war nicht sein Fall und ging ihn nichts an, weshalb er sich auch nicht damit zu befassen brauchte. Allerdings hatte er im Real Time Crime Center stets Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, weil zu viele Eindrücke gleichzeitig auf ihn einstürmten, während Reize von außen gänzlich fehlten. Die Wände waren zwar mit Bildschirmen bedeckt, aber es gab keine Fenster, lediglich blaue schallisolierende Paneele, in geschwungenen Reihen angeordnete Computerarbeitsplätze mit jeweils zwei Monitoren darauf und einen grauen Teppich.

Nur wenn im angrenzenden Konferenzsaal, anders als jetzt, die Jalousien hochgezogen waren, konnte Marino sich orientieren. Die Brooklyn Bridge, die Downtown Presbyterian, Pace Union, das alte Woolworth-Gebäude. Es war das New York, an das er sich erinnerte, als er beim NYPD angefangen hatte. Damals war er ein Niemand aus Bayonne gewesen, der die Boxhandschuhe an den Nagel gehängt hatte. Er hatte aufgehört, seine Mitmenschen zu vermöbeln, und wollte ihnen stattdessen helfen. Warum, wusste er auch nicht so genau. Ebenso wenig konnte er sich erklären, weshalb er in den frühen Achtzigern New York den Rücken gekehrt hatte und in Richmond, Virginia, gelandet war. In jener Zeit war es ihm erschienen, als sei er eines Tages einfach als Star-Detective in der ehemaligen Hauptstadt der Konföderierten aufgewacht. Die Lebenshaltungskosten. Eine familiengerechte Stadt. Genau, was Doris sich gewünscht hatte. Vermutlich war das die Antwort.

Was für ein gottverdammter Irrtum! Rocco, ihr einziges Kind, war von zu Hause weggelaufen, hatte beim organisierten Verbrechen mitgemischt und war nun tot. Doris war mit einem Autoverkäufer durchgebrannt und für Marino ebenfalls gestorben. Während Marinos Dienstzeit in Richmond hatte die Stadt die höchste Mordrate pro Kopf der Bevölkerung in den gesamten Vereinigten Staaten aufgewiesen. Die von Drogendealern frequentierte Raststätte an der I-95, die New York mit Miami verband, diente als Umschlagplatz für schmutzige Ware, da es in Richmond genügend Kundschaft gab: sieben vom Bund geförderte Sozialwohnungsblocks, Plantagen und Sklaverei. Richmond war deshalb die optimale Stadt für Drogenhandel und Mord, weil die Polizeitruppe aus Dummköpfen bestand. Das hatte sich auf der Straße und entlang der Ostküste rasch herumgesprochen, was Marino damals schrecklich wurmte. Inzwischen kümmerte es ihn nicht mehr. Erstens war es sehr lange her, und zweitens brachte es nichts, Dinge persönlich zu nehmen, wenn sie nicht so gemeint waren. Das meiste im Leben war Zufall.

Mit zunehmendem Alter war es ihm immer schwerer gefallen, einen logischen Zusammenhang zwischen den Ereignissen in seinem Leben zu sehen oder Hinweise darauf zu entdecken, dass seine Entscheidungen oder das von ihm angerichtete Durcheinander auf so etwas wie Sorgfalt und Intelligenz beruhten. Hinzu kamen die Probleme mit denen, die seine Grenzen überschritten, insbesondere mit Frauen. Wie viele hatte er geliebt, verloren oder einfach nur gevögelt? An das erste Mal erinnerte er sich noch glasklar. Im Bear Mountain Park auf einem Bootssteg mit Blick auf den Hudson. Mit sechzehn. Allerdings hatte er keinen Überblick darüber, wie oft er zu betrunken gewesen war, um irgendetwas im Gedächtnis zu behalten. Computer betranken sich nicht, vergaßen und bereuten nichts und hatten keine Gefühle. Sie verknüpften alles miteinander, bis auf der Datenwand ein kausal vernetzter Baum entstand. Marino fürchtete sich vor seiner eigenen Datenwand. Er hatte Angst, dass sie keinen Sinn ergeben könnte und dass fast jeder Weg, den er je eingeschlagen hatte, falsch, abstrus, unvernünftig und planlos gewesen war. Er wollte lieber gar nicht wissen, wie viele Abzweigungen ins Leere führten oder mit Scarpetta zusammenhingen. In gewisser Weise war sie die Ikone im Zentrum seiner Bindungen und seiner Einsamkeit geworden. Sie verkörperte das, was gleichzeitig am meisten und am wenigsten Sinn ergab.

