20
Im siebten Stock des DNA-Gebäudes der Gerichtsmedizin standen Scarpetta, Lucy und Marino allein in einem Labor, das der Ausbildung zukünftiger Wissenschaftler diente. Hier wurden zwar keine Kriminalfälle untersucht, doch die Regeln für das Arbeiten in einem Reinraum galten trotzdem.
Die drei waren mit ihren Einweg-Schutzkitteln, Hauben, Überschuhen, Masken, Handschuhen und Schutzbrillen, die sie in einem Vorraum angezogen hatten, bis zur Unkenntlichkeit vermummt. Nach dem Umkleiden waren sie durch eine Luftschleuse in den sterilen Raum gegangen, der mit den neuesten Geräten – Hightech-Kram, wie Marino es nannte – ausgestattet war: Genom-Analysegeräte, Dampfsterilisator, Zentrifugen, Vortex-Mixer zur zellularen Diagnostik, Rotary Realtime Analyzer für die Genanalyse und Extraktionsroboter zur Handhabung großer Flüssigkeitsmengen wie zum Beispiel Blut. Marino lief unruhig hin und her, sodass seine Schutzkleidung raschelte wie Papier, zupfte an dem blauen Tyvek-Material und fummelte an Schutzbrille, Maske und Kopfbedeckung herum, die er als seine Duschhaube bezeichnete. Ständig musste er etwas zurechtrücken und beschwerte sich über die Verkleidung.
»Habt ihr schon mal versucht, eine Katze in Überschuhe zu stecken?« Seine Gesichtsmaske bewegte sich beim Sprechen. »Das Vieh würde wie wild herumspringen, um sie wieder loszuwerden. Und genau so fühle ich mich jetzt.«
»Ich habe als Kind weder Tiere gequält noch ins Bett gemacht«, entgegnete Lucy und griff nach einem winzigen USB-Kabel, das sie sterilisiert und eingewickelt hatte.
Vor ihr auf einer mit braunem Papier bedeckten Arbeitsfläche befanden sich zwei MacBooks, mit siebzigprozentigem Alkohol desinfiziert und in durchsichtiges Polypropylen eingehüllt, und der armbanduhrähnliche BioGraph, der am gestrigen Abend im Asservatenraum am Ende des Flurs auf DNA-Spuren überprüft worden war und nun berührt werden durfte. Lucy steckte das Kabel in den BioGraph und verband ihn mit einem der Laptops.
»Es ist, als stöpsle man einen iPod oder ein iPhone ein«, erklärte sie. »Eine Verbindung entsteht. Was haben wir denn da?«
Der Bildschirm wurde schwarz und forderte sie auf, einen Benutzernamen und ein Passwort einzugeben. Am oberen Bildschirmrand verlief eine lange Reihe von Nullen und Einsen, die Scarpetta als Binärcode erkannte.
»Wie seltsam«, sagte sie.
»Wirklich merkwürdig«, stimmte Lucy zu. »Das Ding will uns seinen Namen nicht verraten. Er ist in einem Binärcode verschlüsselt, was wohl abschreckend wirken und die Leute zum Aufgeben bewegen soll. Wenn man im Netz surft und auf so eine Seite stößt, hat man normalerweise nicht die Spur einer Ahnung, wo man gelandet ist. Und selbst wenn man es weiß, kommt man nur mit einer Autorisierung oder einem Generalschlüssel rein.«
Generalschlüssel war ihr beschönigender Ausdruck für hacken.
»Ich wette, diese als Binärcode verfasste Adresse wird sich nicht in einen Text mit dem Wortlaut ›BioGraph‹ verwandeln.« Lucy tippte etwas in das andere MacBook ein und öffnete eine Datei. »Denn sonst hätten es meine Suchmaschinen längst gefunden, weil sie auf Zahlenreihen, die Wörter oder Sequenzen repräsentieren, geeicht sind.«
»Mein Gott«, seufzte Marino. »Ich verstehe schon jetzt kein Wort mehr.«
Er war bereits ein wenig übellaunig gewesen, als Scarpetta ihn unten in der Vorhalle abgeholt und in den siebten Stock begleitet hatte. Die Bombe machte ihm zu schaffen. Das würde er ihr gegenüber zwar nie eingestehen, doch nach zwanzig Jahren brauchte er es nicht mehr auszusprechen. Marino war gereizt, weil er Angst hatte.
»Ich fange noch mal von vorn an und versuche, beim Sprechen die Lippen zu bewegen«, gab Lucy spitz zurück.
»Du trägst eine Maske. Also kann ich deine Lippen nicht sehen. Ich muss diese Haube abnehmen. Schließlich habe ich doch gar keine Haare. Mir wird heiß.«
»Dein kahler Schädel sondert Hautzellen ab«, erwiderte Lucy. »Wahrscheinlich staubt es in deiner Wohnung deshalb so. Diese angebliche Uhr ist dazu gedacht, sie an einen Laptop anzuschließen. Wegen der Mikro-USB-Buchse ist sie mit fast jedem Computer kompatibel. Vermutlich liegt das daran, dass auch noch andere Leute diese Uhren tragen und Daten sammeln, so wie Toni Darien. Also wollen wir den Binärcode in ASCII umwandeln.«
Sie tippte eine Reihe von Einsen und Nullen in das andere MacBook ein und bestätigte. Sofort wurde der Code zu einem Text, der Scarpetta zusammenzucken ließ. Ja, er machte ihr sogar Angst.
Caligula.
»War das nicht der römische Kaiser, der Rom angezündet hat?«, fragte Marino.
»Nein, das war Nero«, antwortete Scarpetta. »Caligula war ein noch üblerer Bursche, wahrscheinlich der psychisch gestörteste, lasterhafteste und sadistischste Kaiser in der Geschichte des Römischen Reiches.«
»Ich warte jetzt darauf, den Benutzernamen und das Passwort umgehen zu können«, sagte Lucy. »Um es einfach auszudrücken, ich habe die Website und die Daten im BioGraph entführt, damit die Programme auf meinem Server das Problem für uns lösen.«
»Ich habe mal einen Film über ihn gesehen«, erzählte Marino. »Er hat mit seinen Schwestern geschlafen und wohnte mit seinem Pferd in einem Palast. Vielleicht hatte er auch Sex mit dem Pferd. Ein fieser Bursche. Ich glaube, er war verkrüppelt.«
»Ein ziemlich beängstigender Name für eine Website«, erwiderte Scarpetta.
»Jetzt mach schon.« Lucy hatte keine Geduld mit dem Computer und den Programmen, die unbemerkt arbeiteten, um ihr Zugang zu den gewünschten Informationen zu verschaffen.
»Ich habe dich schon oft davor gewarnt, allein zu Fuß zu CNN und wieder nach Hause zu gehen«, wandte sich Marino an Scarpetta und dachte dabei an die Bombe und seine Erlebnisse in Rodman’s Neck. »Wenn du live im Fernsehen auftrittst, brauchst du einen Bodyguard. Vielleicht siehst du es jetzt endlich ein.«
Er war überzeugt, dass ihm das FedEx-Paket sofort verdächtig erschienen wäre, wenn er sie am gestrigen Abend nach Hause begleitet hätte. Nie hätte er zugelassen, dass sie es berührte. Marino fühlte sich für Scarpettas Sicherheit verantwortlich und übertrieb es manchmal ein wenig damit, was eigentlich ein Witz war, weil er sie selbst vor nicht allzulanger Zeit in die gefährlichste Situation ihres Lebens gebracht hatte.
»Caligula ist vermutlich der Name eines geschützten Projekts.« Lucy war mit dem anderen MacBook beschäftigt. »Das nehme ich wenigstens an.«
»Die Frage ist, was als Nächstes kommt«, sagte Marino zu Scarpetta. »Ich werde den Eindruck nicht los, dass da jemand nur Aufwärmübungen macht. Erst die singende Karte, die Benton gestern ins Bellevue geschickt wurde. Dann, keine zwölf Stunden später, die FedEx-Bombe mit einer Voodoo-Puppe. Mein Gott, hat das Ding gestunken! Bin neugierig, was Geffner davon hält.«
Geffner war Kriminaltechniker im Labor des NYPD in Queens.
»Ich habe ihn auf dem Weg hierher angerufen und ihn aufgefordert, sich an sein Mikroskop zu setzen, sobald die Einzelteile der Bombe bei ihm eintreffen.« Marino betrachtete seinen Ärmel aus blauem Papier, schob ihn mit einer in Latex gehüllten Hand hoch und sah auf die Uhr. »Wahrscheinlich arbeitet er schon daran. Verdammt, wir sollten ihn anrufen! Es ist schon fast zwölf Uhr mittags. Das Zeug hat nach heißem Asphalt, faulen Eiern und Hundescheiße gestunken wie ein völlig verdreckter Brandort. So als hätte jemand einen Brandbeschleuniger benutzt, um eine bescheuerte Latrine anzustecken. Ich hätte beinahe gekotzt, und dazu gehört schon einiges. Außerdem waren Hundehaare dabei. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Bentons Patientin, die Spinnerin, die dich bei CNN angerufen hat, fähig ist, so etwas zusammenzubasteln. Lobo und Ann fanden, dass derjenige gute Arbeit geleistet hat.«
Als ob die Herstellung einer Bombe, die jemandem die Hand abreißen oder noch Schlimmeres anrichten konnte, etwas Lobenswertes gewesen wäre.
