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Ratlos blickte Pete Marino sich in der Einzimmerwohnung um und versuchte, ihre Atmosphäre zu erfassen und zu erspüren, was sie ihm zu sagen hatte.

Örtlichkeiten waren wie Tote. Sie konnten einem eine Menge mitteilen, wenn man ihre wortlose Sprache verstand. Was Marino auf Anhieb gestört hatte, war, dass Toni Dariens Laptop und ihr Mobiltelefon fehlten, obwohl die Ladegeräte noch in den Steckdosen steckten. Außerdem beschäftigte ihn, dass sonst alles an seinem Platz zu sein schien und die Wohnung nach Auffassung der Polizei in keinerlei Zusammenhang mit dem Mord stand. Marino hingegen hatte das Gefühl, dass jemand hier gewesen war. Er wusste nicht, warum er diesen Eindruck hatte. Es war wie ein Prickeln im Nacken, wenn man glaubte, dass man beobachtet wurde. Etwas verlangte nach seiner Aufmerksamkeit, doch er kam nicht dahinter, was es sein könnte.

Marino trat ins Treppenhaus hinaus, wo ein uniformierter Kollege die Wohnung bewachte und ohne Jaime Bergers Erlaubnis niemanden hereinließ. Sie wolle sie versiegeln lassen, bis sie sicher sei, dass sie nichts mehr daraus brauche, hatte sie Marino gegenüber am Telefon beharrt und entnervt hinzugefügt, er solle sich nicht zu sehr auf die Wohnung versteifen und sie wie einen Tatort behandeln. Ziemlich widersprüchlich also. Marino war schon zu lange im Geschäft, um etwas auf die Anweisungen anderer Leute, einschließlich seiner Vorgesetzten, zu geben. Er tat das, was er für richtig hielt. Und was ihn betraf, war Toni Dariens Wohnung ein Tatort, den er auf den Kopf stellen würde.

»Ich sag Ihnen was«, wandte sich Marino an den Polizisten vor der Tür, der mit Nachnamen Mellnik hieß. »Vielleicht sollten Sie Bonnell anrufen. Ich muss mit ihr über den verschwundenen Laptop und das Mobiltelefon sprechen und sichergehen, dass sie die Sachen nicht mitgenommen hat.«

Bonnell war die Ermittlerin des NYPD, die die Wohnung an diesem Tag gemeinsam mit der Spurensicherung untersucht hatte.

»Was, haben Sie denn kein eigenes Telefon?« Mellnik lehnte an der Wand im dämmrig beleuchteten Treppenhaus. Ganz in der Nähe, oben an der Treppe, stand ein Klappstuhl.

Nachdem Marino fort war, würde Mellnik den Stuhl wieder in die Wohnung stellen und sich setzen, bis er eine Pinkelpause brauchte oder die Ablöse für die Nachtschicht erschien. Ein elender Job, aber jemand musste ihn ja machen.

»Sie sind wohl zu beschäftigt«, gab Marino zurück.

»Nur weil ich mir hier den Arsch platt sitze, heißt das noch lange nicht, dass ich nichts zu tun habe.« Der kleine, vierschrötige Mann strich sich das schwarze gegelte Haar zurück. »Ich denke nach. Natürlich könnte ich sie anrufen, aber ich habe es Ihnen doch schon erklärt. Als ich ankam, hat mir der Kollege, den ich abgelöst habe, fast das Ohr abgekaut und mir brühwarm erzählt, was die Leute von der Spurensicherung so geredet haben. Wo ist ihr Telefon? Wo ist ihr Laptop? Allerdings glauben sie nicht, dass jemand hier war, der die Sachen geklaut hat. Keine Hinweise. Meiner Ansicht nach ist verdammt offensichtlich, was mit ihr passiert ist. Warum gehen Leute, insbesondere Frauen, nachts im Park joggen? Daraus soll mal einer schlau werden.«

»Und als Bonnell und die Spurensicherung eintrafen, war die Tür abgeschlossen?«

»Wie ich Ihnen gesagt habe, hat der Hausmeister aufgesperrt. Der Mann heißt Joe und wohnt im Parterre, am anderen Ende.« Er zeigte mit dem Finger. »Sie können es ja selbst sehen. Keinerlei Anzeichen dafür, dass jemand das Schloss aufgebrochen und sich Zutritt verschafft hat. Die Tür war zu, die Rollläden an den Fenstern waren heruntergelassen, nichts wurde durchwühlt. Ganz normal also. Das habe ich von dem Kollegen, der vor mir Schicht hatte, und der hatte die Spurensicherung die ganze Zeit über im Blick.«

Marino betrachtete den Türknauf und den Riegel und berührte sie mit der behandschuhten Hand. Dann förderte er eine Taschenlampe zutage und hielt sorgfältig Ausschau nach Einbruchsspuren. Mellnik hatte recht. Offenbar war nichts beschädigt oder vor kurzem zerkratzt worden.

»Treiben Sie Bonnell für mich auf«, meinte er. »Und außerdem die Zentrale, damit ich es direkt von ihr erfahre. Denn wenn die Chefin wieder in der Stadt ist, oder sogar schon früher, wird man mich fünfzigmal das Gleiche fragen. Die meisten Leute, die ihre Laptops mitnehmen, lassen das Ladegerät nicht zurück. Und das stört mich.«

»Wenn die Spurensicherung den Computer eingepackt hätte, dann sicher auch das Ladegerät. Hat sie aber nicht«, erwiderte Mellnik. »Vielleicht besaß das Opfer ja ein zweites Ladegerät. Schon mal daran gedacht? Oder sie ist mit dem Laptop irgendwohin gegangen, wo es auch ein Ladegerät gibt. Ein zusätzliches. Ich glaube, so ist es gewesen.«

»Ich bin überzeugt, dass Sie für diese an den Haaren herbeigezogene Erklärung ein handschriftliches Dankesschreiben von Berger kriegen.«

»Wie ist es denn so, für sie zu arbeiten?«

»Warten Sie nicht, bis der Film rauskommt. Lesen Sie das Buch.«

»Welches Buch?« Mellnik ließ sich auf seinem Klappstuhl nieder und nahm das Telefon vom Waffengürtel. »Was für ein Buch meinen Sie?«

»Vielleicht sollten Sie es selbst schreiben, wo Sie doch so neugierig sind.« Marino blickte den Flur entlang – brauner Teppich, schmutzig braune Wände, acht Wohnungen im ersten Stock.