»Ich dachte immer, man könnte Abbildungen und Fotos miteinander abgleichen«, sagte Marino zu Petrowski, während er weiter den Selbstmordkandidaten auf dem Flachbildschirm beobachtete. »Zum Beispiel, wenn die Visage dieses Typen von FedEx in irgendeiner Datenbank gespeichert ist und man die Aufnahme seiner Gesichtszüge und der Tätowierung aus der Überwachungskamera hat.«

»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Allerdings ist es meiner Ansicht nach so sicher wie das Amen in der Kirche, dass der Kerl nicht bei FedEx arbeitet.«

»Es wäre doch trotzdem möglich, eine Suchanfrage zu starten und die Bilder zu vergleichen.«

»Wir gehen nach Suchbegriffen oder Kategorien vor, nicht nach Bildern. Eines Tages vielleicht«, erwiderte Petrowski.

»Wie schaffen Sie es dann, die Bilder oder Fotos, die Sie brauchen, zu googeln und sie herunterzuladen?«, fragte Marino.

Er konnte den Blick nicht von dem Selbstmordkandidaten abwenden. Es stimmte. Offenbar hatte er wirklich seine Meinung geändert. Aber warum? Höhenangst? Oder ging es ihm wirklich nur um die gottverdammte Aufmerksamkeit? Herr im Himmel! Hubschrauber, Polizisten und eine Live-Übertragung im Fernsehen. Vielleicht hatte der Mann ja beschlossen, weiterzumachen und auf die Titelseite von People zu kommen.

»Indem man nach Begriffen, nicht nach dem tatsächlichen Bild sucht«, erklärte Petrowski geduldig. »Die Suche nach einem Bild erfordert die Eingabe eines oder mehrerer Begriffe. Sehen Sie unser Logo da drüben an der Wand? Sie tippen den Begriff RTCC Logo oder Emblem ein, und dann findet die Software das Bild oder die Bilder, die zu diesen Suchbegriffen passen – und sogar den dazugehörigen Ort.«

»Die Wand?« Verdattert betrachtete Marino die Wand, an der das Logo, ein Adler und amerikanische Flaggen, prangte.

»Nein, der Ort ist nicht die Wand, sondern eine Datenbank, in unserem Fall ein Datenlager, weil das System ziemlich umfassend und vernetzt geworden ist, seit wir begonnen haben, die Informationen zentral zu speichern. Jeder Haftbefehl, jede Straftat, jeder Bericht, jede Waffe, jede Landkarte, jede Festnahme, jede Beschwerde, jede Vorladung, jedes angehaltene Auto, jede Befragung, jede Leibesvisitation, jeder jugendliche Straftäter, also alles, was Sie wollen. Es handelt sich um die gleiche Analyse von Verknüpfungen, wie wir sie auch in der Terrorismusbekämpfung anwenden«, erläuterte Petrowski.

»Gut, und wenn Sie Bilder verknüpfen könnten«, meinte Marino, »hätten Sie die Möglichkeit, Terroristen zu identifizieren. Ein anderer Name, aber dasselbe Gesicht. Warum also machen wir es nicht? Mann, fast hätten sie ihn erwischt! Mein Gott. Weshalb müssen wir uns wegen so einem Verlierer von einer Brücke abseilen?«

Polizisten vom Notfalleinsatzkommando, mit Brustgurten und an Seilen hängend, näherten sich von drei Seiten.