»Wir sind drin«, verkündete Lucy.
Der schwarze Bildschirm mit dem Binärcode wurde mitternachtsblau. In der Mitte erschien das Wort CALIGULA in dreidimensional wirkenden, wie aus silberfarbenem Metall gegossenen Lettern. Die Schriftart kam Scarpetta bekannt vor, und ihr wurde flau im Magen.
»Gotham«, stellte Lucy fest. »Diese Schrift nennt man Gotham.«
Marinos Papierkittel raschelte, als er näher kam, um besser sehen zu können. Seine Augen hinter der Schutzbrille waren blutunterlaufen. »Gotham? Und wo bitte ist Batman?«, meinte er.
Der Bildschirm forderte Lucy auf, eine beliebige Taste zu drücken, um fortzufahren. Doch sie tat es nicht, sondern musterte weiter die Gotham-Schrift und fragte sich, was sie wohl zu bedeuten hatte.
»Einprägsam, praktisch, eine Alltagsschrift, wie man sie auf öffentlichen Schildern findet«, erklärte sie. »Eine Sans-Serif-Schrift, die man für Namen und Zahlen auf Schildern, Mauern, Gebäuden und dem Freedom-Tower-Eckstein sieht, wo früher das World Trade Center stand. Aber Gotham ist in letzter Zeit hauptsächlich wegen Obama bekannt geworden.«
»Ich hatte bis jetzt noch nie von einer Schrift namens Gotham gehört«, entgegnete Marino. »Allerdings habe ich auch keine Fachzeitschrift für Drucker abonniert und war noch nie auf einem gottverdammten Schriftarten-Kongress.«
»Gotham ist die Schrift, die Obamas Team während des Wahlkampfs verwendet hat«, erwiderte Lucy. »Außerdem solltest du besser auf Schriften achten. Wie oft habe ich dir das schon gepredigt? Schriften sind im einundzwanzigsten Jahrhundert ein unverzichtbarer Bestandteil der Analyse von Dokumenten. Ignorieren auf eigene Gefahr. Warum eine bestimmte Schrift benutzt wurde und weshalb sich jemand ausgerechnet dafür entschieden hat, kann sehr wichtig und aufschlussreich sein.«
»Weshalb ist diese Website in Gotham gehalten?« Scarpetta erinnerte sich an die ordentliche, ja, nahezu perfekte Handschrift auf dem Lieferschein des FedEx-Pakets.
»Keine Ahnung. Angeblich strahlt diese Schrift Glaubwürdigkeit aus«, antwortete Lucy. »Sie erweckt Vertrauen. Jemand will uns dazu bringen, diese Website ernst zu nehmen.«
»Allerdings ist der Name Caligula alles andere als vertrauenerweckend«, wandte Scarpetta ein.
»Gotham ist beliebt«, sagte Lucy. »Sie ist modern und soll einen positiv beeinflussen, damit man ein Produkt, einen Kandidaten oder vielleicht irgendein Forschungsprojekt positiv bewertet.«
»Oder ein gefährliches Paket«, fügte Scarpetta, plötzlich verärgert, hinzu. »Diese Schrift sieht der auf dem Paket, das ich letzte Nacht bekommen habe, ziemlich ähnlich, wenn sie nicht gar identisch ist. Wahrscheinlich hattest du keine Gelegenheit, dir den Karton anzuschauen, bevor er mit dem PAN-Disruptor beschossen wurde«, wandte sie sich an Marino.
»Wie ich schon sagte, befanden sich die Batterien, auf die gezielt wurde, direkt hinter dem Adressenaufkleber. Du hast mir erzählt, dass du darauf als Chefpathologin von Gotham City bezeichnet wurdest. Also wieder eine Anspielung auf Gotham, den Spitznamen von New York, wie die Stadt auch in den Batman-Filmen heißt. Stört es irgendjemanden außer mir, dass Hap Judd in einem Batman-Film mitgespielt hat und es mit Leichen treibt?«
»Warum sollte Hap Judd Tante Kay eine solche Bombe schicken?«
»Vielleicht weil der perverse Dreckskerl Hannah auf dem Gewissen hat? Möglicherweise hängt es auch mit Toni Darien zusammen, denn er war Gast im High Roller Lanes und ist ihr sicher zumindest begegnet. Doc Scarpetta hat Toni obduziert und könnte auch Hannahs Fall auf den Tisch bekommen.«
»Und indem Hap Judd Tante Kay eine Bombe schickt, verhindert er, dass man ihm auf die Schliche kommt, falls Hannahs Leiche entdeckt wird? Hast du das gemeint?« Lucy redete, als wäre Scarpetta nicht mehr im Labor anwesend. »Damit will ich nicht behaupten, dass dieses Arschloch Hannah nicht umgebracht hat oder dass er nicht weiß, wo sie ist.«
»Ja, dieser Typ und sein Verhältnis zu Leichen«, erwiderte Marino. »Besonders interessant wird es, da wir mittlerweile herausgefunden haben, dass sie erst einige Tage nach ihrem Tod abgelegt wurde. Ich frage mich, wo sie in der Zwischenzeit war und wer sich mit ihr vergnügt hat. Bestimmt hat er das tote Mädchen in der Krankenhaus-Kühlkammer gevögelt. Was sonst hätte er eine Viertelstunde da drin machen sollen? Außerdem hatte er beim Rauskommen nur noch einen Handschuh an.«
»Aber ich glaube nicht, dass er Tante Kay eine Bombe hat bringen lassen, um sie einzuschüchtern, damit sie die Finger von diesem oder irgendeinem anderen Fall lässt. Das wäre doch Schwachsinn«, widersprach Lucy. »Und die Gotham-Schrift hat sicher nichts mit Batman zu tun.«
»Möglicherweise doch, wenn der Betreffende Spaß an perversen Spielchen hat«, protestierte Marino.
Der Odem von Feuer und Schwefel. Die Bombe wollte Scarpetta nicht mehr aus dem Kopf. Eine Stinkbombe. Eine neue Art von schmutziger Bombe. Eine Bombe, um die Seele zu verletzen. Fest stand, dass der Urheber Scarpetta und Benton kannte und mit ihrer Vergangenheit beinahe so gut vertraut war wie sie selbst. Spielchen, dachte sie. Perverse Spielchen.
Lucy drückte auf die »Zurück«-Taste. Das Wort CALIGULA verschwand und wurde von einem Text ersetzt:
Willkommen, Toni
Dann:
Möchten Sie Daten aktualisieren? Ja/Nein
Lucy antwortete mit Ja. Die nächste Botschaft lautete:
Toni, Ihre Daten sind drei Tage überfällig. Möchten Sie die Fragen jetzt beantworten? Ja/Nein
Wieder klickte Lucy auf Ja. Der Text auf dem Bildschirm verblasste und wurde von einem anderen abgelöst:
Bitte bewerten Sie, wie treffend die folgenden Adjektive Ihre heutigen Gefühle beschreiben.
Darauf folgten Auswahlmöglichkeiten wie euphorisch, verwirrt, zufrieden, glücklich, ärgerlich, begeistert und unternehmungslustig. Jede Frage wurde von einer Fünf-Punkte-Skala begleitet, die von 1 für »trifft kaum zu« bis 5 für »trifft stark zu« reichte.
»Wären die Daten nicht auf Tonis Laptop, wenn sie täglich solche Fragen beantwortet hat?«, gab Marino zu bedenken. »Vielleicht ist der Laptop ja deshalb verschwunden.«
»Nein, auf dem Laptop wären sie nicht. Was du hier siehst, existiert nur auf dem Server dieser Website«, sagte Lucy.
»Aber sie hat die Uhr doch mit dem Laptop verbunden«, wandte Marino ein.
»Ja, um neue Informationen zu speichern und sie aufzuladen«, entgegnete Lucy. »Die Daten, die dieses uhrenähnliche Gerät gesammelt hat, waren nicht für sie bestimmt und befanden sich deshalb sicher nicht auf ihrem Laptop. Sie hätte nicht nur keine Verwendung dafür gehabt, sondern besaß auch nicht die Software, um sie sinnvoll auszuwerten.«
Lucy wurde am Bildschirm mit weiteren Fragen überhäuft und beantwortete sie, weil sie sehen wollte, was als Nächstes passieren würde. Ihre Stimmungslage bewertete sie stets mit »trifft kaum oder gar nicht zu«. Scarpetta hätte an ihrer Stelle vermutlich »trifft stark zu« angeklickt.
