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Der Chief Medical Examiner von New York City beugte sich gerade über ein Mikroskop, als Scarpetta leise an seine offene Tür klopfte.

»Sie wissen ja, was passiert, wenn Sie bei einer Dienstbesprechung fehlen, oder?«, meinte Dr. Edison, ohne aufzublicken, und legte einen neuen Objektträger ein. »Man redet über Sie.«

»Ich will es lieber gar nicht wissen.« Scarpetta betrat das Büro und setzte sich auf einen geschwungenen Stuhl aus Ulmenholz, der vor dem Schreibtisch seines Stellvertreters stand.

»Nun, ich werde es mal ein wenig einschränken. Bei der Debatte ging es nicht um Sie an sich.« Er drehte sich zu ihr um. Sein weißes Haar sträubte sich, und seine scharfen Augen musterten sie so aufmerksam wie die eines Falken. »Sie waren eher am Rande das Thema. Hauptsächlich wurde über CNN, TLC, Discovery und alle anderen Kabelsender unter der Sonne gesprochen. Wissen Sie, wie viele Anrufe wir täglich kriegen?«

»Ich bin sicher, dass Sie dafür eine eigene Sekretärin einstellen könnten.«

»Und das, obwohl wir in Wirklichkeit gezwungen sind, Mitarbeitern wie Assistenten und Technikern zu kündigen. Wir haben sogar die Gebäudereinigung und den Sicherheitsdienst einschränken müssen«, fuhr er fort. »Der Himmel weiß, wo das noch enden wird, wenn der Staat seine Drohung wahr macht und unseren Haushalt um weitere dreißig Prozent kürzt. Wir sind hier doch nicht in der Unterhaltungsbranche. Das will ich nicht, und ich kann es mir nicht leisten.«

»Es tut mir leid, wenn Sie meinetwegen Schwierigkeiten haben, Brian.«

Dr. Edison war der vermutlich beste Forensiker, den Scarpetta je persönlich kennengelernt hatte. Seine Mission stand fest – auch wenn sie sich ein wenig von ihrer unterschied –, und es gab für ihn nichts daran zu rütteln. In seinen Augen war die forensische Medizin der öffentlichen Gesundheit verpflichtet, ein Bereich, in dem die Medien nichts zu suchen hatten. Ihre Aufgabe beschränkte sich darauf, die Bevölkerung über lebensgefährliche Bedrohungen wie eine Verseuchung mit Chemikalien oder ansteckende Krankheiten aufzuklären, ob es nun eine neue, möglicherweise todbringende Babywiege oder ein Ausbruch des Hantavirus war. Scarpetta fand diesen Ansatz nicht unbedingt falsch. Das Problem bestand nur darin, dass er nicht mehr zeitgemäß war. Die Welt hatte sich verändert, und das nicht unbedingt zum Besseren.

»Ich taste mich vorsichtig auf einem Weg voran, den ich mir nicht ausgesucht habe«, erwiderte Scarpetta. »Während Sie über den Dingen stehen. Was machen wir also?«

»Sollen wir uns etwa auf das Niveau der anderen herablassen?«

»Hoffentlich denken Sie nicht, dass ich das tue.«

»Wie schätzen Sie Ihre Karriere bei CNN ein?« Er griff nach einer Pfeife aus Bruyèreholz, die er in diesem Gebäude nicht mehr rauchen durfte.

»Ich betrachte es nicht als Karriere«, entgegnete sie, »sondern eher als Gelegenheit, Informationen auf eine Art und Weise zu verbreiten, wie ich sie in diesen Zeiten für notwendig halte.«

»Wenn man sie nicht schlagen kann, mischt man eben mit.«

»Falls Sie möchten, höre ich auf damit, Brian. Das habe ich Ihnen von Anfang an zugesichert. Ich würde diese Behörde niemals absichtlich in Misskredit bringen oder in irgendeiner Weise kompromittieren.«

»Wir brauchen das Thema nicht noch einmal durchzukauen«, sagte er. »Theoretisch teile ich Ihre Auffassung, Kay. Die Öffentlichkeit ist, was Strafrecht und Forensik betrifft, so schlecht informiert wie nie zuvor. Und ja, dieser Mangel an Wissen führt dazu, dass Tatorte kontaminiert werden, Prozesse scheitern und unsinnige Gesetze verabschiedet werden, was den Steuerzahler eine Stange Geld kostet. Aber im Grunde meines Herzens glaube ich nicht, dass sich diese Probleme durch Fernsehsendungen lösen lassen. Zugegeben, das ist meine persönliche Meinung, und ich bin nun einmal ein wenig altmodisch. Deshalb fühle ich mich hin und wieder verpflichtet, Sie zu warnen, damit Sie nicht ins Fettnäpfchen treten. Zum Beispiel im Fall Hannah Starr.«

»Wie ich annehme, war das der wichtigste Tagesordnungspunkt der Dienstbesprechung, wenn es nicht um mich persönlich ging«, entgegnete Scarpetta.

»Ich schaue mir solche Sendungen nicht an.« Geistesabwesend spielte er mit seiner Pfeife herum. »Allerdings scheinen die Carley Crispins und Warner Agees auf dieser Welt Hannah Starr zu ihrem Jahrhundertprojekt gemacht zu haben und sehen sie als die nächste Caylee Anthony oder Anna Nicole Smith. Gott verhüte, dass Sie heute Abend im Fernsehen nach unserer ermordeten Joggerin gefragt werden.«

»Ich habe mit CNN vereinbart, dass ich nicht über laufende Ermittlungen spreche.«

»Weiß diese Crispin das auch? Sie gilt als Mensch, der sich nicht an die Regeln hält, und wird heute Abend vor laufender Kamera reden wie ein Wasserfall.«

»Man hat mich gebeten, das Mikroskopieren, insbesondere die Haaranalyse, zu erörtern«, antwortete Scarpetta.