»Glauben Sie mir, ich habe keine Lust, für den Rest meines Lebens diesen Scheißjob zu machen.«

»In diesem Haus gibt es keinen Portier«, stellte Marino fest. »Wenn man reinwill, muss man entweder einen Schlüssel haben oder irgendwo klingeln, damit einem jemand die Tür aufmacht, so wie Sie vorhin, als ich ankam. In der Vorhalle, wo die Briefkästen sind, hat man dann zwei Möglichkeiten. Man geht nach links, vorbei an vier Wohnungen, unter anderem an der des Hausmeisters, und nimmt die Treppe. Oder man geht nach rechts, passiert den Wäscheraum, den Werkzeugschrank, die Heizanlage und einen Lagerraum und nimmt die andere Treppe. Ein Stockwerk höher, und man steht keine zwei Meter von Tonis Wohnungstür entfernt. Falls jemand in dieser Wohnung war und aus irgendeinem Grund einen Schlüssel hatte, hätten die Nachbarn ihn nicht unbedingt sehen müssen. Wie lange sitzen Sie jetzt schon hier?«

»Seit zwei. Wie ich schon sagte, war davor ein anderer Kollege da. Ich glaube, sie haben nach Auffinden der Leiche sofort jemanden geschickt.«

»Ja, ich weiß. Das hat Berger veranlasst. Wie vielen Personen – ich meine, Nachbarn – sind Sie begegnet?«

»Seit ich hier bin? Keiner Menschenseele.«

»Haben Sie gehört, dass in irgendeiner Wohnung Wasser lief? Schritte oder andere Geräusche?«, fragte Marino.

»Von hier an der Treppe aus oder während ich in der Wohnung war? Es war ziemlich ruhig. Allerdings bin ich ja erst« – er schaute auf die Uhr – »vor etwa zwei Stunden gekommen.«

Marino steckte die Taschenlampe wieder ein. »Um diese Tageszeit ist niemand zu Hause. Ein Gebäude wie dieses eignet sich nämlich nicht für Rentner oder Menschen, die an die Wohnung gefesselt sind. Erstens gibt es keinen Aufzug, was einen großen Nachteil bedeutet, wenn man alt, behindert oder krank ist. Außerdem unterliegt das Haus nicht der Mietpreisbindung und ist nicht im Besitz einer Genossenschaft. Die Nachbarn haben kaum Kontakt, und es gibt keine langjährigen Mieter. Die meisten bleiben nur ein paar Jahre. Viele Alleinstehende und kinderlose Ehepaare. Durchschnittsalter zwischen zwanzig und dreißig. Insgesamt sind es vierzig Wohnungen, von denen acht derzeit leerstehen. Ich habe den Verdacht, dass die Immobilienmakler dem Hausmeister nicht gerade die Bude einrennen. Der Grund für den Leerstand ist wohl die miese Wirtschaftslage, denn die Mieter sind alle innerhalb der letzten sechs Monate ausgezogen.«

»Woher zum Teufel wissen Sie das alles? Sind Sie Hellseher?«

Marino nahm ein zusammengefaltetes Papierbündel aus der Tasche. »RTCC – der Zentralcomputer der Polizei. Ich habe eine Liste aller Hausbewohner: wie sie heißen, was sie von Beruf sind, ob sie je eingesessen haben, wo sie arbeiten, wo sie einkaufen, was für ein Auto sie fahren und, wenn überhaupt, wen sie vögeln.«

»Ich war noch nie dort.« Damit meinte er das Real Time Crime Center, das Marino für sich als Kommandobrücke von Raumschiff Enterprise bezeichnete. Die Abteilung in der Polizeizentrale mit der Adresse One Police Plaza steuerte praktisch alle Hightech-Operationen des New York Police Department.

»Keine Haustiere«, fügte Marino hinzu.

»Was haben Haustiere denn damit zu tun?« Mellnik gähnte. »Seit sie mich auf Spätschicht gesetzt haben, bin ich völlig fertig und kann nicht mehr richtig pennen. Meine Freundin und ich sind wie Schiffe, die in der Nacht aneinander vorbeifahren.«

»In Häusern, wo tagsüber kein Mensch da ist, kann niemand einen Hund Gassi führen«, sprach Marino weiter. »Die Mieten hier fangen bei zwölfhundert an. Wer in diesem Haus wohnt, kann es sich nicht leisten, jemanden dafür zu bezahlen, dass er seinen Hund ausführt, und hat auch gar kein Interesse daran. Außerdem bringt es mich zu meinem ursprünglichen Thema zurück. Alles ist wie ausgestorben. Kein Mensch hört oder sieht etwas. Wenigstens nicht tagsüber, wie ich bereits sagte. Wenn ich also etwas im Schilde führen und in die Wohnung eindringen wollte, würde ich es um diese Zeit tun. Und zwar, ohne mich zu verstecken, denn während es auf der Straße und auf dem Gehweg von Leuten nur so wimmelt, ist das Haus menschenleer. «

»Darf ich Sie daran erinnern, dass sie nicht hier überfallen wurde«, wandte Mellnik ein. »Sie wurde beim Joggen im Park ermordet.«

»Versuchen Sie, Bonnell zu erreichen. Das schult die ermittlerischen Fähigkeiten. Vielleicht werden Sie ja Dick Tracy, wenn Sie groß sind.«

Marino kehrte in die Wohnung zurück und ließ die Tür offen. Toni Darien hatte gelebt wie viele, die vor kurzem von zu Hause ausgezogen sind. Es war ein winziger Raum, den Marino vollständig auszufüllen schien, als wäre die Welt um ihn herum plötzlich geschrumpft. Etwa fünfzehn Quadratmeter, schätzte er, nicht dass seine eigene Wohnung in Harlem viel größer gewesen wäre. Allerdings hatte er zumindest ein separates Schlafzimmer und musste nicht im Wohnzimmer übernachten. Außerdem gehörte ein kleiner Garten dazu, ein Stückchen Kunstrasen mit Picknicktisch, den er mit seinen Nachbarn teilte. Das war zwar nicht unbedingt ein Palast, aber um einiges stilvoller als das hier. Bei seiner Ankunft vor ungefähr einer halben Stunde hatte er sich so verhalten wie immer an einem Tatort – er hatte sich einen Überblick verschafft, ohne auf Einzelheiten zu achten.