»Weil uns noch die technischen Voraussetzungen fehlen. Irgendwann vielleicht«, antwortete Petrowski, völlig uninteressiert an dem Selbstmordkandidaten und seinem Überleben. »Wir verknüpfen amtliche Informationen wie Adressen, Örtlichkeiten, Gegenstände oder andere große Datensammlungen, aber keine Fotos von Gesichtern. Wenn Sie etwas finden, dann wegen des richtigen Suchbegriffs, nicht wegen der Abbildung der Tätowierung. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Ich habe nämlich den Eindruck, dass Sie mir nicht ganz folgen können. Vielleicht sollten Sie sich auf mich und die Vorgänge in diesem Raum konzentrieren anstatt auf die George Washington Bridge.«

»Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht besser sehen«, sagte Marino in Richtung des Flachbildschirms, der den Selbstmordkandidaten zeigte. »Etwas an ihm kommt mir bekannt vor. Als ob ich ihm schon mal irgendwo begegnet wäre.«

»Sie können ihm überall und nirgendwo über den Weg gelaufen sein. Heutzutage nimmt es immer mehr überhand. Ich finde das einfach nur egoistisch. Wenn man Schluss machen will, nimmt man keine anderen Leute mit, bringt nicht seine Mitmenschen in Gefahr und verursacht dem Steuerzahler Kosten. Die heutige Nacht wird er wohl im Bellevue verbringen. Und morgen erfahren wir dann, dass er an irgendeinem krummen Deal beteiligt war. Wir hatten gerade eine Mittelkürzung von einhundert Millionen Dollar und verschwenden trotzdem unser Geld, um seinen Arsch von dieser Brücke zu holen. Und in einer Woche fällt ihm bestimmt eine andere Methode ein, sich umzubringen.«

»Nein, er tritt in der Late Show von David Letterman auf«, erwiderte Marino.

»So etwas macht mich stinksauer.«

»Schalten Sie noch mal zurück zu der Tätowierung dieses Penners, die mit dem Mount Rushmore«, sagte Marino und griff nach seiner Kaffeetasse, während die Kollegen vom Notfalleinsatzkommando ihr Leben aufs Spiel setzten, um jemanden zu retten, der es nicht wert war. Typen wie ihn gab es hundertfach. Inzwischen hätte er längst springen sollen, damit die Küstenwache ihn aufsammeln und in die Gerichtsmedizin bringen konnte.

Petrowski öffnete noch einmal die Datei auf dem Bildschirm eines Laptops und zog das Bild mit der Maus auf eine große, quadratische Fläche. Ein Verbrecherfoto erschien an der Datenwand, ein schwarzer Mann mit einer Tätowierung, die die rechte Seite seines Halses bedeckte: vier Totenschädel in einer Felswand, die Marino an Mount Rushmore erinnerte. Dazu die lateinische Inschrift In Vino Veritas.

»Eine Flasche Wein, die Frucht der Weinrebe«, murmelte Marino. Die beiden Polizisten hatten den Selbstmordkandidaten beinahe erreicht. Marino konnte sein Gesicht nicht erkennen und nicht feststellen, was in ihm vorging oder ob er sprach.

»Im Wein liegt die Wahrheit«, übersetzte Petrowski. »Der Spruch stammt, glaube ich, von einem alten Römer. Wie hieß der Typ noch mal? Plinius oder so. Vielleicht auch Tacitus.«

»Mateus und Lancers Rosé. Erinnern Sie sich?«

Petrowski lächelte, antwortete aber nicht. Er war zu jung und hatte wahrscheinlich auch noch nie von Mad Dog oder Boone’s Farm gehört.

»Man hat im Auto eine Flasche Lancer’s getrunken, und wenn man einen Treffer landete, hat man dem Mädchen anschließend die Flasche als Souvenir geschenkt«, fuhr Marino fort. »Die Mädchen haben Kerzen reingesteckt und das Wachs seitlich heruntertropfen lassen. Viele bunte Kerzen. Für mich war das ein Kerzenfick. Nun, vermutlich muss man es selbst erlebt haben.«

Petrowski und sein Lächeln. Marino konnte es nicht deuten und wusste nur, dass der Typ ziemlich verklemmt war. Das galt heutzutage für die meisten Computerprofis, mit Ausnahme von Lucy. Und die war in letzter Zeit gar nicht gut drauf. Er sah auf die Uhr und fragte sich, wie sie und Berger wohl mit Hap Judd zurechtkamen, während Petrowski einige Bilder nebeneinander an der Datenwand anordnete. Die Tätowierung am Hals des Mannes mit der FedEx-Mütze wurde der Tätowierung mit den vier Totenschädeln und dem Satz In Vino Veritas gegenübergestellt.