»Das ist gut und wahrscheinlich auch hilfreich. Viele unserer Kollegen in den Labors sind nämlich besorgt, dass ihr Fachbereich ins Hintertreffen geraten könnte, da Öffentlichkeit und Politik inzwischen um das goldene Kalb DNA tanzen, mit der sich angeblich alle Probleme lösen lassen. Zum Teufel mit Fasern, Haaren, Toxikologie, Urkundenfälschung und sogar Fingerabdrücken!« Dr. Edison legte die Pfeife zurück in den schon seit Jahren unbenutzten Aschenbecher. »Ich nehme an, Toni Darien wurde eindeutig identifiziert. Die Polizei wird das sicher öffentlich bekanntgeben wollen.«

»Ich habe keine Einwände dagegen, dass ihr Name genannt wird, möchte jedoch auf keinen Fall, dass meine Untersuchungsergebnisse in Umlauf geraten. Ich habe nämlich den Verdacht, dass der Fundort inszeniert war. Sie wurde anderswo ermordet und war vielleicht gar nicht beim Joggen, als der Täter sie überwältigt hat.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Es gibt da eine Reihe von Gründen. Erstens wurde sie auf den Hinterkopf geschlagen. Es war ein einziger Schlag, der die Rückseite des linken Schläfenknochens getroffen hat.« Scarpetta berührte die entsprechende Stelle an ihrem Kopf, um es ihm zu zeigen. »Möglicherweise hat sie danach noch einige Stunden gelebt, worauf die große Menge an flüssiger und weicher Masse und die Einblutungen im Gewebe unterhalb der Kopfhaut hinweisen. Der Schal wurde ihr erst nach dem Tod um den Hals geschlungen.«

»Und was könnte die Waffe gewesen sein?«

»Wir haben es mit einer runden, sich verengenden Bruchstelle zu tun, durch die einige Knochenfragmente ins Gehirn gedrückt worden sind. Also muss der Gegenstand, mit dem sie geschlagen wurde, eine abgerundete Fläche von mindestens fünfzig Millimeter Durchmesser aufweisen.«

»Die Stelle wurde nicht durchstoßen, sondern zersplittert«, fügte er hinzu. »Deshalb kann es sich nicht um einen Hammer oder ein rundes, flaches Objekt handeln. Und bei einem Durchmesser von fünfzig Millimetern kommt ein Baseballschläger auch nicht in Frage. Das Ding muss etwa die Größe einer Billardkugel haben. Ich bin wirklich neugierig, was es gewesen sein könnte.«

»Ich denke außerdem, dass sie schon seit Dienstag tot ist«, ergänzte Scarpetta.

»Hat die Verwesung bereits eingesetzt?«

»Ganz und gar nicht. Aber die Totenflecken weisen darauf hin, dass sie nach ihrer Ermordung einige Zeit, das heißt mindestens zwölf Stunden, auf dem Rücken gelegen haben muss, und zwar unbekleidet, mit den Armen an den Seiten und den Handflächen nach unten. So wurde sie jedoch nicht aufgefunden. Am Park war ihre Leiche anders drapiert worden. Sie lag zwar auf dem Rücken, hatte die Arme allerdings über den Kopf gehoben und an den Ellenbogen leicht angewinkelt, als hätte jemand sie an den Handgelenken gezogen oder geschleift.«

»Totenstarre?«, erkundigte er sich.

»Sie ließ sofort nach, als ich versucht habe, ihre Gliedmaßen zu bewegen. Mit anderen Worten, sie war bereits voll ausgebildet gewesen und klang allmählich ab. Und auch das dauert seine Zeit.«

»Dann war es vermutlich nicht schwer, sie zu bewegen. Darauf wollen Sie vermutlich hinaus. Wenn ihre Leiche steif gewesen wäre, hätte der Täter sie wohl kaum am Park ablegen können«, merkte er an. »Soll das bedeuten, dass sie an einem kühlen Ort aufbewahrt und auf diese Weise ein oder zwei Tage konserviert worden ist?«

»Ihre Finger, ihre Lippen waren ausgetrocknet. Außerdem wies sie tache noir auf – ihre Augen standen leicht offen, und die Bindehaut war durch Austrocknung braun verfärbt. Ihre Temperatur unter der Achselhöhle lag bei fünfzehn Grad«, fuhr Scarpetta fort. »Gestern betrugen die Tiefsttemperaturen fünf Grad, die Höchsttemperaturen tagsüber zehn Grad. Der Schal hat eine oberflächliche, trockene, braun verfärbte Spur hinterlassen. Das Gesicht ist nicht rot angelaufen, die Netzhaut zeigt keine Petechien. Die Zunge hing nicht heraus.«

»Also war sie schon tot«, schlussfolgerte Dr. Edison. »War der Schal in einem bestimmten Winkel festgebunden?«

»Nein, mitten am Hals.« Sie zeigte es ihm an ihrem eigenen Hals. »Und zwar vorn mit einem Doppelknoten, den ich natürlich nicht aufgeschnitten habe. Zum Entfernen des Schals habe ich ihn von hinten durchtrennt. Es hatte keine körperliche Reaktion stattgefunden, auch nicht an den inneren Organen. Zungenbändchen, Schilddrüse und Halsmuskulatur waren intakt und unverletzt.«

»Ein weiterer Beleg für Ihre Theorie, dass sie anderswo ermordet und später am helllichten Tag am Fundort in der Nähe des Parks und in aller Öffentlichkeit abgelegt wurde. Vielleicht sollte sie rasch entdeckt werden, wenn morgens die ersten Passanten unterwegs sind«, sagte er. »Gibt es Hinweise darauf, dass sie irgendwann gefesselt war? Handelt es sich um ein Sexualverbrechen?«

»Ich konnte keine Abschürfungen oder Einkerbungen von einer Fesselung feststellen. Auch keine Abwehrverletzungen«, erwiderte Scarpetta. »Allerdings bin ich auf zwei Blutergüsse an den Innenseiten der Oberschenkel gestoßen. Die Gesäßfalte weist oberflächliche Abschürfungen, leichte Blutungen und Blutergüsse auf. Die Schamlippen sind gerötet. Weder am Scheideneingang noch in der Scheide selbst befinden sich Körperflüssigkeiten. Doch an der hinteren Scheidenwand hat sie eine merkwürdige Abschürfung. Deshalb habe ich ein PERK verwendet.«

Damit meinte sie das Physical Evidence Recovery Kit – Utensilien zur Sicherstellung von Beweismitteln am Körper –, zu dem auch Wattestäbchen für einen DNA-Abstrich gehörten.

»Außerdem habe ich sie mit einer forensischen Lichtquelle untersucht und alles eingesammelt, was ich finden konnte, einschließlich Fasern, die hauptsächlich von ihrem Haar stammen«, fuhr sie fort. »Das Kopfhaar, das ich rund um die Verletzung abrasiert habe, war ziemlich stark mit Staub und Schutt durchsetzt. Mit einer Lupe konnte ich einige Lacksplitter erkennen, von denen sich manche tief in die Wunde eingegraben hatten. Grellrot, hellgelb und schwarz. Wir müssen abwarten, was die Kriminaltechnik davon hält. Ich habe alle Labors gebeten, sich nach Möglichkeit zu beeilen.«

»Ich glaube, darum bitten Sie sie immer.«

»Und es gibt noch ein interessantes Detail. Sie trug die Socken an den Füßen falsch herum«, fügte Scarpetta hinzu.