Nun schaute er gründlicher hin. Mit dem Vorraum fing er an, der gerade genug Platz bot, um sich umzudrehen, und mit einem winzigen Rattantisch möbliert war. Darauf stand ein Souvenir-Aschenbecher von Caesars Palace, in dem Toni vermutlich ihre Schlüssel aufbewahrte. Der Schlüsselbund mit einem silbernen Würfel daran war in der Tasche der Vliesjacke gefunden worden, die sie bei ihrer Ermordung getragen hatte. Vielleicht hatte sie ja von ihrem alten Herrn die Spielleidenschaft geerbt. Marino hatte ihn überprüft. Lawrence Darien war einige Male wegen Alkohols am Steuer verurteilt worden, hatte Insolvenz angemeldet und war vor ein paar Jahren in einen Glücksspielring vor der Küste von Bergen County, New Jersey, verwickelt gewesen. Es gab Hinweise auf Verbindungen zum organisierten Verbrechen, vermutlich zur Mafiafamilie Genovese, doch das Verfahren war eingestellt worden. Der Mann war ein Dreckskerl und Versager, ein ehemaliger Bioelektrik-Ingenieur mit Abschluss am MIT, der seine Familie verlassen hatte und als Vater nicht zu gebrauchen war. Gerade jemandem wie ihm war durchaus zuzutrauen, dass er seine Tochter mit den falschen Leuten bekannt machte.

Toni erweckte nicht den Eindruck, als habe sie übermäßig viel getrunken. Bis jetzt glaubte Marino auch nicht, dass sie auf Partys und Drogen gestanden hatte. Seiner Ansicht nach traf eher das Gegenteil zu. Sie war diszipliniert, ehrgeizig, fleißig, ausgesprochen sportlich und sehr gesundheitsbewusst gewesen. Auf dem Rattantischchen neben der Tür stand auch ein gerahmtes Foto, das sie bei einem Wettlauf, vielleicht einem Marathon, zeigte. Auf dem Foto war sie hübsch wie ein Model, mit langem dunklem Haar, groß und ein wenig mager. Die typische Figur einer Läuferin, keine Hüften, kein Busen. Mit einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht strampelte sie sich auf einer Straße ab, die von anderen Läufern wimmelte. Am Straßenrand standen jubelnde Zuschauer. Marino fragte sich, wer das Foto wohl gemacht hatte und wann es aufgenommen worden war.

Die Küche befand sich nur wenige Schritte vom Vorraum entfernt. Ein Herd mit zwei Platten, ein Kühlschrank, ein Spülbecken, drei Schränke, zwei Schubladen, alles weiß. Auf der Arbeitsfläche lag ein Stapel ungeöffneter Briefe, so als habe sie noch keine Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen, oder sich nicht dafür interessiert. Marino entdeckte einige Kataloge und Werbebroschüren mit Gutscheinen und ein grellrosa Flugblatt, das den Mietern mitteilte, dass morgen, am 19. Dezember, von acht bis zwölf Uhr mittags das Wasser abgestellt werden würde.

Daneben befand sich ein Abtropfgestell aus Edelstahl mit einem Buttermesser, einer Gabel, einem Teller, einer Schale und einem Kaffeebecher mit einer Comicfigur aus The Far Side darauf – das Kind von der Midvale School für Hochbegabte, das gegen eine Tür drückte, auf der »Ziehen« stand. Das Spülbecken war leer und sauber, ein Spülschwämmchen und eine Flasche Spülmittel, Marke Dawn, keine Krümel auf der Arbeitsfläche, keine Essensreste, der Parkettboden blitzsauber. Marino öffnete den Unterschrank der Spüle und entdeckte einen kleinen Mülleimer, ausgekleidet mit einem weißen Müllbeutel. Er enthielt eine braune, nach Fäulnis stinkende Bananenschale, einige verschrumpelte Heidelbeeren, einen Behälter, in dem Sojamilch gewesen war, Kaffeesatz und viele Papierhandtücher.

Als er ein paar davon ausschüttelte, stieg ihm der Geruch von Honig, Zitrusfrüchten und Ammoniak in die Nase. Vielleicht Möbelpolitur und Glasreiniger. Tatsächlich stieß er auf eine Sprühflasche des Glasreinigers Windex mit Zitronenduft und eine Flasche Möbelpolitur, die Bienenwachs und Orangenöl enthielt. Offenbar war Toni sehr ordentlich gewesen, möglicherweise sogar zwanghaft, und hatte zuletzt geputzt und aufgeräumt. Aber wofür hatte sie das Windex benutzt? Marino konnte keine Glasflächen erkennen. Er durchquerte den Raum, spähte durch die Jalousien und fuhr mit dem behandschuhten Finger über die Scheibe. Die Fenster waren schmutzig und machten nicht den Eindruck, als seien sie kürzlich gereinigt worden. Vielleicht hatte sie mit dem Windex ja einen Spiegel sauber gemacht. Es konnte auch sein, dass jemand anders hier geputzt hatte, in dem Irrglauben, dass er damit Fingerabdrücke und DNA beseitigte. Weniger als zehn Schritte brachten Marino zurück in die Küche. Die Papierhandtücher aus dem Abfall wanderten in einen Asservatenbeutel, um sie auf DNA zu untersuchen.

Toni hatte ihre Frühstücksflocken im Kühlschrank aufbewahrt. Außerdem einige Behälter mit Vollkorn-Buchweizengrütze, noch mehr Sojamilch, Heidelbeeren, verschiedene Käse, Joghurt, Römersalat, Kirschtomaten und eine Plastikschale, die Nudeln mit Parmesansauce enthielt. Entweder stammte sie von einem Imbiss, oder sie hatte sich in einem Restaurant die Reste zum Mitnehmen einpacken lassen. Wann? Gestern Abend? Oder setzte sich die letzte Mahlzeit, die sie in ihrer Wohnung eingenommen hatte, aus einer Schale Frühstücksflocken mit einer Banane, Heidelbeeren und einer Tasse Kaffee zusammen? Frühstück also? Denn heute Morgen hatte sie nicht mehr gefrühstückt, so viel stand fest. Hatte sie gestern ihr Frühstück verspeist, war dann den ganzen Tag unterwegs gewesen und zum Abendessen beim Italiener eingekehrt? Und danach? War sie nach Hause gekommen, hatte die restlichen Spaghetti in den Kühlschrank gestellt und war irgendwann während der regnerischen Nacht joggen gegangen? Marino war neugierig, was Scarpetta bei der Autopsie in Sachen Mageninhalt herausgefunden hatte. Im Laufe des Nachmittags hatte er einige Male versucht, sie zu erreichen, und ihr Nachrichten hinterlassen.