»Ich weiß nicht so recht«, ergriff Marino wieder das Wort. »Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass dieses Caligula-Projekt die Erklärung dafür ist, warum jemand in ihrer Wohnung war und Laptop, Telefon und womöglich noch andere Gegenstände mitgenommen hat.« Durch seine Schutzbrille betrachtete er Scarpetta. »Aus den Aufnahmen der Überwachungskamera geht nicht eindeutig hervor, dass es Toni selbst war, da hast du absolut recht. Es war eine Person, die einen ähnlichen Mantel trug, wie sie einen hatte. Das ist nicht weiter schwer, wenn man etwa die gleiche Größe hat und ähnliche Turnschuhe anzieht. Toni war nicht zierlich. Sie war zwar schlank, aber groß, ungefähr eins zweiundsiebzig, richtig? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gestern Abend gegen sieben das Haus betreten und es gegen acht wieder verlassen hat. Deiner Ansicht nach ist sie seit Dienstag tot. Und jetzt bestätigt dieses Caligula-Ding offenbar deine Vermutung. Sie hat drei Tage lang ihren Fragebogen nicht ausgefüllt.«
»Wenn es stimmt, dass sich jemand verkleidet hat, um die Überwachungskameras auszutricksen«, merkte Lucy an, »muss derjenige ihren Mantel oder einen nahezu identischen und außerdem ihren Wohnungsschlüssel gehabt haben.«
»Sie war seit mindestens sechsunddreißig Stunden tot«, stellte Scarpetta fest. »Wenn sie bei ihrer Ermordung den Wohnungsschlüssel in der Tasche hatte und der Täter ihre Adresse kannte, war es kein Problem für ihn, sich in die Wohnung zu schleichen, alles Mögliche von dort zu entfernen und den Schlüssel zurück in ihre Tasche zu stecken, bevor er die Leiche im Park entsorgt hat. Die Person könnte auch ihren Mantel gehabt haben. Vielleicht hatte sie ihn ja an, als sie gestern aus dem Haus ging. Das würde erklären, warum sie nicht warm genug angezogen war, als ihre Leiche gefunden wurde. Einige Kleidungsstücke könnten gefehlt haben.«
»Das hört sich nach viel Arbeit und einem hohen Risiko an«, meinte Lucy. »Der Mörder hat seine Tat offenbar nicht sehr gut geplant. Es macht fast den Eindruck, als hätte er nicht davor, sondern erst anschließend gründlich nachgedacht. Ob wir es mit einer Tat im Affekt zu tun haben und der Mörder aus ihrem Bekanntenkreis stammt?«
»Falls sie im Kontakt mit ihm stand, könnte das der Grund sein, warum Laptop und Telefon verschwunden sind.« Marino ließ sich nicht von seinem Thema abbringen. »SMS auf dem Telefon. Wenn du es endlich schaffst, dir ihre E-Mails anzuschauen, wirst du möglicherweise feststellen, dass sie diesen Caligula-Leuten Mails geschickt hat. Ihr Computer könnte auch belastendes Material enthalten.«
»Warum hat der Täter dann den Biograph an ihrer Leiche gelassen?«, gab Lucy zurück. »Damit läuft er doch Gefahr, dass jemand genau das tut, was wir gerade hier machen.«
»Vielleicht wollte der Mörder ihren Computer und ihr Telefon einfach nur haben«, sagte Scarpetta. »Es müssen nicht notwendigerweise vernünftige Gründe dahinterstecken. Und deshalb hat er auch darauf verzichtet, den BioGraph von ihrer Leiche zu entfernen.«
»Es gibt immer einen Grund«, widersprach Marino.
»Jedoch nicht die Art von Grund, die du meinst. Womöglich handelt es sich um eine andere Form von Verbrechen«, widersprach Scarpetta und musste dabei an ihr BlackBerry denken.
Sie hatte lange über die Motive für den Diebstahl nachgegrübelt und den Eindruck gewonnen, dass sie sich, was Carley Crispins Pläne mit ihrem BlackBerry betraf, geirrt hatte. Es ging nicht nur um Carleys Bemerkung am Columbus Circle auf dem Heimweg von CNN: »Ich wette, Sie mit Ihren Beziehungen könnten jeden zu allem überreden.« Als habe sie damit andeuten wollen, Scarpetta hätte keine Mühe gehabt, Gäste in ihre Fernsehsendung zu locken, vorausgesetzt, dass sie eine hatte. Daraus hatte Scarpetta ein Motiv für den Diebstahl ihres Smartphones konstruiert. Sie hatte angenommen, dass Carley interessiert an Informationen und an ihren Kontakten war. Vielleicht hatte sie wirklich die Gelegenheit genutzt, um sich die Fotos vom Fundort zu beschaffen. Doch letztlich war das BlackBerry vermutlich weder für Carley oder gar Agee bestimmt gewesen, sondern für eine dritte Person. Für einen Menschen, der böse und gerissen war. Zuletzt hatte sich das Telefon in Agees Besitz befunden. Es konnte durchaus sein, dass er es an jemand anderen weitergereicht hätte, wäre er nicht vorher von der Brücke gesprungen.
»Wenn jemand einen Mord begeht und an den Tatort zurückkehrt, dann nicht zwingend deshalb, weil er an Verfolgungswahn leidet und seine Spuren verwischen will«, erklärte Scarpetta. »Manchmal tut er es auch, um seine Gewalttat, die er als befriedigend empfunden hat, noch einmal Revue passieren zu lassen. Vielleicht gibt es ja in Tonis Fall mehr als ein Motiv. Ihr Laptop und ihr Telefon sind Souvenirs und haben es dem Täter außerdem ermöglicht, sich als sie auszugeben, bevor ihre Leiche gefunden wurde. Indem er in ihrem Namen gegen acht Uhr am Mittwochabend mit ihrem Telefon eine SMS an ihre Mutter geschickt hat, konnte er uns, was den Todeszeitpunkt betrifft, auf eine falsche Fährte locken. Hier geht es um Manipulation, Spielchen und Phantasien, Triebe, Gefühle, Sexualität und Sadismus. So ein Motivationsmix kann zu üblen Widersprüchen führen. Wie so vieles im Leben. Jedenfalls stecken verschiedene Beweggründe dahinter.«
Inzwischen hatte Lucy den Stimmungsfragebogen vollständig ausgefüllt. Auf dem Bildschirm erschien ein Kästchen mit der Aufschrift Abschicken. Lucy klickte es an und erhielt die Bestätigung, dass ihr kompletter Fragebogen erfolgreich an die Website versendet worden war, wo man ihn überprüfen würde. Wer würde ihn überprüfen?, überlegte Scarpetta. Der Betreiber einer Studie, der Psychologe war, ein Psychiater, ein Neurowissenschaftler, ein Forschungsassistent, ein Doktorand? Wer zum Teufel konnte das wissen? Doch es waren sicher mehrere Personen beteiligt. Vermutlich ein ganzes Gremium. Jeder konnte zu diesen unsichtbaren Forschern gehören, und der Standort des Instituts konnte überall und nirgends sein. Offenbar handelte es sich um ein Projekt, das die Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens untersuchen sollte. Und bestimmt plante jemand, von den Ergebnissen zu profitieren.
»Es ist ein Akronym«, verkündete Lucy.
Auf dem Bildschirm war der folgende Text zu lesen:
DANKE FÜR IHRE TEILNAHME AN DER CALCULATED INTEGRATION OF GPS UPLOADED LIGHT AND ACTIVITY STUDY
Also handelte es sich anscheinend um eine Studie, die die Zusammenhänge zwischen menschlicher Aktivität und Lichtverhältnissen erforschte und den Tagesablauf der Probanden per GPS verfolgte.
»CALIGULA«, sagte Scarpetta. »Ich begreife immer noch nicht, warum sich jemand so ein Akronym aussucht.«
»Der Mann litt an chronischen Albträumen und Schlaflosigkeit.« Lucy studierte auf dem anderen MacBook verschiedene Dateien, die das Thema Caligula behandelten. »Die ganze Nacht lief er in seinem Palast auf und ab und wartete darauf, dass die Sonne aufging. Deshalb wahrscheinlich der Name. Wenn sich die Studie zum Beispiel mit Schlafstörungen und den Auswirkungen von Licht und Dunkelheit auf die Stimmung befasst, passt er. Übrigens ist sein Name von dem lateinischen Wort caliga abgeleitet, was ›kleine Sandale‹ bedeutet.«
»Und dein Name bedeutet ›kleiner Schuh‹«, wandte sich Marino an Scarpetta.
»Kommt schon, Jungs«, feuerte Lucy ihre Netzwerkprogramme und Suchmaschinen mit leiser Stimme an. »Die Sache wäre viel einfacher, wenn ich das Ding mit in mein Büro nehmen könnte.« Sie meinte den BioGraph.
»Dass Scarpetta auf Italienisch ›kleiner Schuh‹ heißt, steht überall im Internet«, fuhr Marino fort. Sein Blick hinter der dicken Plastikbrille wirkte besorgt.
»Endlich tut sich etwas«, verkündete Lucy.
Daten – ein Gewirr aus Buchstaben, Symbolen und Ziffern – liefen über den Bildschirm.
»Mich würde interessieren, ob Toni genau wusste, was dieses Ding, das sie rund um die Uhr am Handgelenk trug, alles aufgezeichnet hat«, merkte Lucy an. »Oder ob der Mörder darüber im Bilde war.«
»Ich denke, sie war ahnungslos«, erwiderte Scarpetta. »Die Einzelheiten der Theorie, die der Betreiber einer Studie zu beweisen versucht, sind geheim und werden niemals öffentlich herumposaunt. Selbst die Probanden erfahren nichts Genaues, sondern nur Allgemeinplätze, um das Ergebnis nicht zu verfälschen.«
»Toni hat sich bestimmt etwas davon versprochen«, stellte Marino fest. »Immerhin musste sie dauernd mit dieser Uhr herumlaufen und jeden Tag einen Fragebogen ausfüllen.«
»Vielleicht war sie ja persönlich von Schlafstörungen oder jahreszeitbedingten Stimmungsschwankungen betroffen und hat eine Anzeige gesehen, in der Probanden gesucht wurden. Oder jemand hat ihr einen Tipp gegeben. Ihre Mutter sagte, sie sei bei trübem Wetter launisch und niedergeschlagen gewesen«, entgegnete Scarpetta. »Außerdem werden die Teilnehmer an einer Studie normalerweise bezahlt.«
Sie dachte an den Vater Lawrence Darien und seinen erbitterten Kampf um Tonis persönliche Habe und ihre Leiche. Ein Bioelektrik-Ingenieur vom MIT. Ein Spieler und Trinker mit Kontakten zum organisierten Verbrechen, der in der Gerichtsmedizin eine Szene gemacht hatte. Vielleicht war er hinter dem BioGraph her gewesen.