»Wie können Socken an den Füßen falsch herum sein? Oder meinen Sie vielleicht, mit der Innenseite nach außen?«

»Laufsocken sind anatomisch korrekt für den rechten und den linken Fuß geschnitten und sogar dementsprechend gekennzeichnet. Auf der linken Socke steht ein L, auf der rechten ein R. Aber sie hatte sie verkehrt herum an, also die rechte Socke am linken Fuß und die linke am rechten.«

»Hat sie sie beim Anziehen vielleicht selbst verwechselt?« Dr. Edison schlüpfte in sein Sakko.

»Das wäre natürlich eine Möglichkeit. Doch da sie so großen Wert auf ihre Sportbekleidung legte, halte ich das eigentlich für ausgeschlossen. Außerdem will mir nicht in den Kopf, warum sie bei Regen und Kälte joggen gegangen ist, und zwar ohne Handschuhe, ohne etwas, um die Ohren warm zu halten, und ohne Jacke. Nur in einem Vliespulli. Laut Mrs. Darien lief Toni nur sehr ungern bei schlechtem Wetter. Auch für die ungewöhnliche Uhr an Tonis Handgelenk hatte sie keine Erklärung. Es handelt sich um eine auffällig große Digitaluhr aus schwarzem Plastik, auf deren Rückseite das Wort BioGraph eingraviert ist. Ob man damit Daten speichern kann?«

»Haben Sie die Uhr schon gegoogelt?« Dr. Edison stand auf.

»Ich habe sogar Lucy mit der Suche beauftragt. Sie wird sich weiter damit beschäftigen, wenn das DNA-Labor sie nicht mehr braucht. Bis jetzt konnten wir keine Uhr und kein Datenspeichergerät namens BioGraph entdecken. Hoffentlich weiß einer von Tonis Ärzten oder jemand aus ihrem Bekanntenkreis, was das für eine Uhr ist und warum sie sie trug.«

»Ist Ihnen klar, dass sich Ihre Teilzeitstelle allmählich in eine Vollzeitbeschäftigung verwandelt?« Er griff nach seinem Aktenkoffer und nahm den Mantel vom Haken an der Tür. »Ich glaube, Sie waren den ganzen Monat kein einziges Mal in Massachusetts.«

»Hier ging es ziemlich rund.« Sie erhob sich ebenfalls und fing an, ihre Sachen einzusammeln.

»Wer ist dort Ihr Lokführer?«

»Die Gleise werden bald nach Boston führen«, antwortete Scarpetta, während sie den Mantel anzog und mit Dr. Edison das Büro verließ. »Wieder das gleiche alte Lied, was ein Jammer ist. Meine nordöstliche Außenstelle in Watertown wird vermutlich im Sommer geschlossen. Als ob die Kollegen in Boston nicht ohnehin schon in Arbeit ersticken würden.«

»Und Benton fliegt hin und her.«

»Mit der Shuttle-Maschine«, erwiderte Scarpetta. »Manchmal nimmt Lucy ihn auch mit dem Hubschrauber mit. Er war häufig hier.«

»Nett von ihr, dass sie uns wegen der BioGraph-Uhr hilft. Denn offiziell könnten wir uns ihre Computerkenntnisse nicht leisten. Aber wenn das DNA-Labor damit fertig und Jaime Berger einverstanden ist und das geheimnisvolle Gerät irgendwelche Daten enthält, würde ich gern davon erfahren. Morgen Vormittag habe ich eine Besprechung im Rathaus. Im Plenarsaal mit dem Bürgermeister und allen möglichen anderen Leuten. Unsere Branche schadet dem Tourismus. Erst Hannah Starr. Jetzt Toni Darien. Sie können sich sicher vorstellen, was ich zu hören kriegen werde.«

»Vielleicht sollten Sie die Damen und Herren daran erinnern, dass sie selbst mit ihren ständigen Haushaltskürzungen dem Tourismus den Todesstoß versetzen, weil sie uns daran hindern, unsere Arbeit zu machen.«

»Als ich in den frühen Neunzigern hier anfing, wurden zehn Prozent aller Tötungsdelikte im Land hier in New York verübt«, sagte er auf dem Weg durch die Vorhalle. Aus dem Radio dudelte Elton John. »Allein zweitausenddreihundert Morde in meinem ersten Jahr. Im vergangenen Jahr waren es knapp fünfhundert, das heißt ein Rückgang um achtundsiebzig Prozent. Aber das interessiert niemanden. Die Leute sehen nur das letzte Sensationsverbrechen. Filene und ihre Musik. Soll ich ihr das Radio wegnehmen?«

»So grausam wären Sie nie«, erwiderte Scarpetta.

»Sie haben recht. Die Mitarbeiter hier haben es nicht leicht und auch nur wenig Grund zur Freude.«

Sie traten auf den Gehweg hinaus, wo ein kalter Wind wehte. Auf der First Avenue dröhnte der Autolärm. Es war mitten im Berufsverkehr, Taxis rasten hupend vorbei, und die Sirenen der Krankenwagen, die zum einige Häuserblocks entfernten Bellevue-Klinikum oder zur Universitätsklinik Langone Medical Center gleich nebenan fuhren, heulten laut. Es war schon nach fünf und stockdunkel. Scarpetta kramte ihr BlackBerry aus der Handtasche, denn ihr war eingefallen, dass sie ja Benton anrufen musste.

»Viel Glück heute Abend«, meinte Dr. Edison und tätschelte ihr den Arm. »Aber ich schaue mir die Sendung sowieso nicht an.«

 

Dodie Hodge besaß ein Buch der Magie. Es war schwarz eingebunden und mit gelben Sternen verziert, und es begleitete sie überallhin.

»Zaubersprüche, Rituale, Talismane. Sie handelt mit Dingen wie Korallenstücken, eisernen Nägeln und kleinen Seidenbeutelchen voller Tonkabohnen«, erklärte Benton Dr. Clark. »Im McLean hatten wir deshalb große Schwierigkeiten mit ihr. Andere Patienten, ja, sogar Krankenhausmitarbeiter haben an ihre angeblichen Zauberkräfte geglaubt, sie gegen Bezahlung um Rat gefragt und ihr ihre Glücksbringer abgekauft. Sie behauptet, hellseherische und andere übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen, und wie Sie sich sicher denken können, sind problembeladene Menschen besonders empfänglich für diesen Hokuspokus.«

»Offenbar hatten ihre hellseherischen Fähigkeiten gerade Pause, als sie im Buchladen in Detroit die DVDs gestohlen hat. Doch vielleicht konnte sie ja auch voraussagen, dass man sie erwischen würde.« Dr. Clark kam der Wahrheit immer näher und hatte das Ziel fast erreicht.