Der Parkettboden knarzte unter Marinos großen, in Stiefeln steckenden Füßen, als er sich umdrehte und ins Wohnzimmer zurückkehrte. Von der Second Avenue hallte Verkehrslärm herauf. Autos hupten, und der Gehweg wimmelte von Passanten. Der ständige Geräuschpegel und das Menschengewühl hatten Toni vielleicht ein falsches Sicherheitsgefühl vermittelt. Dass sie sich, nur eine Etage über der Straße, isoliert vorgekommen war, kam Marino äußerst unwahrscheinlich vor. Vermutlich hatte sie nach Einbruch der Dunkelheit die Jalousien heruntergelassen, damit niemand in die Wohnung schauen konnte. Laut Mellnik waren die Jalousien beim Eintreffen Bonnells und der Spurensicherung unten gewesen, und es war anzunehmen, dass Toni selbst sie heruntergelassen hatte. Aber wann? Schließlich hatte sie ihre letzte Mahlzeit in dieser Wohnung am gestrigen Morgen eingenommen und nach dem Aufstehen sicher die Jalousien hochgezogen. Offenbar sah sie gern hinaus, denn zwischen den beiden Fenstern standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Der Tisch war sauber. Ein aus Stroh geflochtenes Tischset lag darauf. Marino konnte sich gut vorstellen, wie sie gestern hier gesessen und ihre Frühstücksflocken gegessen hatte. Aber mit heruntergelassenen Jalousien?

Zwischen den Fenstern befand sich auch ein Flachbildschirmfernseher, der mit einem Arm an der Wand befestigt war. Es war ein Samsung mit einer Bildschirmdiagonale von zweiunddreißig Zoll, die Fernbedienung lag auf dem Couchtisch neben dem zweisitzigen Sofa. Marino griff danach und drückte auf »Power«, um festzustellen, welche Sendung sie sich zuletzt angeschaut hatte. Im Fernsehen liefen die Headline News. Der Nachrichtensprecher berichtete über den Mord an einer Joggerin im Central Park, deren Name von den Behörden noch unter Verschluss gehalten wurde. Dann wurde zu Bürgermeister Bloomberg umgeschaltet, der einen Kommentar dazu abgab. Darauf folgte Polizeipräsident Kelly, der die für Politiker oder Behördenleiter üblichen Phrasen drosch, um die Bevölkerung zu beruhigen. Marino hörte zu, bis sich die nächste Meldung mit der Empörung über die Staatshilfe für AIG befasste.

Er legte die Fernbedienung zurück auf den Couchtisch, und zwar genau an dieselbe Stelle wie zuvor, holte seinen Block heraus und notierte sich, auf welchen Sender der Fernseher eingestellt gewesen war. Dabei fragte er sich, ob die Spurensicherung oder Bonnell daran gedacht hatten. Vermutlich nicht. Hatte Toni die Nachrichten verfolgt? War das morgens nach dem Aufstehen ihre erste Handlung gewesen? Hatte sie sich die Nachrichten tagsüber oder abends vor dem Schlafengehen angesehen? Wo hatte sie während der letzten Nachrichtensendung ihres Lebens gesessen? Der Haltearm an der Wand war so gedreht, dass der Fernseher zum Bett zeigte. Es war mit einer hellblauen Überdecke aus Satin versehen. Auf den Kissen thronten drei Stofftiere: ein Waschbär, ein Pinguin und ein Strauß. Marino überlegte, ob es sich dabei um Geschenke handelte, vielleicht von ihrer Mutter, wahrscheinlich nicht von einem Freund. Männer verschenkten normalerweise keine Stofftiere, außer sie waren schwul. Marino stupste den Pinguin mit dem behandschuhten Finger an, betrachtete das Etikett und musterte dann die an den anderen beiden Tiere. Gund. Er schrieb sich den Namen des Herstellers auf.

Neben dem Bett stand ein Nachttisch mit Schublade, die eine Nagelfeile, einige AA-Batterien, ein kleines Döschen Motrin und einige alte Taschenbücher, Kriminalschocker aus dem wahren Leben – 7he Jeffrey Dahmer Story: An American Nightmare und Ed Gein: Psycho. Marino notierte sich die Titel und blätterte jedes Buch durch, um festzustellen, ob Toni etwas hineingeschrieben hatte. Aber nichts. Zwischen den Seiten der Jeffrey Dahmer Story steckte eine Quittung, die das Datum 18. November 2006 trug, offenbar der Tag, an dem das Buch gekauft worden war, und zwar antiquarisch bei Moe’s Books in Berkeley, Kalifornien. Eine alleinlebende Frau, die solchen gruseligen Schund las? Vielleicht waren es ja Geschenke gewesen. Marino verstaute die Bücher in einem Asservatenbeutel. Er würde sie ins Labor bringen und auf Fingerabdrücke und DNA untersuchen lassen. Nur so ein Gefühl.

Links vom Bett befand sich der Wandschrank. Die Kleidung darin war schick und sexy: Leggings, lange, bunt gemusterte Pullover, tief ausgeschnittene bedruckte Oberteile, figurbetonende Sportsachen und einige eng anliegende Kleider. Marino kannte die Marken nicht, aber er war ja auch kein Fachmann in Modefragen – Baby Phat, Coogi, Kensie Girl. Auf dem Boden standen zehn Paar Schuhe, unter anderem Laufschuhe von Asics, wie sie sie bei ihrer Ermordung getragen hatte, und Lammfellstiefel von Uggs für winterliches Wetter.

Die gefaltete Bettwäsche war in einem oberen Regal gestapelt. Daneben stand ein Pappkarton, den Marino herunterholte, um einen Blick hineinzuwerfen. DVDs, Spielfilme, hauptsächlich Comedy und Action. Außerdem die Ocean’s Eleven-Serie, wieder das Glücksspielmotiv. Offenbar hatte sie George Clooney, Brad Pitt und Ben Stiller gemocht. Keine Gewaltfilme und nichts Angsteinflößendes wie die Bücher in ihrem Nachtkästchen. Möglicherweise hatte sie ja keine DVDs mehr gekauft, sondern sich die Filme, auch Horrorstreifen, falls sie darauf gestanden hatte, auf Kabel oder im Bezahlfernsehen angeschaut. Oder auf ihrem Laptop? Wo zum Teufel war ihr Laptop? Marino fotografierte und machte sich weitere Notizen.