»Unglaublich, was in diesem Ding alles gespeichert ist.« Lucy zog sich einen Hocker vor einen ihrer MacBooks und studierte die Rohdaten in Tonis BioGraph. »Offenbar eine Kombination aus Actigraphy-Datenanalyse-Software mit einem hochempfindlichen Beschleunigungsmesser in einem zweischichtigen piezoelektrischen Sensor, der, kurz gesagt, die grobmotorischen Aktivitäten misst. Ich kann nichts erkennen, was mit dem Militär oder einem Geheimdienst zusammenhängt.«
»Was hast du erwartet?«, erkundigte sich Marino. »Dass die CIA dahintersteckt?«
»Jedenfalls nicht so etwas. Nichts ist so verschlüsselt, wie ich es gewohnt bin, wenn die Regierung es als streng geheim einstuft. Wir haben es hier nicht mit den üblichen Drei-Block-Zifferncodes mit Byte-Blocklänge zu tun, die für Algorithmen stehen, wie man sie bei symmetrischen Verschlüsselungscodes verwendet. Ihr kennt doch diese ellenlangen Zahlenreihen von mehr als vierzig Bit, die es Hackern ziemlich erschweren, den Code zu knacken. Das da ist etwas anderes. Diese Daten stammen nicht vom Militär oder irgendeinem Geheimdienst, sondern aus der Privatwirtschaft.«
»Wahrscheinlich sollten wir besser nicht nachfragen, woher du weißt, wie die Regierung streng geheime Informationen verschlüsselt«, merkte Marino an.
»Der Sinn und Zweck dieses Dings ist es, Daten für ein Forschungsprojekt zu sammeln, nicht jemanden auszuspionieren oder Krieg zu führen. Ausnahmsweise geht es einmal nicht um Terrorismus«, erwiderte Lucy, während die Daten weiterliefen. »Die Informationen sind nicht für den Endverbraucher, sondern für Wissenschaftler bestimmt. Irgendwo da draußen sitzen ein paar Computerfreaks und werten sie aus. Aber in wessen Auftrag? Schlafrhythmus, Schlafdauer, Aktivitäten tagsüber, Zusammenhang mit dem Tageslicht. Los, ordne das Zeug in eine Reihenfolge, aus der ich schlau werde.« Wieder sprach sie mit ihren Programmen. »Ich will Tabellen. Ich will Karten. Das System sortiert nach Datentypus. Es sind eine ganze Menge Daten. Tonnen davon. Das Gerät speichert alle fünfzehn Sekunden ab. Das heißt, fünftausendsiebenhundertsechzigmal pro Tag hat dieses Ding der Himmel weiß wie viele Datentypen gesammelt. GPS und Schrittmesser. Örtlichkeiten. Geschwindigkeit. Distanz. Höhe und außerdem die Körperfunktionen der Benutzerin wie Herzfrequenz und Sauerstoffgehalt des Blutes.«
»Sauerstoffgehalt des Blutes? Du musst dich irren«, wunderte sich Scarpetta.
»Ich lese gerade ihre Sauerstoffwerte«, entgegnete Lucy. »Hunderttausende davon, alle fünfzehn Sekunden aufgezeichnet.«
»Aber das ist doch unmöglich«, widersprach Scarpetta. »Wo ist der Sensor? Um den Sauerstoffgehalt des Blutes zu messen, braucht man einen Sensor. Normalerweise bringt man ihn an der Fingerspitze, an einem Zeh oder am Ohrläppchen an. Es muss eine dünne Körperstelle sein, damit der Lichtstrahl das Bindegewebe durchdringen kann. Dazu verwendet man ein Licht, das sowohl rote als auch infrarote Wellenlängen enthält, und bestimmt so den Prozentsatz des Sauerstoffgehalts im Blut.«
»Der BioGraph hat Bluetooth-Funktion«, erwiderte Lucy. »Vielleicht gilt das auch für das Sauerstoffmessgerät.«
»Ganz gleich, ob drahtlos oder nicht, diese Daten können nur von einem Sensor stammen«, entgegnete Scarpetta. »Und zwar von einem, den sie Tag und Nacht trug.«
Ein roter Laserpunkt wanderte über Namen und Orte und die Äste, die sie auf der baumähnlichen Graphik auf dem Flachbildschirm miteinander verbanden.
»Gehen Sie einmal davon aus, dass Monsieur Chandonne, der Vater, seine Macht verloren hat.« Beim Reden wies Benton mit dem Laserpointer auf die entsprechende Stelle. »Die restliche Familie hat sich in alle Winde zerstreut. Er und einige seiner hochrangigen Untergebenen sitzen im Gefängnis. Jean-Baptistes Bruder, der designierte Thronfolger, ist tot. Unterdessen haben unsere Verbrechensbekämpfungsbehörden den Großteil ihrer Aufmerksamkeit auf internationale Konflikte gerichtet. Al-Qaida, Iran, Nordkorea und die globale Wirtschaftskrise. Jean-Baptiste, der überlebende Bruder, nutzt die Gelegenheit, um die Macht zu übernehmen, ein neues Leben anzufangen und es diesmal besser zu machen.«
»Wie will er das anstellen?«, fragte O’Dell. »Der Mann ist geisteskrank.«
»Er ist nicht geisteskrank«, gab Benton zurück. »Sondern hochintelligent, und er hat einen ausgesprochen guten Instinkt. Deshalb kann sein Verstand die Zwänge und Triebe eine Zeitlang in Schach halten. Der springende Punkt ist nur, wie lange er das durchhält.«
»Verzeihung, dass ich Ihnen widerspreche«, sagte O’Dell zu Benton. »Dieser Kerl als Mafiaboss? Er müsste sich einen Sack über den Kopf stülpen, wenn er auf die Straße will. Immerhin wird er weltweit gesucht. Interpol hat ihn in Kategorie Rot eingestuft, und außerdem ist der Kerl entstellt, ein Krüppel.«
»Sie können widersprechen, bis Sie schwarz werden. Sie kennen ihn nämlich nicht«, beharrte Benton.
»Und dazu noch seine Krankheit«, fuhr O’Dell fort. »Hab vergessen, wie die heißt.«
»Ererbte allgemeine Hypertrichose«, antwortete Marty Lanier. »Menschen, die an dieser sehr seltenen Erkrankung leiden, haben ein Übermaß an Lanugohaaren, das ist ein feiner Haarflaum, am ganzen Körper, auch an Stellen, die normalerweise kaum oder gar nicht behaart sind wie die Stirn, die Handrücken und die Ellbogen. Außerdem treten häufig weitere Deformierungen auf. Zum Beispiel eine Hyperplasie des Kiefers, das heißt winzige, weit auseinanderstehende Zähne.«
»Wie ich schon sagte, ein Krüppel, der wie ein gottverdammter Werwolf aussieht«, wandte sich O’Dell an die anderen Anwesenden. »Vermutlich hat die Legende ihren Ursprung bei Menschen, die diese Krankheit haben.«
»Er ist weder ein Werwolf, noch handelt es sich bei seinem Zustand um ein Gräuelmärchen. Der Mann ist keine Legende, sondern sehr real«, erwiderte Benton.
»Wir haben keine Ahnung, wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat«, fügte Lanier hinzu. »Es müssen zwischen fünfzig und hundert Fälle weltweit sein. Allerdings wurden nur wenige der Verbrechen angezeigt.«
»Wobei ›angezeigt‹ das Schlüsselwort ist«, ergänzte Jaime Berger. Sie wirkte bedrückt. »Eine Dunkelziffer kann man nämlich nicht zählen. Hinzu kommt, wie Sie sicher wissen, dass Hypertrichose mit Vorurteilen behaftet und stigmatisiert ist und man die Kranken allgemein für bösartige Ungeheuer hält.«
»Und wenn man einen Menschen dementsprechend behandelt, entwickelt er sich möglicherweise gemäß dieser Erwartungen«, stimmte Lanier zu.