»Wenn Sie sie fragen, hat sie nicht gestohlen. Die Videos gehören rechtmäßig ihr, weil Hap Judd ihr Neffe ist«, entgegnete Benton.

»Ist diese Verwandtschaft echt oder auch nur eine Erfindung? Eine Wahnvorstellung, wie Sie es ausgedrückt haben?«

»Wir wissen nicht, ob sie mit ihm verwandt ist«, antwortete Benton.

»Aber das müsste doch leicht herauszufinden sein«, gab Dr. Clark zurück.

»Ich habe heute Vormittag seine Agentin in L. A. angerufen«, gestand Benton. Er war nicht sicher, warum er so offen war, hatte jedoch geahnt, dass es dazu kommen würde.

Dr. Clark unternahm nichts, um das Schweigen zu füllen, und musterte Benton forschend.

»Die Agentin hat es weder bestätigt noch abgestritten und meinte, sie sei nicht befugt, Auskünfte über Hap Judds Privatleben zu erteilen«, fuhr Benton fort. Wieder stieg eine Welle der Wut in ihm noch, nur dass sie diesmal größer war als die vorherige. »Dann fragte sie mich, warum ich Erkundigungen über eine Person namens Dodie Hodge einzöge. Ihre Ausdrucksweise hat in mir den Verdacht geweckt, dass sie ganz genau wusste, von wem ich redete, obwohl sie es weiter abstritt. Natürlich hatte ich nicht die Möglichkeit, ihr ausführlich zu antworten, und sagte nur, ich hätte eine Information erhalten, die ich überprüfen müsse.«

»Sie haben ihr also nicht verraten, wer Sie sind und warum Sie sich für diese Frau interessieren.«

Bentons Schweigen sprach Bände. Nathan Clark kannte ihn sehr gut, sie waren Freunde. Vielleicht war er sogar Bentons einziger Freund und dazu der einzige Mensch, der Zutritt zu seinen Sperrgebieten hatte. Abgesehen von Scarpetta natürlich, doch auch sie hatte ihre Grenzen und mied Themen, vor denen sie sich fürchtete. Und das hier gehörte zu den Dingen, die ihr die meiste Angst machten. Dr. Clark stand kurz davor, Benton die Wahrheit zu entlocken, und dieser war bereit, es geschehen zu lassen. Es musste sein.

»Das ist das Problem, wenn man früher beim FBI war, stimmt’s?«, meinte Dr. Clark. »Die Versuchung ist groß, unterzutauchen und sich auf jede erdenkliche Weise Informationen zu beschaffen, selbst wenn man schon seit Jahren Zivilist ist.«

»Vermutlich hat sie mich für einen Journalisten gehalten.«

»Haben Sie sich denn als einer ausgegeben?«

Keine Antwort.

»Anstatt zu sagen, wer Sie sind, von wo aus sie anrufen und warum. Das wäre nämlich ein Verstoß gegen die Standesordnung«, fuhr Dr. Clark fort.

»Ja, das wäre es.«

»Betrachten wir es einmal als lässliche Sünde.«

Benton schwieg.

»Ich denke, wir müssen Ihre Zeit beim FBI ausführlich erörtern«, sagte Dr. Clark. »Es ist eine Weile her, dass wir Ihre Jahre im Zeugenschutzprogramm diskutiert haben, als Kay glaubte, das Verbrecherkartell der Familie Chandonne habe Sie ermordet. Es war die schlimmste Zeit in Ihrem Leben, denn Sie mussten sich verstecken und haben schreckliche Dinge durchgemacht, wie die meisten Menschen sie sich vermutlich gar nicht vorstellen können. Vielleicht sollten wir beide Ihren Gefühlen, was Ihre Vergangenheit beim FBI betrifft, auf den Grund gehen. Möglicherweise ist es ja noch zu früh, um von Vergangenheit zu sprechen.«

»Es ist sehr lange her. In einem anderen Leben. In einer anderen Behörde.« Benton war zwiegespalten, ob er darüber reden wollte, und ließ deshalb zu, dass Dr. Clark ihn weiter in die Zange nahm. »Aber wahrscheinlich stimmt der alte Spruch. Einmal Cop, immer Cop.«

»Ja, den kenne ich. Allerdings wage ich die Behauptung, dass es hier um mehr als nur um Sprüche geht. Sie haben gerade zugegeben, dass Sie sich heute wie ein Mitarbeiter einer Polizeibehörde verhalten haben, nicht wie ein Psychologe, bei dem das Wohlbefinden seines Patienten an erster Stelle stehen sollte. Dodie Hodge hat etwas in Ihnen ausgelöst.«

Benton schwieg.

»Etwas, das schon lange in Ihnen schwelt. Sie haben nur irrtümlicherweise geglaubt, es überwunden zu haben«, fügte Dr. Clark hinzu.

Benton erwiderte nichts.

»Und deshalb bin ich neugierig, was dieser Auslöser gewesen sein könnte. Denn Dodie selbst ist es eindeutig nicht. Dazu ist sie viel zu unwichtig. Sie ist eher der Katalysator«, sagte Dr. Clark. »Stimmen Sie mir da zu?«

»Ich weiß nicht, was sie ist. Aber Sie haben recht. Sie ist nicht der Anlass.«

»Ich neige eher zu der Auffassung, dass es an Warner Agee liegt«, meinte Dr. Clark. »In den vergangenen drei Wochen war er häufig Gast in derselben Sendung, in der Kay heute Abend auftritt. Er spielt sich als forensischer Psychiater beim FBI auf, als der große Fachmann für Serienmörder und Psychopathen. Verständlicherweise ruft er starke Gefühle in Ihnen wach. Sie haben sogar einmal Mordgelüste erwähnt. Kennt Kay diesen Warner?«

»Nicht persönlich.«

»Weiß sie, was er Ihnen angetan hat?«

»Wir unterhalten uns nicht über damals«, entgegnete Benton. »Wir haben versucht, die Vergangenheit hinter uns zu lassen und neu anzufangen. Es gibt viele Dinge, über die ich nicht reden kann, doch selbst wenn ich es wollte, würde sie sich weigern. Offen gestanden bin ich mir, je länger ich darüber nachdenke, gar nicht mehr sicher, woran sie sich noch erinnert. Und ich achte darauf, sie nicht zu drängen.«

»Möglicherweise fürchten Sie sich vor dem, was geschehen könnte, wenn es ihr wieder einfällt. Haben Sie Angst vor ihrem Zorn?«

»Sie hätte guten Grund dazu. Aber sie erwähnt es nicht. Vermutlich ist sie diejenige, die Angst vor ihrem eigenen Zorn hat«, antwortete Benton.