Plötzlich fiel ihm auf, dass er bis jetzt noch keinen Wintermantel entdeckt hatte. Ein paar Windjacken, einen langen roten Wollmantel, der ziemlich altmodisch wirkte, vielleicht noch aus der High-School-Zeit oder ein abgelegtes Stück von ihrer Mutter – aber wo war der dicke Mantel, den man brauchte, wenn man an einem Tag wie heute in der Stadt herumlief? Ein Parka, eine Skijacke, irgendetwas, das mit Daunen gefüttert war. Außerdem gab es hier jede Menge Freizeit- und Sportbekleidung, Vliespullis und Jogginganzüge. Doch was trug sie zur Arbeit? Was zog sie an, wenn sie ausging, um etwas zu erledigen, zu essen oder bei wirklich kaltem Wetter zu trainieren? Auch an oder in der Umgebung ihrer Leiche war keine Winterjacke gefunden worden. Sie hatte nur einen Vliespulli getragen, was Marino angesichts des schauderhaften Wetters gestern Abend merkwürdig vorkam.

Er betrat das Badezimmer und machte Licht. Ein weißes Waschbecken, eine weiße Badewanne mit Duschkopf, ein blauer, mit Fischen gemusterter Duschvorhang, eine weiße Badewanneneinlage. An den weiß gekachelten Wänden hinten einige Fotos, die sie ebenfalls beim Laufen zeigten, allerdings nicht bei demselben Wettkampf wie auf dem Foto im Vorraum. Sie hatte verschiedene Startnummern auf der Brust, musste also an diversen Rennen teilgenommen haben. Offenbar war es ihre große Leidenschaft gewesen. Das und Parfüms. Auf der Ablage standen sechs Flakons, alles Designermarken. Fendi, Giorgio Armani, Escada. Er fragte sich, ob sie sie in einem Discountladen gekauft oder mit siebzig Prozent Rabatt im Internet bestellt hatte. So hatte er nämlich vor einem Monat, ein wenig verfrüht, seine Weihnachtseinkäufe erledigt.

Nur dass er es inzwischen nicht mehr für eine gute Idee hielt, Georgia Bacardi ein Parfüm namens Trouble – Ärger – zu schenken, das er für einundzwanzig Dollar zehn, ein gewaltiger Preisnachlass, ergattert hatte, weil die Verpackung fehlte. Als er bei eBay auf das Angebot gestoßen war, hatte er es als witzige Anspielung empfunden. Inzwischen jedoch war es gar nicht mehr witzig, denn sie hatten wirklich Ärger. Es herrschte so dicke Luft, dass sie eigentlich nur noch stritten und ihre Besuche und Anrufe immer seltener wurden. Ein eindeutiges Warnzeichen. Die Geschichte wiederholte sich. Er hatte noch nie eine längere Beziehung durchgehalten. Sonst wäre er jetzt auch nicht mit Bacardi zusammen, sondern vielleicht immer noch glücklich mit Doris verheiratet gewesen.

Er öffnete das Badezimmerschränkchen über dem Waschbecken, denn er wusste, dass Scarpetta sich sofort nach dem Inhalt erkundigen würde. Motrin, Midol, Heftpflaster, um vom Wundscheuern bedrohte Stellen abzukleben, Pflaster, sterile Kompressen, ein Mittel gegen Wasserblasen und viele Vitamine. Es waren auch drei Döschen mit einem rezeptpflichtigen Medikament dabei, stets dasselbe Präparat, allerdings waren auf den Aufklebern unterschiedliche Daten vermerkt. Diflucan. Marino war zwar kein Apotheker, aber er wusste, was Diflucan war, und kannte die Probleme, wenn eine Frau, auf die er stand, es nehmen musste.

Möglicherweise hatte Toni chronische Probleme mit Pilzinfektionen gehabt, möglicherweise weil sie häufig Sex hatte. Vielleicht hatte es ja auch etwas mit dem vielen Joggen zu tun. Oder damit, dass sie Nylonstrumpfhosen oder andere nicht atmungsaktive Materialien wie Lackleder oder Vinyl trug. Eingeschlossene Feuchtigkeit war der Feind Nummer eins, hatte Marino im Laufe der Jahre gelernt. Das und wenn man seine Sachen nicht heiß genug wusch. Er hatte sogar von Frauen gehört, die ihre Slips in die Mikrowelle steckten. Eine Frau, mit der er in seiner Zeit bei der Richmonder Polizei liiert gewesen war, hatte sogar ganz auf Unterwäsche verzichtet und behauptet, der Luftzug sei die beste Vorbeugung. Er hatte nichts dagegen gehabt. Marino stellte eine Liste sämtlicher Gegenstände im Badezimmerschränkchen und im Unterschränkchen auf. Es waren hauptsächlich Kosmetika.

Er war immer noch im Bad und fotografierte, als Mellnick erschien. Er telefonierte und signalisierte Marino mit einem hochgereckten Daumen, dass er Detective Bonnell aufgespürt hatte.

Marino nahm das Telefon von ihm entgegen. »Ja?«

»Was kann ich für Sie tun?« Eine angenehme, dunkle Frauenstimme, die Marino gefiel.

Er kannte Bonnell nicht und hatte bis heute noch nie von ihr gehört. Das war bei einer Polizeibehörde wie der in New York, die etwa vierzigtausend Polizisten, davon sechstausend Detectives, beschäftigte, nicht weiter verwunderlich. Marino bedeutete Mellnik mit einer Kopfbewegung, er solle draußen im Treppenhaus warten.

»Ich brauche Informationen«, sagte Marino ins Telefon. »Ich arbeite bei Berger und glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«

»Wenn Berger etwas von mir will, kann sie mich anrufen.«

Marino war es gewohnt, dass die Leute versuchten, ihn zu übergehen, um sich direkt mit Berger in Verbindung zu setzen. Wie oft hatte er sich mit den verschiedensten Ausflüchten herumärgern müssen, warum der Betreffende unbedingt mit ihr persönlich und nicht mit ihm sprechen wollte. Offenbar war Bonnell erst seit kurzem bei der Mordkommission. Sonst wäre sie nicht so fordernd und forsch aufgetreten. Vielleicht hatte sie ja auch Gerüchte über ihn aufgeschnappt und beschlossen, ihn nicht zu mögen, ohne sich selbst ein Bild von ihm gemacht zu haben.