»Früher haben Familien Angehörige, die Opfer dieser Krankheit waren, weggesperrt, und Jean-Baptiste bildete da keine Ausnahme«, sprach Benton weiter. »Er ist in einem Keller aufgewachsen, einem unterirdischen fensterlosen Verlies im Haus der Familie Chandonne, das aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt und auf der Isle Saint-Louis in Paris steht. Möglicherweise hat er das Gen von einem Vorfahren geerbt, der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts lebte, von Kopf bis Fuß behaart war und als Kind König Henri II. in Paris als Geschenk überreicht wurde. Er wuchs als Kuriosität im königlichen Palast auf und wurde zum Amüsement wie ein Haustier gehalten. Später heiratete dieser Mann eine Französin, und einige ihrer Kinder erbten die Krankheit. Im späten achtzehnten Jahrhundert wurde eine seiner Nachfahrinnen Ehefrau eines Mannes namens Chandonne. Und einhundert Jahre später verwandelte sich das rezessive Gen in ein dominantes und zeigte sich bei Jean-Baptiste.«
»Worauf ich hinauswill«, meinte O’Dell, »ist, dass die Leute beim Anblick eines solchen Menschen normalerweise schreiend die Flucht ergreifen. Wie also konnte Jean-Baptiste von seinem Familiensitz in Paris aus ein Verbrechersyndikat betreiben?«
»Wir wissen nicht, wo Jean-Baptiste wohnt«, entgegnete Benton. »Und wir können auch nicht sagen, womit er die letzten fünf Jahre verbracht hat. Wir haben ja nicht einmal eine Ahnung davon, wie er heute aussieht. Haarentfernung mit dem Laser, Zahnprothesen, plastische Chirurgie. Die Medizin hat inzwischen große Fortschritte gemacht. Also haben wir keinen blassen Schimmer, wie er sich seit seiner Flucht aus dem Todestrakt verändert hat. Fest steht nur, dass Sie seine DNA in Miami auf dem Rücksitz eines gestohlenen Mercedes sichergestellt haben. Und das wiederum ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass er in die von Jerome Wild und Dodie Hodge verübten Banküberfälle verwickelt sein muss. Die beiden letzteren Personen haben Verbindungen in Detroit. Also hat Jean-Baptiste vermutlich auch Kontakte dort. Ebenso wie in Miami und New York.«
»Zur Glücksspielbranche«, stellte Lanier fest. »Und vielleicht auch zur Filmindustrie.«
»Die Familie Chandonne mischt überall mit, solange es sich nur finanziell lohnt«, bestätigte Benton. »Showgeschäft, Glücksspiel, Prostitution, Drogen, illegaler Waffenhandel, Markenpiraterie. Jean-Baptiste ist mit sämtlichen Geschäftszweigen, die man gemeinhin dem organisierten Verbrechen zuordnet, gut vertraut. Er hat es von Kindesbeinen an gelernt, und es liegt ihm im Blut. Dank seiner familiären Beziehungen hatte er fünf Jahre Zeit, ein einflussreiches Netzwerk an sich zu bringen. Außerdem ist er vermögend. Also hat er an seinem Plan gefeilt. Doch um eine Operation größeren Ausmaßes in die Tat umzusetzen, braucht man Helfer. Er musste also Truppen anwerben. Und wenn er die Familie Chandonne wieder zum alten Verbrecherruhm führen, ein Imperium aufbauen und ein neues Leben anfangen wollte, war dazu eine Menge Personal notwendig. Allerdings war vorauszusehen, dass er sich die falschen Leute aussucht. Einem Menschen, der als Kind missbraucht wurde, der psychopathologische Züge aufweist und der eine Reihe schwerer Gewaltverbrechen begangen hat, fehlen die Eigenschaften, die eine kluge und erfolgreiche Führungspersönlichkeit auszeichnen. Er kann sich nicht unbegrenzt verstellen, denn seine eigentlichen Antriebsfedern sind sexuelle Gewaltphantasien und Rachegelüste.«
Die Wurzel des Baumdiagramms an der Wand symbolisierte Jean-Baptiste. Sein Name stand in der Mitte des Bildschirms. Die Namen aller übrigen Beteiligten zweigten direkt oder indirekt davon ab.
»Wir wissen, dass Dodie Hodge und Jerome Wild mit ihm in Kontakt stehen.« Als Benton den Laserstrahl bewegte, glitt der rote Punkt zu den entsprechenden Namen.
»Wir sollten auch Hap Judd aufführen«, schlug Berger vor. Ihre Haltung hatte sich geändert, und sie wirkte auf einmal sehr ernst. »Er hat Verbindung zu Dodie, obwohl er abstreitet, noch etwas mit ihr zu tun zu haben.«
Benton konnte sich nicht erklären, warum Berger sich plötzlich so seltsam verhielt. Während sich alle einen Kaffee geholt hatten, hatte sie sich an einen Schreibtisch gesetzt und am Festnetzanschluss telefoniert. Seitdem war sie ziemlich still geworden, hatte nichts mehr eingebracht, nicht widersprochen und auch aufgehört, Lanier über den Mund zu fahren. Benton hatte den Eindruck, dass es nicht um Zuständigkeitsgerangel und die Frage ging, wer gegen wen die Anklage vertreten würde. Jaime Berger machte vielmehr den Eindruck, als hätte sie eine Niederlage einstecken müssen und sei nun völlig erschöpft.
»Eine Weile hat Hap sich angeblich von ihr spirituell beraten lassen«, meinte Berger nun mit schleppender Stimme. »Das hat er zumindest bei der Vernehmung heute Morgen angegeben. Sie sei eine Landplage, die ständig in seinem Büro in New York anriefe, weshalb er nach Möglichkeit einen Bogen um sie mache.«
»Wie hat er Dodie kennengelernt?«, erkundigte sich Lanier.
»Offenbar hat sie auch Hannah Starr spirituell beraten und ihr die Zukunft vorhergesagt«, antwortete Berger. »Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Erstaunlich viele Prominente und wohlhabende Personen des öffentlichen Lebens, selbst Politiker, wenden sich an sogenannte Hellseher, Hexen, Zauberer und Propheten, von denen die meisten Scharlatane sind.«
»Nur dass der Großteil von ihnen vermutlich keine Banken überfällt«, fügte Stockman hinzu.
»Sie würden sich wundern, was viele dieser Leute sonst noch so treiben«, sprach Berger weiter. »Diebstahl, Erpressung und Betrug scheinen in der Branche weit verbreitet zu sein.«
»War Dodie Hodge jemals in der Villa Starr in der Park Avenue?«, fragte Lanier Berger.
»Laut Hap ja.«
»Halten Sie Hap für einen Verdächtigen im Fall Hannah Starr?«, wollte O’Dell wissen. »Könnte er darüber im Bilde sein, wo sie steckt, oder etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben?«
»In meinen Augen ist er derzeit der wichtigste Verdächtige«, erwiderte sie. Sie klang überarbeitet, beinahe geistesabwesend oder niedergeschlagen.
Allerdings war der Grund ganz sicher nicht Müdigkeit. »Hap Judds Name gehört wegen Dodie und Hannah an die Wand.« Berger ließ den Blick über die Runde schweifen, ohne jemanden wirklich anzusehen, so als hielte sie ein Plädoyer vor Geschworenen. »Außerdem der von Toni Darien. Immerhin hat er Kontakt zum High Roller Lanes und sicher auch zu Eddie Maestro. Das Park General Hospital in Harlem, nicht weit entfernt von der Stelle an der Hundred-tenth Street, wo Tonis Leiche gefunden wurde, sollten wir ebenfalls aufführen.«
Weitere Äste auf dem Flachbildschirm: Hannah Starr, verbunden mit Hap Judd und Dodie und indirekt auch mit Jerome Wild. Alle waren wiederum mit Toni Darien, dem High Roller Lane und dem Park General Hospital verknüpft, und die Linie führte zurück zu Jean-Baptiste. Berger schilderte Haps frühere Tätigkeit in dem Krankenhaus in Harlem und berichtete von der jungen Frau namens Farrah Lacy, die dort gestorben war. Dann wandte sie sich wieder Haps Bekanntschaft mit den Starrs, seinen Besuchen in der Villa in der Park Avenue – mindestens ein Mal zum Abendessen und mehrere Male zu einem Schäferstündchen – zu. O’Dell unterbrach sie mit dem Einwand, Rupe Starr hätte niemals einen zweitklassigen Schauspieler umworben, der höchstens eine halbe Million Dollar investieren konnte.
»Dicke Fische wie Rupe«, erklärte O’Dell, »reden nicht einmal mit einem, wenn man ihnen nicht das Vielfache dieser Summe in die Hand drückt.«
»Es war etwa ein Jahr vor Rupe Starrs Tod«, erwiderte Berger. »Damals war Hannah schon mit Bobby Fuller verheiratet.«
»Vielleicht hat die Familie ja versucht, den Boss auszubooten und den Laden selbst zu übernehmen«, schlug Stockman vor.
»Ich weiß, Sie haben Hannahs Finanzen überprüft«, sagte Berger, womit sie das FBI an sich meinte. »Und zwar aufgrund von Informationen, die Lucy und ich entdeckt und an Sie weitergeleitet haben.«
Als ob allgemein bekannt gewesen wäre, wer Lucy war und, noch viel wichtiger, was sie Berger bedeutete.