»Und was ist mit Ihrem Zorn?«

»Zorn und Hass sind destruktive Gefühle. Ich will nicht zornig sein und hassen.« Zorn und Hass fraßen ihm ein Loch in den Magen, als hätte er gerade Säure getrunken.

»Wie ich annehme, haben Sie ihr nie in allen Einzelheiten geschildert, welche Probleme Sie Warner zu verdanken haben. Ich gehe davon aus, dass es sehr aufwühlend für Sie war, ihn im Fernsehen und in den Nachrichten zu sehen. Es hat die Tür zu einem Raum geöffnet, den Sie seit Jahren nach Kräften meiden«, stellte Dr. Clark fest.

Benton sagte nichts.

»Vielleicht überlegen Sie ja, ob Warner sich absichtlich in dieselbe Sendung gedrängt hat wie Kay, weil es ihm Spaß macht, mit Ihnen zu konkurrieren. Wenn ich mich recht entsinne, hat Carley Crispin alles unternommen, um Sie und Kay gemeinsam in eine Sendung zu bekommen. Sie ist sogar so weit gegangen, das vor laufenden Kameras zu äußern. Sie haben sich geweigert, was die richtige Entscheidung war. Und was geschieht dann? Stattdessen wird Warner eingeladen. Ob Warner gegen Sie intrigiert hat? Geht es um Rivalität zwischen Ihnen?«

»Kay tritt niemals gemeinsam mit anderen Leuten in einer Sendung auf. Sie nimmt nicht an Talkshows teil, denn sie will mit dem, was sie als Studioprügelei à la Hollywood bezeichnet, nichts zu tun haben, wo sogenannte Experten einander niederschreien. Im Crispin Report ist sie auch nur selten zu sehen.«

»Der Mann, der nach Ihrer Rückkehr von den Toten versucht hat, Ihnen Ihr Leben zu stehlen, hat sich inzwischen zu einem prominenten Experten entwickelt. Er hat sich in Sie verwandelt, den Mann, den er am meisten beneidet hat. Und nun tritt er in derselben Sendung auf wie Ihre Frau.« Dr. Clark kannte keine Gnade.

»Kay ist nicht regelmäßig Gast in dieser Show und niemals zusammen mit anderen«, wiederholte Benton. »Nur hin und wieder nimmt sie Carleys Einladung an – gegen meinen Rat, wie ich hinzufügen möchte. Zweimal war sie einverstanden, um dem Produzenten einen Gefallen zu tun. Carley hat Unterstützung dringend nötig. Ihre Einschaltquote rauscht seit diesem Herbst mit der Geschwindigkeit einer Lawine bergab.«

»Es erleichtert mich, dass Sie sich in dieser Sache nicht rechtfertigen oder mir ausweichen.«

»Ich wünschte, sie würde die Finger davon lassen und einen Bogen um Carley machen. Kay ist einfach zu gutmütig, will immer helfen und glaubt, der ganzen Welt etwas beibringen zu müssen. Sie kennen sie ja.«

»Inzwischen kennt sie vermutlich wohl jeder. Ist das ein Problem für Sie? Fühlen Sie sich davon möglicherweise bedroht?«

»Mir wäre es lieber, wenn sie die Fernsehauftritte an den Nagel hängen würde, aber es ist ihr Leben.«

»Soweit ich im Bilde bin, ist Warner vor etwa drei Wochen in Erscheinung getreten, etwa um dieselbe Zeit, als Hannah Starr verschwunden ist«, meinte Dr. Clark. »Davor war er eher hinter den Kulissen tätig und nur selten im Crispin Report zu sehen.«

»Ein langweiliger Nobody ohne Ausstrahlung schafft es nur, in der Hauptsendezeit ins Fernsehen zu kommen, wenn er Carley reißerische und skandalträchtige Einzelheiten über einen sensationellen Fall verrät. Mit anderen Worten, diese Person muss eine gottverdammte Nutte sein.«

»Es macht mich froh, dass Sie Warner Agee so unvoreingenommen gegenüberstehen.«

»Es gehört sich einfach nicht. Das müsste selbst ein Schwachkopf wie er wissen«, empörte sich Benton.

»Bis jetzt haben Sie es vermieden, seinen Namen auszusprechen oder sich direkt auf ihn zu beziehen. Doch wir kommen der Sache schon näher.«

»Kay weiß nicht, was genau 2003 in einem Motelzimmer in Waltham, Massachusetts, passiert ist.« Benton blickte Dr. Clark an. »Sie kennt keine Einzelheiten und ahnt nichts von dem komplizierten Aufbau des Apparats, der mein Verschwinden in die Wege geleitet hat. Sie glaubt, ich hätte das alles geplant und mich freiwillig entschlossen, in ein Zeugenschutzprogramm zu gehen. Es sei einzig und allein meine Idee gewesen, denn ich hätte ein Profil des Chandonne-Kartells erstellt und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass ich und alle in meiner Umgebung sterben müssten, wenn man dem Gegner nicht meinen Tod vortäuschte. Wäre ich nicht offiziell gestorben, hätten die Chandonnes sich auf mich, Kay und die anderen gestürzt. Und so habe ich pariert. Trotzdem hat Jean-Baptiste Chandonne sich an Kay gerächt; es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Ich hätte die Sache niemals auf diese Weise angegangen, sondern so gehandelt, wie ich es schließlich auch getan habe, nämlich die Leute auszuschalten, die mir, Kay und den Menschen, die mir nahestehen, ans Leder wollten. Ich hätte das getan, was nötig war, und zwar ohne den Apparat.«

»Was ist der Apparat?«

»Das FBI, das Justizministerium, das Ministerium für Heimatschutz, die Regierung und eine gewisse Person, die mich falsch informiert hat. Das war der Apparat, den man damals in Bewegung gesetzt hat, und zwar wegen eines gewissen schlechten Rats, der nur zum Vorteil des Ratgebers war.«

»Warners Rat. Sein Einfluss.«

»Gewisse graue Eminenzen haben den Mächtigen etwas eingeflüstert. Und insbesondere einer von ihnen wollte mich aus dem Weg räumen und bestrafen«, erwiderte Benton.