»Wissen Sie, sie ist zurzeit ein wenig beschäftigt«, meinte er. »Deshalb hat sie mich damit beauftragt, Fragen zu beantworten. Sicher möchte sie den morgigen Tag nicht mit einem Anruf des Bürgermeisters beginnen, der wissen will, was zum Teufel sie unternimmt, um die kläglichen Überreste der Tourismusbranche zu retten. Wenn eine Woche vor Weihnachten eine Joggerin im Central Park vergewaltigt und ermordet wird, verzichtet so mancher darauf, mit Frau und Kindern nach New York zu kommen, um sich die Rockettes anzuschauen.«

»Ich nehme an, sie hat noch nicht mit Ihnen gesprochen.«

»Doch, hat sie. Warum, glauben Sie, bin ich in Toni Dariens Wohnung?«

»Falls Berger Informationen von mir braucht, hat sie meine Nummer«, entgegnete Bonnell. »Ich erfülle ihr gern jeden Wunsch.«

»Warum lassen Sie mich durch den Reifen springen?« Marino war bereits stinksauer, und dabei telefonierte er erst eine knappe Minute mit ihr.

»Wann haben Sie zuletzt mit ihr geredet?«

»Weshalb interessiert Sie das?« Irgendetwas war hier im Busch. Eine Sache, von der Marino nichts ahnte.

»Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie meine Frage beantworten würden«, beharrte Bonnell. »Eine Hand wäscht die andere.«

»Sie und Ihre Leute waren heute Morgen noch nicht einmal mit dem Fundort am Park fertig, als ich mit ihr telefoniert habe. Sobald man sie benachrichtigt hatte, hat sie mich angerufen, denn schließlich leitet sie diese gottverdammten Ermittlungen.« Nun war es Marino, der klang, als müsse er sich rechtfertigen. »Seitdem hatte ich sie den ganzen Tag immer wieder an der Strippe.«

Das stimmte nicht ganz, denn er hatte genau drei Mal mit Berger telefoniert, das letzte Mal vor ungefähr drei Stunden. »Was ich sagen wollte«, fuhr Bonnell fort, »ist, dass Sie sich vielleicht wieder an sie wenden sollten anstatt an mich.« »Wenn ich Lust auf ein Gespräch mit ihr hätte, würde ich sie anrufen. Ich rufe aber Sie an, weil ich einige Dinge in Erfahrung bringen muss. Haben Sie ein Problem damit?«, erwiderte Marino und ging ärgerlich in der Wohnung hin und her. »Könnte sein.«

»Wie heißen Sie noch mal mit Vornamen? Und verschonen Sie mich mit den Initialen.«

»L. A. Bonnell.«

Marino fragte sich, wie sie wohl aussah und wie alt sie war. »Nett, Sie kennenzulernen. Ich bin P. R. Marino, wie in PR-Arbeit, mein besonderes Talent. Eigentlich wollte ich mich nur vergewissern, ob Ihre Leute Toni Dariens Laptop und Mobiltelefon mitgenommen haben oder ob die Sachen bei Ihrer Ankunft schon fehlten.«

»Sie waren weg. Wir haben nur die Ladegeräte vorgefunden.«

»Besaß Toni eine Handtasche oder eine Aktenmappe? Bis auf ein paar leere Handtaschen im Schrank kann ich nichts entdecken, was sie täglich benutzt haben könnte, und ich bezweifle, dass sie mit Handtasche joggen gegangen ist.«

Eine Pause entstand. »Nein, ich habe nichts dergleichen bemerkt.«

»Nun, das ist wichtig. Denn wenn sie eine Handtasche oder Aktenmappe hatte, sind sie verschwunden. Haben Sie Beweismittel fürs Labor sichergestellt?«

»Derzeit betrachten wir die Wohnung nicht als Tatort.«

»Mich wundert, warum Sie sie so kategorisch ausschließen und was Sie so sicher macht, dass es keinerlei Zusammenhänge gibt. Weshalb sind Sie so überzeugt, dass der Mörder nicht aus ihrem Bekanntenkreis stammt oder sogar schon einmal in ihrer Wohnung war?«

»Sie wurde nicht dort ermordet, und es existieren weder Einbruchsspuren noch Hinweise darauf, dass etwas gestohlen oder verändert wurde«, antwortete Bonnell. Sie klang wie eine Presseerklärung.

»Hey, Sie reden hier mit einem Kollegen, nicht mit einem dämlichen Reporter«, protestierte Marino.

»Das einzig Ungewöhnliche ist, dass Laptop und Mobiltelefon fehlen. Und vielleicht auch die Sache mit der Handtasche beziehungsweise Aktenmappe. Gut, ich stimme zu, dass wir der Sache auf den Grund gehen müssen«, erwiderte Bonnell in weniger förmlichem Ton. »Aber wir sollten das auf später verschieben, wenn Jaime Berger zurück ist und wir uns zusammensetzen können.«

»Ich finde, Sie sollten sich eingehender mit Tonis Wohnung befassen und sich Gedanken darüber machen, dass möglicherweise jemand eingedrungen sein und die besagten Gegenstände entwendet haben könnte.« Marino ließ nicht locker.

»Nichts spricht dagegen, dass sie die Sachen selbst anderswohin gebracht hat.« Offenbar wusste Bonnell etwas, das sie ihm am Telefon nicht verraten wollte. »Zum Beispiel hätte sie ihr Mobiltelefon letzte Nacht beim Joggen dabeihaben können, und der Täter hat es ihr weggenommen. Oder sie hat es vor dem Joggen irgendwo hinterlegt. Bei einer Freundin oder einem Freund. Schwer festzustellen, wann sie zuletzt zu Hause war. Die Angelegenheit ist ziemlich mysteriös.«

»Haben Sie Zeugen befragt?«

»Denken Sie, ich hätte mir die Zeit mit einem Einkaufsbummel vertrieben?« Sie wurde immer patziger.

»Damit meinte ich, hier im Haus«, entgegnete Marino. »Ich werde gleich nach meinem Telefonat mit Ihnen alles an Berger weitergeben«, fügte er hinzu, als Schweigen entstand, das er als passiven Widerstand deutete. »Also würde ich vorschlagen, dass Sie mir reinen Wein einschenken. Ansonsten müsste ich ein paar Bemerkungen zum Thema mangelnde Kooperationsbereitschaft fallenlassen. «

»Berger und ich haben keine Kooperationsprobleme.« »Gut, und daran soll sich auch nichts ändern. Ich habe Sie etwas gefragt: Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit einigen Zeugen«, sagte Bonnell. »Ein Mann, der auf ihrer Etage wohnt, meinte, er habe sie gestern Nachmittag nach Hause kommen sehen. Er sei selbst gerade aus dem Büro zurück und auf dem Weg ins Fitnessstudio gewesen, als Toni die Treppe hinaufstieg. Während er den Flur entlangging, habe sie ihre Wohnungstür aufgeschlossen.«

»Ging er in ihre Richtung?«

»Auf beiden Seiten des Flurs befinden sich Treppen. Er hat die Treppe zu seiner Wohnung genommen, nicht die zu ihrer.«

»Das heißt, dass er sie nicht aus der Nähe gesehen hat.«

»Mit den Einzelheiten sollten wir uns später befassen. Wenn Sie das nächste Mal mit Jaime telefonieren, können Sie ihr ja vorschlagen, dass wir uns am besten zusammensetzen«, beharrte Bonnell.