»Nein.« Marino trank noch einen Schluck von dem schwarzen kalten Kaffee. »Bei genauerer Betrachtung besteht nicht die geringste Ähnlichkeit.«

»Genau das habe ich Ihnen ja zu erklären versucht.«

»Mir ging es um die Umstände. Zum Beispiel, wo er sich die Tätowierung hat stechen lassen. Wenn wir eine mit dem gleichen Motiv finden würden, könnte ich den Tätowierer aufspüren und ihm das Foto von dem FedEx-Menschen zeigen«, erwiderte Marino.

»Sie ist nicht in der Datenbank gespeichert«, entgegnete Petrowski. »Jedenfalls nicht unter diesen Suchbegriffen. Weder unter Sarg noch unter gefallener Kamerad, Irak oder sonst irgendwas, das wir ausprobiert haben. Wir brauchen einen Namen, ein Ereignis, einen Ort, eine Landkarte, weitere Informationen eben.«

»Was ist mit der Datenbank des FBI?«, schlug Marino vor. »Die haben doch ein neues, viele Milliarden Dollar teures System. Hab vergessen, wie es heißt.«

»NGI – Next Generation Identification. Befindet sich noch in der Entwicklung.«

»Aber soweit ich gehört habe, läuft es schon.« Das hatte Marino von Lucy.

»Wir sprechen hier von einer hochmodernen Technologie, deren Aufbau mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. Die Vorläufer wie IAFIS, CODIS und IPS, das gemeinsame Fotoarchiv aller Bundesstaaten, wurden bereits integriert. Wie weit sie damit sind, kann ich auch nicht sagen. Schließlich sind wir mitten in der Wirtschaftskrise, und überall wurden die Mittel gekürzt.«

»Jedenfalls sollen sie dort eine Datenbank mit Tätowierungen haben«, beharrte Marino.

»Ja klar.«

»Also würde ich vorschlagen, dass wir unser Netz ein bisschen weiter auswerfen und diesen Scheißkerl von FedEx landesweit oder sogar international suchen«, sagte Marino. »Wie ich annehme, haben Sie von hier aus keinen Zugriff auf die Datenbank des FBI, das NGI also.«

»Fehlanzeige. Wir sind nicht vernetzt. Doch ich kann ihnen Ihre Tätowierung rüberschicken. Kein Problem. Jetzt ist er nicht mehr auf der Brücke.« Petrowski meinte den Selbstmordkandidaten.

»Ein schlechtes Zeichen.« Marino blickte zum Bildschirm und stellte fest, dass er den großen Moment verpasst hatte. »Mist! Die Jungs vom Notfalleinsatzkommando sind noch da, aber er ist weg.«

»Da hätten wir ihn.«

Die Suchscheinwerfer der Hubschrauber glitten über den Selbstmörder hinweg, der weit entfernt unten auf der Fahrbahn lag. Er hatte den Sprungsack verfehlt.

»Das Rettungsteam wird ganz schön sauer sein«, fasste Petrowski die Situation zusammen. »Sie mögen es nämlich gar nicht, wenn so was passiert.«

»Was halten Sie davon, dem FBI das Foto von der Tätowierung zu schicken« – er betrachtete den angeblichen FedEx-Boten auf der Datenwand –, »während wir ein paar andere Suchbegriffe ausprobieren? FedEx. Oder FedEx-Uniform. FedEx-Mütze. Alles, was mit FedEx zu tun hat«, erwiderte Marino.

»Das wäre möglich.« Petrowski begann zu tippen.

Marino bemerkte, dass der Flachbildschirm schwarz geworden war. Die Videoübertragung aus dem Polizeihubschrauber war abgebrochen, denn der Selbstmörder lebte nicht mehr. Plötzlich hatte Marino einen Einfall, warum ihm der Mann so bekannt vorgekommen war. Ein Schauspieler, den er in irgendeinem Film gesehen hatte. Wie hieß er noch mal? Er hatte von einem Polizeipräsidenten gehandelt, der über eine Affäre mit einer Prostituierten gestolpert war. Wie zum Teufel lautete der Filmtitel? Marino hatte ihn vergessen. Das passierte in letzter Zeit häufiger.