»Wofür?«

»Dafür, dass ich das Leben führte, das diese Person sich wünschte. Offenbar hatte ich mich in seinen Augen dadurch schuldig gemacht, obwohl ich mich frage, warum mich jemand um mein Leben beneidet.«

»Vermutlich, weil derjenige nicht weiß, was in Ihnen vorgeht«, meinte Dr. Clark. »Was Sie quält. Ihre Dämonen. Denn oberflächlich betrachtet sind Sie ziemlich beneidenswert, da Sie scheinbar alles haben. Sie sehen gut aus, stammen aus einer reichen Familie, waren der berühmteste Profiler beim FBI und sind heute ein prominenter forensischer Psychologe an der Harvard University. Außerdem sind Sie mit Kay verheiratet. Ich kann mir also gut vorstellen, dass das Begehrlichkeiten weckt.«

»Kay denkt, ich sei in einem Zeugenschutzprogramm gewesen und deshalb sechs Jahre lang untergetaucht. Danach hätte ich beim FBI meinen Hut genommen«, sagte Benton.

»Weil Sie inzwischen nur noch Widerwillen und Verachtung für diese Behörde empfanden.«

»Einige Leute halten das für den Grund.«

»Kay auch?«

»Vermutlich.«

»Während Sie in Wahrheit das Gefühl hatten, das FBI stünde nicht mehr hinter Ihnen und habe den Respekt vor Ihnen verloren. Die Organisation habe Sie verraten, obwohl es eigentlich Warner war«, entgegnete Dr. Clark.

»Das FBI hat einen Experten nach seiner Meinung gefragt und Informationen und Empfehlungen bekommen. Ich kann nachvollziehen, dass man sich Gedanken um meine Sicherheit gemacht hat. Abgesehen davon, dass mir jemand eins auswischen wollte, hatten die Entscheidungsträger guten Grund zur Sorge. Außerdem habe ich Verständnis dafür, dass ich nach dem, was ich erlebt hatte, als labil eingestuft worden bin.«

»Also finden Sie, dass Warner Agee, was die Chandonnes und die Notwendigkeit, Ihren Tod vorzutäuschen, recht hatte? Hat er Ihre psychische Belastbarkeit richtig eingeschätzt, als er Sie für nicht mehr diensttauglich erklärte?«

»Sie kennen die Antwort. Ich war total fertig«, erwiderte Benton. »Allerdings glaube ich nicht, dass seine Fernsehauftritte etwas mit Konkurrenzdenken zu tun haben. Ich habe eher den Verdacht, dass es um etwas anderes als um mich geht. Zumindest nicht direkt um mich. Ich hätte nur gern darauf verzichtet, an damals erinnert zu werden, mehr nicht. Es war wirklich überflüssig.«

»Das Interessante daran ist, dass Warner während seiner gesamten ziemlich langen, wenn auch nicht unbedingt glanzvollen beruflichen Laufbahn unauffällig, wenn nicht sogar unsichtbar gewesen ist«, stellte Dr. Clark fest. »Und jetzt erscheint er plötzlich in den landesweiten Nachrichten. Zugegebenermaßen wundert mich das, und ich habe keine Ahnung, welche Motive ihn umtreiben. Ich bin nicht sicher, ob Sie, wenigstens unter anderem, seine Zielscheibe sind oder ob er sich nur ins Rampenlicht drängen will. Aber in einem stimme ich Ihnen zu. Es muss noch etwas anderes dahinterstecken. Doch was könnte das sein? Vielleicht kommt es ihm schlicht und ergreifend aufs Geld an, weil er wie die meisten Leute in finanziellen Schwierigkeiten steckt, und das kann einen in seinem Alter ganz schön ängstigen.«

»Nachrichtensendungen bezahlen nicht für Gastauftritte«, wandte Benton ein.

»Wenn diese Gastauftritte sensationsträchtig und marktschreierisch genug sind, erhöht das die Einschaltquote besagter Sendung, was zu weiteren Einkünften führen kann. Einem Buchvertrag zum Beispiel oder einer Beratertätigkeit.«

»Es ist richtig, dass viele Menschen ihre Altersabsicherung verloren haben und nun ums Überleben kämpfen. Der Grund könnte allerdings auch purer Geltungsdrang sein. Aufmerksamkeit. Ich habe keine Ahnung, was in dem Mann vorgeht«, entgegnete Benton. »Offensichtlich ist nur, dass Hannah Starrs Verschwinden ein gefundenes Fressen für ihn war. Ansonsten hätte er es nie geschafft, ins Fernsehen zu kommen und im Mittelpunkt zu stehen. Wie Sie bereits sagten, hat er bis jetzt nur hinter den Kulissen agiert.«

»Er – Pronomen. Immerhin reden wir hier von ein und derselben Person. Ein Fortschritt.«

»Ja, er. Warner. Mit ihm stimmt etwas nicht.« Benton fühlte sich erschöpft wie nach einer Niederlage. »Nicht dass mit ihm jemals alles in Ordnung gewesen wäre. Er ist kein ausgeglichener Mensch und wird es auch nie sein. ›Zerstörerisch‹, ›gefährlich‹ und ›skrupellos‹ sind Ausdrücke, die ihn besser beschreiben. Außerdem ist er ein Narzisst und ein größenwahnsinniger Soziopath. Jedenfalls leidet er unter schweren Störungen und entgleist in dieser Phase seines elenden Daseins immer weiter. Ich würde die Behauptung wagen, dass es die unersättliche Gier nach Bestätigung ist, die ihn antreibt. Das ist seine Belohnung, wenn er mit seinen veralteten und an den Haaren herbeigezogenen Theorien an die Öffentlichkeit geht. Und vielleicht braucht er ja wirklich Geld.«

»Ich teile Ihre Ansicht, dass der Bursche nicht ganz richtig tickt«, erwiderte Dr. Clark. »Ich möchte nur verhindern, dass Sie seinetwegen krank werden.«

»Mir geht es ausgezeichnet, obwohl ich zugeben muss, dass es mir keinen Spaß macht, seine verdammte Visage überall in den Nachrichten zu sehen. Der dreckige Mistkerl brüstet sich sogar damit, er habe meine Karriere gefördert, und erwähnt ständig meinen Namen.«

»Würden Sie sich besser fühlen, wenn ich Ihnen erzähle, was ich von Warner Agee halte? Ich bin ihm im Laufe der Jahre nämlich öfter begegnet, als mir lieb war.«

»Schießen Sie los.«

»Es war stets im Rahmen von Fachtagungen, bei denen er nichts Besseres zu tun hatte, als sich überall einzuschmeicheln oder mich als Idioten hinzustellen.«

»Und das wundert Sie?«

»Am besten vergessen wir einfach, was er Ihnen angetan hat«, fuhr Dr. Clark fort.