»Sie werden mir die Einzelheiten jetzt sofort verraten. Das ist eine indirekte Anweisung von ihr«, erwiderte Marino. »Ich versuche gerade, mir die Szene vorzustellen, die Sie beschrieben haben. Der Typ hat Toni von seinem Ende des Flurs aus, also aus etwa dreißig Meter Entfernung, beobachtet. Haben Sie persönlich mit diesem Zeugen gesprochen?«

»Eine indirekte Anweisung. Diesen Ausdruck kannte ich bis jetzt noch nicht. Ja, ich habe ihn selbst vernommen.«

»Seine Wohnungsnummer?«

»Eins-zehn, das ist von der Wohnung des Opfers aus betrachtet drei Türen weiter auf der linken Seite. Am anderen Ende des Flurs.«

»Ich statte ihm einen Besuch ab, bevor ich gehe.« Marino holte den zusammengefalteten Ausdruck aus dem RTCC heraus, um festzustellen, wer in Wohnung 110 lebte.

»Ich glaube, er wird nicht da sein. Mir hat er nämlich erzählt, er wolle für ein verlängertes Wochenende verreisen. Er hatte zwei Reisetaschen und ein Flugticket bei sich. Ich fürchte, Sie sind da auf dem Holzweg.«

»Was meinen Sie mit ›auf dem Holzweg‹?« Verdammt, warum enthielt man ihm wichtige Fakten vor?

»Das heißt, dass Ihre und meine Informationen möglicherweise voneinander abweichen«, entgegnete Bonnell. »Ich versuche, Ihnen auf Ihre indirekte Anweisung hin etwas mitzuteilen, und Sie hören mir nicht richtig zu.«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich sage Ihnen, was ich weiß, und umgekehrt. Graham Tourette«, las Marino vom Computerausdruck ab. »Einundvierzig Jahre alt, Architekt. Ich bekomme meine Informationen, weil ich mir die Zeit nehme, danach zu suchen. Keine Ahnung, woher Sie Ihre haben, aber ich habe ganz den Eindruck, dass Sie sich diese Mühe lieber sparen.«

»Graham Tourette ist der Mann, mit dem ich gesprochen habe.« Inzwischen klang Bonnell nicht mehr patzig, sondern argwöhnisch.

»Kannte dieser Graham Tourette Toni besser?«, erkundigte sich Marino.

»Er behauptete, nein. Er habe nicht einmal gewusst, wie sie hieß. Aber er ist sicher, dass sie gestern gegen sechs ihre Wohnung betreten hat. Sie habe ihre Post in der Hand gehabt, also Briefe, Zeitschriften und ein Flugblatt. Mir gefällt es gar nicht, das alles am Telefon zu erörtern. Außerdem kann mich momentan sonst niemand erreichen, weil die Leitung blockiert ist. Ich lege jetzt besser auf. Wenn Jaime zurückkommt, treffen wir uns.«

Marino hatte kein Wort darüber verloren, dass Berger sich nicht in der Stadt aufhielt. Allmählich hatte er den Verdacht, dass Bonnell mit ihr telefoniert hatte und nicht beabsichtigte, ihm den Inhalt des Gesprächs zu verraten. Also wussten Berger und Bonnell anscheinend mehr als Marino.

»Was für ein Flugblatt?«, fragte er.

»Es war auf grellrosa Papier gedruckt. Er meinte, er habe es aus der Entfernung erkannt, weil an diesem Tag, also gestern, alle Mieter so eines erhalten hatten.«

»Haben Sie Tonis Briefkasten überprüft?«, erkundigte sich Marino.

»Der Hausmeister hat ihn für mich geöffnet«, antwortete Bonnell. »Man braucht dazu einen Schlüssel. Ihre Schlüssel steckten in ihrer Tasche, als sie im Park aufgefunden wurde. Um es einmal so auszudrücken, wir haben es mit einer heiklen Situation zu tun.«

»Ja, das ist mir klar. Sexualmorde im Central Park sind immer heikel. Ich habe die Fotos vom Fundort gesehen, was ich, nebenbei bemerkt, nicht Ihnen zu verdanken habe. Ich musste sie mir bei den Mordermittlern von der Gerichtsmedizin besorgen. Drei Schlüssel an einem Anhänger mit Glückswürfeln, die ihr leider kein Glück gebracht haben.«

»Als ich heute Morgen mit der Spurensicherung dort war, war der Briefkasten leer«, verkündete Bonnell.

»Ich habe zwar die Festnetznummer von diesem Tourette, aber nicht die Mobilfunknummer. Wären Sie so gut, mir alle Informationen über ihn zu mailen, für den Fall, dass ich mit ihm sprechen möchte?« Marino gab ihr seine E-Mail-Adresse. »Außerdem müssen wir uns die Aufnahmen der Überwachungskamera anschauen. Wie ich annehme, gibt es eine an der Vorderseite des Hauses. Vielleicht sogar eine in der Nähe, sodass wir feststellen können, wer gekommen und gegangen ist. Das Beste wäre, wenn ich mich mit meinen Kontaktleuten im RTCC in Verbindung setze und sie bitte, sich direkt in diese Kamera einzuklinken.«

»Wozu soll das gut sein?« Inzwischen hörte Bonnell sich entnervt an. »Wir haben rund um die Uhr einen Polizisten vor Ort. Glauben Sie, dass der Täter sich noch einmal blicken lässt, falls die Wohnung wirklich Hinweise auf den Mord liefert?«

»Man kann nie wissen, wer Lust auf einen Spaziergang kriegt«, erwiderte Marino. »Mörder sind ein neugieriges und paranoides Völkchen. Manchmal wohnen sie sogar auf der anderen Straßenseite oder sind der nette Junge von nebenan. Alles ist möglich. Der Punkt ist, dass wir die Bilder ganz sicher kriegen und verhindern können, dass sie versehentlich gelöscht werden, wenn wir die Kamera mit dem Zentralcomputer vernetzen. Und was noch viel wichtiger ist: Berger wird die Aufnahmen sehen wollen. Außerdem interessiert sie sich bestimmt für den Bandmitschnitt, als die Person, die die Leiche gefunden hat, die Polizei verständigte.«