»Wir sind auf viele Kontenbewegungen in einer ganzen Reihe von Banken, sowohl hier als auch im Ausland, gestoßen«, verkündete Stockman. »Es fing vor etwa zwei Jahren an. Nach Rupe Starrs Tod im letzten Mai war dann der Großteil des Geldes plötzlich weg.«
»Hap behauptet, er sei am Abend vor Thanksgiving in New York gewesen, dem Tag, an dem Hannah verschwand. Am nächsten Morgen sei er nach L. A. geflogen. Wir sollten uns einen Durchsuchungsbeschluss für seine Wohnung in TriBeCa besorgen. Es duldet keinen Aufschub. Angeblich haben Hannah und Bobby kein einziges Mal miteinander geschlafen«, fuhr Berger, ohne die gewohnte Festigkeit in der Stimme, fort. Auch von ihrem trockenen Humor fehlte jede Spur. »Das waren seine Worte, nicht meine.«
»Da lachen ja die Hühner«, höhnte O’Dell. »Das ist die älteste Ausrede der Welt. Im Ofen brennt kein Feuer, also muss man sich anderswo wärmen.«
»Hannah Starr war eine Partylöwin, trieb sich mit einer bunten Truppe herum und feierte mit den Reichen und Berühmten hier und im Ausland. Zu Hause in der Villa war sie praktisch nie«, fuhr Berger fort. »Sie liebte es, im Rampenlicht zu stehen, und fühlte sich auf Seite sechs der Post wohler als in ihrem eigenen Esszimmer. Ihr Verhalten stand in krassem Gegensatz zu dem ihres Vaters, und sie hatte eindeutig andere Prioritäten als er. Sie war es, die laut Hap den ersten Schritt gemacht hat. Die beiden haben sich in der Monkey Bar kennengelernt. Kurz darauf wurde er zu einer von Rupes Abendgesellschaften eingeladen und sein Klient. Hannah hat seine Finanzen persönlich verwaltet. Hap gibt an, Hannah habe sich vor Bobby gefürchtet.«
»Aber Bobby war in der Nacht von Hannahs Verschwinden nicht in der Stadt und hat sich auch nicht am nächsten Tag mit dem Flugzeug verdrückt«, wandte Lanier spitz ein.
»Richtig«, erwiderte Berger mit einem Blick zu Benton. »Dass Hap alle Beteiligten kennt, macht mir sehr zu schaffen. Hinzu kommen noch seine Neigungen. Kay ist überzeugt, dass Toni Darien schon anderthalb Tage tot war, als ihre Leiche im Park abgelegt wurde. Sie wurde in einer kühlen Umgebung aufbewahrt. Vielleicht klingt das inzwischen plausibel.«
Weitere Namen wurden in die Graphik an der Wand eingetragen.
»Warner Agee und Carley Crispin sollten auch dort stehen«, wandte sich Benton an Stockman.
»Haben sie wegen einer Fernsehsendung etwas mit Hannah Starrs Verschwinden zu tun?« O’Dell war skeptisch. »Wo liegt der tatsächliche Zusammenhang? Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass Agee oder Carley zu den in der Graphik aufgeführten Personen Kontakt hatten.«
»Wir wissen, dass Carley Kay kennt«, stellte Benton fest. »Und ich kannte Agee.«
Tasten klapperten, und Scarpettas und Bentons Namen erschienen auf dem Flachbildschirm. Es war beklemmend, sie dort zu sehen – verbunden mit allen anderen und mit der Wurzel des Ganzen: Jean-Baptiste Chandonne.
»Ausgehend davon, was Lucy und Kay in Agees Hotelzimmer gefunden haben, nehme ich an, dass er am Casinogeschäft beteiligt war«, merkte Benton an.
Das Wort Casinos wurde hinzugefügt.
»Er hat sein Interesse an paranormalen Phänomenen zu Forschungszwecken und zur Einflussnahme benutzt.«
Paranormal wurde ein weiterer Ast am Baum.
»Möglicherweise hatte er einen vermögenden Förderer, einen Franzosen, vermutlich heißt er Lecoq«, ergänzte Benton. Der Name wurde aufgeschrieben. »Jemand – einmal angenommen, besagter Monsieur Lecoq – hat Agee in bar bezahlt. Es könnte sein, dass er zusätzlich Geld von Freddie Maestro bekommen hat. Deshalb stecken Lecoq und Maestro vielleicht unter einer Decke, eine Verbindung zwischen Detroit und Frankreich also.«
»Bis jetzt haben wir keine Ahnung, wer dieser Lecoq ist oder ob er überhaupt existiert«, meinte Lanier zu Benton.
»Er existiert ganz sicher. Aber wer ist er?«
»Glauben Sie, dass dieser Lecoq unser Wolfmann ist?«, erkundigte sich O’Dell bei Benton.
»Es ist besser, wenn wir ihn nicht so nennen. Jean-Baptiste Chandonne ist weder eine Schießbudenfigur noch eine Gestalt aus dem Märchen, sondern ein Mann, der inzwischen wahrscheinlich völlig unauffällig aussieht. Außerdem könnte er unter verschiedenen falschen Namen auftreten. Eigentlich muss er es sogar.«
»Hat er einen französischen Akzent?« Stockman bearbeitete seinen Laptop und ergänzte den Baum an der Wand um weitere Verästelungen.
»Er ist in der Lage, die verschiedensten Akzente nachzuahmen oder völlig akzentfrei zu sprechen«, erwiderte Benton. »Außer dem Französischen beherrscht er auch das Italienische, Spanische, Portugiesische, Deutsche und Englische fließend. Ob er mittlerweile noch weitere Fremdsprachen gelernt hat? Keine Ahnung.«
»Warum Carley Crispin?«, fragte Stockman, während er weiter an der Graphik feilte. »Welchen Grund hatte sie, Agee ein Hotelzimmer zu finanzieren? Oder hat jemand sie als Strohfrau benutzt?«
»Gewiss ein unbedeutender Fall von Geldwäsche.« Lanier machte sich Notizen. »Es erweckt den Eindruck, als wären die Beteiligten in dieser Hinsicht recht fleißig gewesen, auch wenn es immer nur um verhältnismäßig kleine Summen geht. Transaktionen in bar. Leute, die andere Leute dafür bezahlen, dass sie das Geld wiederum an Dritte weitergeben. Keine Kreditkarten, Überweisungen oder Schecks, die eine Spur von Formularen hinter sich herziehen würden. Zumindest nicht im Zusammenhang mit Geschäften, die nicht ganz koscher sind.«
»Carley wollte Agee an diesem Wochenende aus dem Zimmer werfen.« Als Berger Benton ansah, war ihr Blick so undurchdringlich wie Stein. »Weshalb?«
»Da kann ich nur mutmaßen«, entgegnete Benton. »Agee hat Carley Informationen gemailt, die angeblich von einem Zeugen stammen und von denen wir wissen, dass sie frei erfunden sind. Er hat sich als Harvey Fahley ausgegeben, indem er einen Internetservice genutzt hat, der Gespräche in Echtzeit mitschreibt. Lucy hat diese Mitschrift und noch einige andere in Agees Computer entdeckt. Die Produzenten des Crispin Report stehen wegen Carleys gestriger Behauptung, man habe Haare von Hannah Starr in einem gelben Taxi gefunden, im Kreuzfeuer der Kritik. Agee hat sich diese Einzelheit in einem gefälschten Telefoninterview zusammenphantasiert, und Carley ist darauf hereingefallen. Zumindest hat sie so getan, weil es ihr in den Kram gepasst hat. Offenbar hat sie nicht damit gerechnet, dass sie deshalb noch mehr Ärger mit dem Sender bekommt, als es ohnehin schon der Fall ist.«
»Und aus diesem Grund hat sie ihn gefeuert«, fügte Lanier hinzu.
»Warum hätte sie ihn auch weiterbeschäftigen sollen? Schließlich wusste sie, dass sie selbst bald arbeitslos wird. Darum brauchte sie Agee nicht mehr, ganz gleich, wer seine Hotelrechnung bezahlt haben mag. Vielleicht steckt ja etwas Persönliches dahinter«, antwortete Benton. »Wir können nicht sagen, was Carley mit Agee besprochen hat, als sie ihn gestern Nacht kurz vor elf von CNN aus anrief. Wie es aussieht, war es sein letztes Telefonat.«
»Wir müssen mit Carley Crispin reden«, verkündete Stockman. »Ein Jammer, dass Agee nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ich habe nämlich den Verdacht, dass er die Schlüsselfigur in diesem Spiel ist.«
»Er hat einen verdammt schweren Fehler begangen«, ließ sich O’Dell vernehmen. »Als forensischer Psychiater hätte er wirklich klüger sein müssen. Dieser Harvey Fahley streitet sicher ab, dass das Telefoninterview jemals stattgefunden hat.«
»Ganz richtig«, bestätigte Berger. »Ich habe in der Kaffeepause mit Detective Bonnell telefoniert. Sie hat ihn gestern nach der Sendung erreicht. Er gibt zwar zu, Agee eine E-Mail geschickt zu haben, behauptet aber, er hätte nie mit ihm gesprochen und auch das Auffinden von Hannahs Haar nicht erwähnt.«
»Ob Harvey Fahley mit ihm telefoniert hat oder nicht, können wir ja anhand der Telefonunterlagen feststellen ... «, begann O’Dell.
»Das Telefonat wurde mit einem Einweg-Tracfone geführt, das inzwischen verschwunden ist«, unterbrach Benton. »Agee hatte eine ganze Schublade voll mit leeren Tracfone-Verpackungen. Meiner Ansicht nach war das Interview mit Fahley gefälscht, und Lucy ist derselben Meinung. Allerdings bezweifle ich, dass Agee es bewusst auf eine Kündigung angelegt hat.«
»Möglicherweise aber unbewusst«, wandte Lanier ein.