»Niemals. Für die Sache von damals gehört der Scheißer eigentlich ins Gefängnis.«

»Oder in die Hölle. Er ist eine Schande für die Menschheit. War ich offen genug?«, entgegnete Dr. Clark. »Das ist einer der Vorteile, wenn man alt ist, immer schwächer wird und sich jeden Tag fragt, ob es einem heute schlechter oder vielleicht ein bisschen besser gehen wird. Möglicherweise stolpere ich ja ausnahmsweise nicht und schütte mir auch keinen Kaffee übers Hemd. Als ich letztens in der Nacht durch die Sender gezappt habe, hatte ich plötzlich sein Gesicht vor mir. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und habe mir die Sendung angeschaut. Der Bursche redete wie ein Wasserfall und verbreitete ausführlich schwachsinnige Thesen zum Thema Hannah Starr. Und dabei haben wir es hier mit einem noch nicht abgeschlossenen Fall zu tun. Die Frau wird weiterhin vermisst, und niemand weiß, ob sie tot ist oder lebt. Doch dieser Kerl stellte Mutmaßungen über die Grausamkeiten an, die irgendein Serienmörder mit ihr veranstaltet haben könnte. Dieser aufgeblasene alte Narr. Ich wundere mich, dass das FBI noch keinen Weg gefunden hat, den Schwachkopf diskret aus dem Verkehr zu ziehen. Er ist einfach nur peinlich und schadet dem Ansehen der Abteilung für Verhaltensforschung.«

»Er hatte nie mit der Abteilung für Verhaltensforschung zu tun und hat auch nicht für sie gearbeitet, als ich dort Leiter war«, stellte Benton fest. »Das ist nur eine der Fehlinformationen, die er die Welt setzt. Der Mann war nie beim FBI.«

»Aber Sie waren es. Und jetzt sind Sie nicht mehr dabei.«

»Richtig.«

»Also fasse ich unser Gespräch noch einmal kurz zusammen. Dann muss ich wirklich los, sonst verpasse ich einen wichtigen Termin«, sagte Dr. Clark. »Sie wurden von der Staatsanwaltschaft in Detroit gebeten, ein psychologisches Gutachten über die Angeklagte Dodie Hodges anzufertigen, was Ihnen allerdings nicht das Recht gibt, wegen anderer vermutlicher Straftaten gegen sie zu ermitteln.«

»Nein, dieses Recht hatte ich nicht.«

»Auch die singende Weihnachtskarte ändert nichts daran.«

»Richtig. Allerdings handelt es sich nicht einfach nur um eine singende Karte, sondern um eine verkappte Drohung.« In diesem Punkt ließ Benton nicht mit sich reden.

»Das ist eine Frage der Betrachtungsweise. So als wollte man eindeutig belegen, ob ein Rorschach-Bild einen zerquetschten Käfer oder einen Schmetterling darstellt. Womit haben wir es zu tun? Einige könnten behaupten, es sei regressives Verhalten von Ihrer Seite, wenn Sie die Karte als verkappte Drohung deuten. Ein eindeutiger Hinweis darauf, dass Ihre langen Jahre als FBI-Mann und die Konfrontation mit Gewalt und traumatisierenden Erlebnissen bei Ihnen eine übertriebene Beschützerhaltung gegenüber den Menschen, die Sie lieben, sowie eine ständige und beharrliche Angst ausgelöst haben, die Bösen könnten Ihnen an den Kragen wollen. Falls Sie sich zu sehr in diese Sache hineinknien, riskieren Sie, dass man Ihnen eine Denkstörung unterstellt.«

»Dann werde ich meine gestörten Gedanken eben für mich behalten«, entgegnete Benton. »Und mir in Zukunft Bemerkungen über Landplagen, denen nicht mehr zu helfen ist, verkneifen.«

»Gute Idee. Es steht uns nämlich nicht an, zu entscheiden, wem nicht mehr zu helfen und wer eine Landplage ist.«

»Selbst wenn wir wissen, dass es stimmt.«

»Wir wissen eine ganze Menge«, antwortete Dr. Clark. »Viele Dinge, von denen ich wünschte, ich hätte sie nie gehört. Ich habe diesen Beruf schon ausgeübt, als es das Wort Profiler noch gar nicht gab und das FBI nicht hinter sogenannten Serienmördern, sondern hinter Kommunisten her war. Glauben Sie, ich liebe alle meine Patienten?« Er stützte sich an den Armlehnen ab und erhob sich. »Denken Sie, ich finde den Kerl sympathisch, mit dem ich heute einige Stunden verbracht habe? Der reizende Teddy, der es für sinnvoll und notwendig hält, einem neunjährigen Mädchen Benzin in die Vagina zu schütten. Wie er mir im Brustton der Überzeugung erklärte, diente die Aktion dem Zweck, eine Schwangerschaft zu verhindern, nachdem er sie vergewaltigt hatte. Ist er für sein Tun verantwortlich? Kann man einem unbehandelten Schizophrenen, der als Kind selbst wiederholt sexuell missbraucht und gequält wurde, Vorwürfe machen? Hat er die Todesspritze, ein Erschießungskommando oder den elektrischen Stuhl verdient?«

»Schuld und Verantwortung sind zwei verschiedene Dinge«, sagte Benton. Im nächsten Moment läutete das Telefon.

Er hob ab, in der Hoffnung, es würde Scarpetta sein. »Ich stehe draußen«, verkündete ihre Stimme.

»Wo draußen?«, fragte er erschrocken. »Vor dem Bellevue?«

»Ich bin zu Fuß gegangen.«

»Verdammt! Gut. Warte in der Vorhalle, nicht auf der Straße. Komm in die Vorhalle, ich bin gleich da.«

»Ist etwas passiert?«

»Draußen ist es lausig kalt. Ich beeile mich.« Er stand hinter dem Schreibtisch auf.

»Wünschen Sie mir Glück. Ich gehe jetzt in die Tennishalle.« Dr. Clark verharrte, die Tasche über der Schulter, an der Tür. Er erinnerte Benton an ein Gemälde von Norman Rockwell, das einen gebrechlichen alten Psychiater darstellte.

»Haben Sie Gnade mit McEnroe.« Benton fing an, seine Sachen zusammenzupacken.