»Es war nicht nur einer«, antwortete Bonnell. »Einige Leute haben im Vorbeifahren angerufen, weil sie glaubten, etwas gesehen zu haben. Seitdem läutet das Telefon ununterbrochen. Wir sollten uns treffen. Da Sie offenbar nicht aufgeben, unterhalten wir uns am besten persönlich.«

»Wir brauchen außerdem Tonis Telefonunterlagen und ihre E-Mails«, sprach Marino weiter. »Hoffentlich gibt es eine logische Erklärung für das Fehlen des Telefons und des Laptops, zum Beispiel, dass sie sie bei einer Freundin gelassen hat. Dasselbe gilt für ihre Handtasche und ihre Aktenmappe.«

»Wie ich schon sagte. Wir sollten uns unterhalten.«

»Aber das tun wir doch gerade.« Marino hatte nicht vor, sich von Bonnell die Bedingungen vorschreiben zu lassen. »Vielleicht meldet sich ja jemand und sagt, Toni habe ihn besucht, sei joggen gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Dann haben wir ihren Laptop, ihr Telefon, ihre Handtasche und ihre Aktenmappe, und ich fühle mich möglicherweise ein wenig besser. Denn im Moment geht es mir gar nicht gut. Ist Ihnen das gerahmte Foto von ihr auf dem kleinen Tisch hinter der Tür aufgefallen?« Marino trat in den Vorraum und griff danach. »Sie nimmt unter der Startnummer 343 an einem Wettlauf teil. Im Bad hängen auch welche.«

»Was soll damit sein?«, wunderte sich Bonnell.

»Auf keinem der Fotos trägt sie Kopfhörer oder einen iPod, und in ihrer Wohnung habe ich auch nichts dergleichen gefunden.«

»Und?«

»Ich will auf Folgendes hinaus«, fuhr Marino fort. »Nämlich darauf, dass Sie nicht über den eigenen Tellerrand hinausschauen. Marathonläufer und die Teilnehmer an Wettrennen dürfen nämlich keine Musik hören. Streng verboten. Als ich noch in Charleston gewohnt habe, war der Marine Corps Marathon stets Titelgeschichte. Es wurde gedroht, jeden Läufer zu disqualifizieren, der mit Kopfhörern aufkreuzt.«

»Muss ich das jetzt verstehen?«

»Falls sich jemand von hinten an Sie anschleicht, um Ihnen eins über den Schädel zu ziehen, sind die Chancen, dass Sie das mitkriegen, um einiges höher, wenn Sie sich nicht auf voller Lautstärke mit Musik zudröhnen. Toni Darien hat beim Laufen vermutlich nicht Musik gehört. Dennoch hat es der Täter geschafft, ihr auf den Hinterkopf zu schlagen, ohne dass sie sich auch nur umgedreht hätte. Finden Sie das nicht merkwürdig?«

»Sie können nicht wissen, ob der Täter sie nicht von vorn angegriffen hat. Vielleicht hat sie sich ja abgewandt oder sich geduckt, um ihr Gesicht zu schützen«, entgegnete Bonnell. »Schließlich wurde sie nicht direkt am Hinterkopf getroffen, sondern eher links hinter dem Ohr. Also hätte sie sich genauso gut umdrehen und sich wehren können, war aber zu langsam. Könnte es sein, dass Sie Mutmaßungen anstellen, weil Ihnen die Informationen fehlen?«

»Jemand, der versucht, auf einen Angriff zu reagieren oder sich zu schützen, hebt instinktiv die Arme und Hände und zieht sich auf diese Weise Abwehrverletzungen zu«, erwiderte Marino. »Auf den Fundortfotos, die ich kenne, hat sie jedoch keine. Allerdings habe ich noch nicht mit Dr. Scarpetta gesprochen und werde es mir von ihr bestätigen lassen. Ich habe eher den Eindruck, dass Toni Darien völlig ahnungslos war und von einer Sekunde auf die andere auf dem Boden lag. Und das erscheint mir bei jemandem, der nach Einbruch der Dunkelheit joggt und vermutlich gewohnt ist, auf seine Umgebung zu achten, ziemlich ungewöhnlich. Immerhin läuft sie häufig, und zwar ohne Kopfhörer.«

»Hat sie gestern Nacht an einem Rennen teilgenommen? Was bringt Sie auf den Gedanken, dass sie niemals Kopfhörer getragen hat? Vielleicht hatte sie gestern ja welche dabei, und der Mörder hat den iPod oder Walkman gestohlen.«

»Soweit ich über ernsthafte Läufer im Bilde bin, benutzen sie keine Kopfhörer, egal ob sie nun im Wettkampf sind oder nur trainieren. Insbesondere in der Stadt. Sie brauchen nur die Augen aufzumachen. Verraten Sie mir, wie viele ernsthafte Jogger in New York Sie schon mit Kopfhörern gesehen haben. In diesem Fall würden sie nämlich abgelenkt, landen womöglich auf dem Radweg, werden versehentlich von einem Auto überfahren oder von hinten überfallen.«

»Joggen Sie?«

»Jetzt passen Sie mal gut auf. Ich habe keine Ahnung, was Sie mir hier offenbar verschweigen, doch ich schließe aus dem, was ich vor meiner Nase habe, dass wir mit vorschnellen Urteilen vorsichtig sein sollten, solange wir einen Scheißdreck wissen«, gab Marino zurück.

»Ganz Ihrer Ansicht. Dasselbe versuche ich Ihnen ebenfalls klarzumachen, P. R. Marino.«

»Wofür ist L. A. die Abkürzung?«

»Nur für eine Stadt in Kalifornien. Wenn Sie mich also nicht mit Bonnell oder mit Arschloch ansprechen wollen, nennen Sie mich L. A.«

Marino schmunzelte. Möglicherweise war sie ja doch nicht so schlimm. »Ich sage Ihnen was, L. A.«, antwortete er. »Ich wollte in ein paar Minuten ins High Roller Lanes fahren. Warum treffen wir uns nicht dort? Bowlen Sie?«

»Ich glaube, dazu muss man einen IQ unter sechzig haben. Sonst leihen sie einem keine Schuhe.«

»Eher siebzig. Und ich bin ziemlich gut«, erwiderte Marino. »Außerdem habe ich meine eigenen Schuhe.«