»Kennen Sie diesen Film mit Danny DeVito und Bette Middler? Wissen Sie, welchen ich meine?«, fragte Marino.

»Keine Ahnung.« Petrowski beobachtete den Monitor und las die aufmunternde Botschaft: Ihre Suchanfrage wird bearbeitet. »Was hat denn ein Film mit Ihrem Fall zu tun?«

»Alles hängt miteinander zusammen. Ich dachte, das wäre der Sinn und Zweck dieses Ladens hier.« Marino deutete in den blauen Raum hinein.

Elf Suchergebnisse gefunden.

»Jetzt tut sich endlich was«, sagte Marino. »Kaum zu glauben, dass ich früher Computer und die Idioten, die damit arbeiten, gehasst habe.«

In der guten alten Zeit hatte Marino Rechner verabscheut und sich einen Spaß daraus gemacht, Leute, die sich damit auskannten, zu verspotten. Doch das war vorbei. Inzwischen war es für ihn eine Alltäglichkeit, wichtige Informationen auf dem Weg der sogenannten Link-Analyse herauszufinden und sie so schnell wie möglich weiterzuleiten. Es bereitete ihm Vergnügen, an einem Tatort zu erscheinen, in einer Sache zu ermitteln oder einen Beschwerdeführer zu befragen und bereits im Voraus zu wissen, ob die betreffende Person vorbestraft und wer das Opfer war, wie derjenige aussah, wie seine Freunde und Angehörigen hießen und ob er eine Gefahr für sich und andere bedeutete. Es war eine schöne neue Welt, meinte er häufig, wobei er auf ein Buch anspielte, das er nie gelesen hatte. Vielleicht würde er es ja irgendwann tun.

Petrowski projizierte Texte an die Datenwand. Berichte, die Körperverletzung, Raubüberfälle, eine Vergewaltigung und zwei Schießereien behandelten, in denen FedEx entweder wegen gestohlener Pakete, Äußerungen, beruflicher Tätigkeiten und in einem Fall aufgrund eines tödlichen Angriffs durch einen Pitbull eine Rolle gespielt hatte. Keiner dieser Berichte enthielt verwertbare Informationen, bis Marino auf eine Vorladung der Bußgeldstelle der öffentlichen Verkehrsbetriebe vom 1. August dieses Jahres stieß. Familienname, Vorname, die Adresse in Edgewater, New Jersey, Geschlecht, Hautfarbe, Größe und Gewicht waren aufgelistet.

»Was es nicht alles gibt. Schauen Sie, was ich entdeckt habe. Diese Frau hätte ich Sie nämlich als Nächstes überprüfen lassen«, verkündete er, während er die Schilderung des Vergehens las:

 

Die fragliche Person wurde dabei beobachtet, wie sie an der Kreuzung Southern Boulevard und East Hundred Fortyninth Street in einen Bus der New Yorker Verkehrsbetriebe stieg. Dort geriet sie in Streit mit einem Fahrgast, der, wie die Person behauptete, ihr den Sitzplatz weggenommen habe, worauf sie laut zu schreien anfing. Als der Polizist, der diesen Bericht verfasst hat, sich der Person näherte und sie aufforderte, still zu sein und sich zu setzen, antwortete sie: »Sie können Ihren Arsch per FedEx zur Hölle schicken, denn ich habe nichts getan. Dieser Typ da ist ein unhöflicher Mistkerl.«

 

»Ich bezweifle, dass sie eine Tätowierung mit Totenschädeln hat«, spöttelte Petrowski. »Die ist sicher nicht Ihr Mann mit dem Paket.«

»Scheiße, das ist wirklich unglaublich!«, begeisterte sich Marino. »Können Sie das für mich ausdrucken?«

»Sie sollten mal mitzählen, wie oft Sie pro Stunde das Wort Scheiße verwenden. Bei mir zu Hause würde sie das jedes Mal fünfundzwanzig Cent kosten.«

»Dodie Hodge«, sagte Marino. »Die beschissene Spinnerin, die bei CNN angerufen hat.«