»Das glaube ich auch.« Benton war von Warner Agees selbstzerstörerischen Neigungen überzeugt. »Ich denke, dass er gestern Nacht nicht zum ersten Mal mit dem Gedanken gespielt hat, sich umzubringen. Seine Eigentumswohnung in Washington, D. C., steht kurz vor der Zwangsversteigerung. Seine Kreditkarten sind abgelaufen. Er war finanziell auf andere angewiesen, ein Parasit, dem nichts geblieben war als seine Behinderung und seine eigenen Dämonen. Außerdem hatte er sich offenbar auf eine Sache eingelassen, die eine Nummer zu groß für ihn war. Wahrscheinlich ahnte er, dass man ihn früher oder später erwischen würde.«
»Wieder eine falsche Personalentscheidung«, wandte sich Lanier an alle, sah dabei aber Benton an. »Meinen Sie, dass Jean-Baptiste im Bilde ist?«
»Worüber?«, gab Benton ärgerlich zurück. »Dass ich durch Agees Schuld mein bisheriges Leben aufgeben musste und als Belohnung dafür meine Stelle beim FBI verloren habe? Immerhin haben die Chandonnes ihm den Vorwand dafür geliefert.«
Im Konferenzraum breitete sich Schweigen aus.
»Wenn Ihre Frage lautet, ob er Jean-Baptiste meiner Ansicht nach je begegnet ist und ihn persönlich kannte, ist die Antwort: Ja«, fuhr Benton fort. »Agee, der Möchtegernproftler, hätte alles darangesetzt, mit einem sogenannten Ungeheuer wie Jean-Baptiste Chandonne zu sprechen. Er wäre von ihm als Person fasziniert gewesen, auch ohne zu wissen, wer wirklich vor ihm stand, weil Jean-Baptiste einen falschen Namen benutzt hat. Jean-Baptistes Psychopathologie, das Böse, das er ausstrahlt, hätte ihn angezogen, vermutlich der größte gottverdammte Fehler, der Warner Agee je unterlaufen ist.«
»Offenbar«, meinte Lanier nach einer Pause. »Schließlich liegt er in diesem Moment im Leichenschauhaus.«
»Vom Hotel Elysée ist es ein Katzensprung zur Villa Starr in der Park Avenue.« Berger wirkte ganz ruhig. Zu ruhig. »Die Entfernung beträgt nur drei oder vier Häuserblocks, also ein Fußweg von fünf bis zehn Minuten.«
Stockman tippte Hotel Elysée und Starr-Villa ein; zwei neue Äste erschienen auf dem Bildschirm.
»Sie müssen auch Lucy Farinelli eintragen«, fügte Berger hinzu. »Und das heißt, dass mein Name ebenfalls in die Graphik gehört. Nicht nur, weil ich in Hannahs Fall ermittle und ihren Mann sowie Hap Judd verhört habe, sondern weil ich Lucy nahestehe. Außerdem war sie über zehn Jahre lang Klientin von Rupe Starr. Deshalb ist sie Hannah und Bobby sicher öfter über den Weg gelaufen.«
Benton hatte keine Ahnung, wovon sie redete und woher ihre Informationen stammten. Er sah sie fragend an, wollte das Thema jedoch nicht laut ansprechen. Ihr vielsagender Blick genügte ihm als Antwort. Nein, Lucy hatte sich ihr nicht anvertraut. Berger hatte es auf anderem Wege herausgefunden.
»Fotos«, fügte Berger hinzu. »In Leder gebundene Alben in Rupe Starrs Bibliothek. Aufnahmen von Partys und Abendgesellschaften mit Klienten, die im Laufe vieler Jahre entstanden sind. Lucys Foto ist in einem dieser Alben.«
»Wann hast du das erfahren?«, erkundigte sich Benton. »Vor drei Wochen.«
Wenn sie es schon so lange wusste, musste ihr eigenartiger Stimmungswandel andere Gründe haben. Anscheinend hatte Bonnell ihr am Telefon etwas Beunruhigendes mitgeteilt.
»1996 war sie zwanzig und noch auf dem College. In den anderen Alben habe ich keine Fotos von ihr mehr entdeckt, vermutlich weil sie nach ihrem Abschluss zum FBI gegangen ist und deshalb aus Sicherheitsgründen nur noch selten große Veranstaltungen und Feste besucht hat. Ganz bestimmt hätte sie nicht mehr zugelassen, dass jemand sie fotografiert«, fuhr Berger fort. »Wie allgemein bekannt, wurde Hannah von ihrem Ehemann Bobby als vermisst gemeldet, woraufhin wir ihn um Erlaubnis gebeten haben, persönliche Gegenstände und DNA-Proben im Haus in der Park Avenue sicherzustellen. Außerdem wollte ich ihn befragen.«
»Als sie verschwand, war er in Florida, richtig?«, erkundigte sich O’Dell.
»In der Nacht, als sie nicht aus dem Restaurant nach Hause kam«, erwiderte Berger, »hielt Bobby sich in ihrer gemeinsamen Wohnung in North Miami Beach auf. Das belegen E-Mails, die von der IP-Adresse dieser Wohnung abgeschickt wurden, sowie Telefonunterlagen und die Aussage von Rosie, ihrer Haushälterin in Florida. Sie wurde vernommen. Ich habe selbst mit ihr telefoniert, und sie bestätigt, dass Bobby am 26. November, also am Tag vor Thanksgiving, dort war.«
»Können wir mit Sicherheit feststellen, ob Bobby die E-Mails wirklich persönlich verschickt und selbst telefoniert hat?«, fragte Lanier. »Woher wissen wir, ob es nicht Rosie war, die nun lügt, um ihren Arbeitgeber zu schützen?«
»Mir fehlt ein dringender oder auch nur hinreichender Tatverdacht, um ihn beschatten zu lassen. Schließlich gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass er sich strafbar gemacht hat«, entgegnete Berger tonlos. »Allerdings heißt das nicht, dass ich ihm über den Weg traue. Ich vertraue niemandem.«
»Kennen wir den Inhalt von Hannahs Testament?«, erkundigte sich Lanier.
»Sie ist Rupe Starrs einziges Kind und wurde nach seinem Tod im letzten Mai seine Alleinerbin«, erklärte Berger. »Kurz darauf hat sie ihr eigenes Testament geändert. Im Falle ihres Todes geht ihr gesamtes Vermögen an eine Stiftung.«
»Also hat sie Bobby praktisch enterbt«, stellte Stockman fest. »Finden Sie das nicht ein wenig ungewöhnlich?«
»Der beste Ehevertrag ist einer, der sicherstellt, dass der Partner nicht davon profitiert, wenn er einen betrügt oder umbringt«, antwortete Berger. »Außerdem ist das Testament inzwischen sowieso hinfällig. Hannah Starr hat nur noch ein paar Millionen übrig und ist hochverschuldet. Angeblich hat sie im letzten September fast alles an der Börse und wegen irgendwelcher Ponzi-Deals verloren.«
»Wahrscheinlich erholt sie sich gerade auf einer Yacht im Mittelmeer und lässt sich in Cannes oder in Monte Carlo die Nägel maniküren«, sagte Lanier. »Also bekommt Bobby keinen Cent. Welchen Eindruck hatten Sie von ihm? Mal abgesehen von Ihrer Neigung, niemandem über den Weg zu trauen.«
»Er war ausgesprochen besorgt«, sprach Berger in die Runde hinein, als wendete sie sich an ein Gremium von Geschworenen. »Während meines Besuchs bei ihm zu Hause wirkte er ziemlich aufgelöst und verzweifelt. Er ist überzeugt, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, und hat beteuert, sie würde ihn niemals wortlos verlassen oder sich von ihm trennen. Anfangs habe ich ihn ernsthaft als Täter in Erwägung gezogen, bis Lucy herausgefunden hat, wie es finanziell um sie steht.«
»Beschäftigen wir uns noch einmal mit der Nacht, in der Hannah verschwunden ist«, schlug O’Dell vor. »Wie hat Bobby davon erfahren?«
»Er hat versucht, sie telefonisch zu erreichen. Das geht aus den Telefonunterlagen hervor, die er uns überlassen hat«, erwiderte Berger. »Am nächsten Tag, also an Thanksgiving, sollte Hannah eigentlich mit einer Privatmaschine nach Miami fliegen, das Wochenende mit ihm verbringen und von dort aus nach Saint Barts weiterreisen.«
»Allein?«, fragte Stockman. »Oder in seiner Begleitung?« »Sie wollte allein nach Saint Barts«, erwiderte Berger.
»Also plante sie vielleicht doch, sich ins Ausland abzusetzen«, wandte Lanier ein.
»Das habe ich mir auch schon überlegt«, meinte Berger. »Allerdings hat sie, falls es sich so verhält, nicht ihren Privatjet, die Gulfstream, benutzt. Sie ist nie auf dem Privatflugplatz in White Plains erschienen.«
»Hast du diese Information von Bobby?«, hakte Benton nach. »Sind wir sicher, dass es auch stimmt?«
»Er hat es mir bestätigt, und außerdem existiert ein Flugbuch. Sie war nicht am Flugplatz, sie ist nicht in die Maschine gestiegen, und Bobbys Name stand für den Flug nach Saint Barts nicht im Flugbuch«, entgegnete Berger. »Außerdem ist sie nicht ans Telefon gegangen. Die Haushälterin in New York ...«
»Wie heißt sie?«, unterbrach Lanier.
»Nastya.« Berger buchstabierte, und der Name erschien an der Wand. »Sie wohnt in der Villa. Laut ihrer Aussage ist Hannah nach dem Abendessen in Greenwich Village am 26. November nicht nach Hause gekommen. Allerdings sah sie keinen Grund, die Polizei zu verständigen, da es nicht das erste Mal war. Der Anlass des Abendessens war eine Geburtstagsfeier im One if by Land, Two if by Sea in der Barrow Street. Sie war mit einigen Freunden dort und wurde, als alle das Restaurant verließen, dabei beobachtet, wie sie in ein gelbes Taxi stieg. Mehr wissen wir bis jetzt nicht.«
»Hat Bobby etwas von ihren Seitensprüngen mitgekriegt?«, fragte O’Dell.
»›In unserer Partnerschaft lassen wir einander viel Raum‹, so lauteten seine Worte. Keine Ahnung, wie gut er im Bilde war«, antwortete Berger. »Vielleicht hat Hap Judd ja recht, und Bobby und Hannah waren eher Geschäftspartner als ein Ehepaar. Angeblich liebt er sie, doch das bekommen wir ja immer wieder zu hören.«
»Mit anderen Worten, sie haben eine Vereinbarung. Vielleicht vögeln sie beide in der Gegend herum. Er stammt aus reichem Hause, richtig?«, meinte O’Dell.
»Nicht so reich wie sie, aber seine Familie ist vermögend und lebt in Kalifornien. Er hat erst in Stanford studiert und dann seinen Abschluss in Betriebswirtschaft in Yale gemacht. Als Finanzverwalter war er am Neuen Markt recht erfolgreich und hat einige Fonds, einen in Großbritannien und einen anderen in Monaco, betreut.«
»Diese Hedgefonds-Typen haben doch zum Teil Hunderte von Millionen verdient«, sagte O’Dell.
»Einige von ihnen nagen inzwischen am Hungertuch oder sitzen im Gefängnis. Was ist mit Bobby?«, wandte sich Stockman an Berger. »Ist er pleite?«
»So wie viele dieser Investoren hat er sich darauf verlassen, dass die Energiepreise und die Bergwerksaktien wieder steigen, während der Finanzmarkt absackt. So hat er es mir zumindest erklärt«, entgegnete sie.
»Und im Juli hat der Trend sich dann umgekehrt«, ergänzte Stockman.
»Er hat es als Blutbad bezeichnet«, fügte Berger hinzu. »Ohne das Vermögen der Starrs kann er sich den Lebenswandel nicht leisten, an den er sich inzwischen gewöhnt hat, so viel steht fest.«
»Also ist das Verhältnis zwischen den beiden eher so etwas wie ein Firmenzusammenschluss als eine Ehe«, merkte O’Dell an.
»Über seine Gefühle kann ich nichts sagen. Wer zum Teufel weiß schon, was sein Gegenüber wirklich empfindet«, stellte Berger gleichmütig fest. »Während unseres Gesprächs wirkte er erschüttert. Er behauptet, er sei in Panik geraten, als sie an Thanksgiving nicht am Flugplatz erschienen sei, und habe die Polizei verständigt, die sich wiederum mit mir in Verbindung gesetzt hat. Bobby behauptet, er habe befürchtet, seine Frau könnte das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sein, denn sie habe in der Vergangenheit Schwierigkeiten mit einem Mann gehabt, der ihr nachstellte. Also ist er nach New York geflogen und hat uns durchs Haus geführt. Bei dieser Gelegenheit haben wir Hannahs Zahnbürste mitgenommen, um nötigenfalls ihre DNA testen zu können. Das heißt, falls irgendwo eine Leiche gefunden wird.«
»Die Fotoalben.« Benton grübelte immer noch über Lucy und ihre Heimlichtuerei nach. »Welchen Grund hatte er, sie dir zu zeigen?«
»Ich habe mich erkundigt, ob er möglicherweise einen von Hannahs Klienten in Verdacht hat. Angeblich hat er die meisten Klienten ihres verstorbenen Vaters, also von Rupe Starr, nicht gekannt und schlug deshalb vor, dass wir ...«
»Wer ist wir?«
»Marino war dabei. Bobby schlug also vor, wir sollten uns doch die Fotoalben anschauen, denn Rupe habe die Angewohnheit gehabt, neue Kunden in seiner Villa zu bewirten. Eher ein Ritterschlag als eine Einladung. Wer absagte, wurde als Kunde abgelehnt. Er wollte eine Beziehung zu seinen Klienten aufbauen, und offenbar ist ihm das auch geglückt.«
»Du hast Lucys Foto von 1996 gesehen«, sagte Benton, der sich kaum auszumalen wagte, was in Berger vorging. »Marino auch?«
»Ich habe sie auf dem Foto erkannt. Marino war nicht in der Bibliothek, als ich darauf gestoßen bin. Er weiß also nichts davon.«
»Hast du Bobby danach gefragt?« Benton wollte nicht nachbohren, warum sie Marino diese Information vorenthalten hatte.
Er hatte nämlich den Verdacht, dass er die Antwort bereits kannte. Berger hoffte, dass Lucy endlich offen mit ihr sein würde, damit es ihr erspart blieb, sie zur Rede zu stellen. Aber offenbar wartete sie bis jetzt noch vergeblich.
»Ich habe Bobby das Foto nicht gezeigt und es auch nicht erwähnt«, fuhr Berger fort. »Er konnte ihr damals nicht begegnet sein, denn Hannah und Bobby sind erst seit knapp zwei Jahren zusammen.«
»Das bedeutet nicht, dass er nicht über Lucy im Bilde ist«, wandte Benton ein. »Hannah könnte ihm von ihr erzählt haben. Es würde mich wundern, wenn sie es nicht getan hat. Hast du dieses Album selbst vom Regal in der Bibliothek genommen, Jaime? Rupe Starr besaß doch sicher Dutzende davon.«
»Eine ganze Menge«, bestätigte sie. »Bobby hat einen Stapel für mich auf den Tisch gelegt.«
»Besteht die Möglichkeit, dass du das Foto von Lucy finden solltest?« Benton bekam ein merkwürdiges Gefühl. Offenbar versuchte sein Bauch, ihm eine Botschaft zu übermitteln.
»Er hat die Alben auf dem Tisch gestapelt und die Bibliothek verlassen«, erwiderte Berger.
Ein Spiel. Und ein grausames obendrein, falls Bobby es mit Absicht getan hatte. Wenn er über Bergers Privatleben informiert war, war ihm sicher klar gewesen, wie sehr es sie erschüttern würde, dass ihre Lebenspartnerin und forensische Computerexpertin Gast in Starrs Villa gewesen war – dass sie mit diesen Leuten verkehrt und es ihr verschwiegen hatte.
»Verzeihen Sie mir die Frage«, wandte sich Lanier an Berger. »Warum lassen Sie Lucy die forensischen Computerermittlungen in diesem Fall durchführen, obwohl sie in Kontakt mit dem mutmaßlichen Opfer, ja, eigentlich mit der gesamten Familie Starr stand?«
Im ersten Moment blieb Berger stumm. »Ich wollte, dass sie es mir selbst erklärt«, antwortete sie dann.
»Und wie lautete die Erklärung?«, hakte Lanier nach. »Ich kenne sie noch nicht.«
»Gut, meinetwegen, aber es könnte später zu Problemen führen«, merkte Stockman an. »Zum Beispiel vor Gericht.«
»Meiner Ansicht nach stellt es schon jetzt ein Problem dar.« Bergers Miene war finster. »Und zwar ein viel größeres, als ich in Worte fassen kann.«
»Wo ist Bobby jetzt?« Laniers Tonfall war sanfter geworden. »Offenbar wieder in der Stadt«, sagte Berger. »Er schickt Hannah jeden Tag E-Mails.«
»Das ist ja pervers«, meinte O’Dell.
»Mag sein, jedenfalls tut er es. Das wissen wir deshalb, weil wir uns natürlich Zugang zu ihrem E-Mail-Account verschafft haben. Er hat ihr gestern spätnachts eine Mail geschrieben, in der stand, er habe von neuen Entwicklungen in dem Fall gehört und werde heute in aller Frühe nach New York zurückkehren. Wahrscheinlich ist er inzwischen schon hier.«
»Wenn der Typ kein Vollidiot ist, kann er sich doch bestimmt denken, dass jemand ihre E-Mails überprüft. Deshalb habe ich den Eindruck, dass er uns damit an der Nase herumführen will«, wandte O’Dell ein.
»Das war auch mein erster Verdacht«, erwiderte Lanier. Spiele!, schoss es Benton durch den Kopf. Das beklommene Gefühl wurde stärker.
»Keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Jedenfalls scheint er zu hoffen, dass Hannah lebt, sich irgendwo versteckt und seine E-Mails liest«, verkündete Berger. »Ich nehme an, er hat die Meldung gestern Abend im Crispin Report mitbekommen, Haare von Hannah seien angeblich in einem Taxi gefunden worden. Kann sein, dass er deshalb wieder in der Stadt ist.«
»Jedenfalls klang es wie eine Todesnachricht. Verdammte Reporter!«, schimpfte Stockman. »Für ihre Einschaltquote tun sie alles, und es interessiert sie einen Dreck, ob sie jemandem damit das Leben ruinieren. Wie zum Beispiel die Sache mit der Bemerkung über das FBI und darüber, dass das Erstellen von Täterprofilen veraltet ist.«
Stockman spielte auf Scarpetta, den CNN-Ticker und die Kommentare an, die letzte Nacht im Internet kursiert waren.
»Ich glaube, sie wurde falsch zitiert«, entgegnete Benton knapp. »Sicher wollte sie damit ausdrücken, dass die gute alte Zeit vorbei ist und außerdem niemals wirklich gut war.«