»Die Ballmaschine ist auf die langsamste Geschwindigkeit eingestellt und gewinnt trotzdem immer. Ich fürchte, mit meiner Tenniskarriere ist es vorbei. Letzte Woche stand ich neben Billie Jean King auf dem Platz, bin hingefallen und war von oben bis unten mit roter Asche bedeckt. Ich habe die Bälle mit einer Schlinge aufgehoben und bin über das verdammte Ding gestolpert. Und da war sie, beugte sich über mich und wollte wissen, ob ich mich verletzt hätte. Ein schöner Weg, eine Heldin kennenzulernen. Passen Sie auf sich auf, Benton. Und richten Sie Kay liebe Grüße aus.«

Benton überlegte, ob er die singende Karte von Dodie mitnehmen sollte, und steckte sie schließlich in seinen Aktenkoffer. Er war nicht sicher, warum. Obwohl er sie Scarpetta nicht zeigen konnte, wollte er sie auch nicht hier zurücklassen. Was, wenn es noch einen Zwischenfall gab? Nein, es würde überhaupt nichts geschehen. Er war einfach nur überängstlich und angespannt und wurde von den Geistern der Vergangenheit gejagt. Alles war in bester Ordnung. Benton schloss die Bürotür ab. Er ging schnell, als habe er es eilig. Es gab zwar keinen Grund, sich zu fürchten, aber ihm war dennoch mulmig, ein Gefühl, das ihn schon seit einiger Zeit verfolgte. Es war eine unheilvolle Vorahnung, und seine Seele war so wund, dass er sie sich mit blauen Flecken übersät vorstellte. Es handelt sich um erinnerte Emotionen, nicht um reale, sagte er sich und hörte im Kopf seine eigene Stimme. Es war schon viele Jahre her. Damals war damals, und jetzt bestand kein Grund zur Sorge. Die Türen seiner Kollegen waren geschlossen. Einige waren im Urlaub. Es war genau eine Woche vor Weihnachten.

Benton steuerte auf den Aufzug zu. Der Eingang zum Gefängnistrakt befand sich genau gegenüber. Die üblichen Geräusche hallten heraus. Laute Stimmen. »Aufmachen!«, rief jemand, denn der Wachmann im Kontrollraum ließ sich mit dem Öffnen der Schleuse stets Zeit. Benton erhaschte einen Blick auf einen Mann im grellorangefarbenen Overall des Gefängnisses auf Rikers Island. Er trug Hand- und Fußfesseln und wurde von zwei Polizisten flankiert. Vermutlich ein Simulant, der Beschwerden vortäuschte oder sich womöglich selbst verletzt hatte, um die Feiertage im Krankenhaus verbringen zu können. Als die Stahltüren sich geräuschvoll schlossen und Benton in den Aufzug stieg, musste er an Dodie Hodges denken. Er erinnerte sich an seine sechs Jahre im Untergrund, in denen er einsam und Gefangener einer erfundenen Identität gewesen war. Tom Haviland. Sechs Jahre als lebender Toter, und das war ganz allein Warner Agees Schuld. Benton verstand seine eigenen Gefühle nicht mehr und fand es abstoßend, dass er jemandem wehtun wollte. Er hatte zwar Erfahrung damit, Gewalt anzuwenden, denn im Dienst war ihm oft nichts anderes übriggeblieben. Allerdings hatte er noch nie in lüsternen Phantasien darüber geschwelgt.

Er wünschte, Scarpetta hätte früher angerufen und sich nicht bei Dunkelheit in diesem Stadtteil allein auf den Weg gemacht, denn schließlich lebten hier überdurchschnittlich viele Obdachlose, Bettler, Drogensüchtige und ehemalige Psychiatriepatienten, Menschen, die immer wieder eingewiesen worden waren, bis das Gesundheitssystem nichts mehr mit ihnen anzufangen wusste. Und eines schönen Tages stießen sie vielleicht einen Pendler vom Bahnsteig vor eine einfahrende U-Bahn, fielen mit dem Messer über wildfremde Menschen her und brachten Tod und Zerstörung, weil Stimmen es ihnen befahlen und weil ihnen bis jetzt niemand zugehört hatte.

Rasch setzte Benton seinen Weg den scheinbar endlosen Flur entlang fort. Vorbei an der Cafeteria und dem Geschenkeladen, wobei er sich durch einen steten Strom von Patienten, Besuchern und Krankenhausmitarbeitern in weißen Kitteln oder OP-Anzügen schlängeln musste. Die Flure des Klinikums Bellevue waren festlich geschmückt. Fröhliche Musik erklang, und die Weihnachtsdekoration funkelte, als sei es völlig alltäglich, krank, verletzt oder ein psychisch gestörter Straftäter zu sein.

Scarpetta erwartete ihn an der gläsernen Eingangstür. Sie trug einen langen dunklen Mantel und schwarze Lederhandschuhe und hatte Benton noch nicht in der Menschenmenge bemerkt, während er auf sie zukam. Stattdessen beobachtete sie die Leute um sich herum, von denen manche sie zu erkennen schienen. Bentons Reaktion bei ihrem Anblick war stets dieselbe, eine Mischung aus Aufregung und Trauer, die ihm ans Herz ging. Die Freude, mit ihr zusammen zu sein, wurde ihm von der Erinnerung an seinen Schmerz vergällt, als er hatte annehmen müssen, dass er sie niemals wiedersehen würde. Immer wenn er sie – unbemerkt, heimlich und eingehend – aus der Entfernung betrachtete, sehnte er sich nach ihr. Manchmal fragte er sich, wie sie ihr Leben wohl weitergeführt hätte, wenn er, wie sie geglaubt hatte, wirklich tot gewesen wäre. Hätte es eine Erleichterung für sie bedeutet? Möglicherweise. Er hatte ihr viel Leid und Qualen angetan, sie in Gefahr gebracht und ihr Schaden zugefügt, und das konnte er sich nicht verzeihen.

»Vielleicht solltest du heute Abend absagen«, meinte er zu ihr, als er sie erreicht hatte.

Freudig überrascht drehte sie sich zu ihm um. Ihre tiefblauen Augen waren wie der Himmel und spiegelten ihre Gedanken und Gefühle wider, als handle es sich dabei um Wetterphänomene – Licht und Schatten, heller Sonnenschein, Wolken und Nebel.

»Wir können uns ein nettes, gemütliches Abendessen gönnen«, fügte er hinzu, fasste sie am Arm und zog sie an sich, als bräuchten sie einander, um sich warm zu halten. »Il Cantinori. Ich rufe Frank an und frage ihn, ob er noch einen Tisch für uns hat.«

»Führe mich nicht in Versuchung«, erwiderte sie und schlang ihm den Arm fest um die Taille. »Melanzane alla parmigiana. Und einen Brunello di Montalcino. Wahrscheinlich würde ich deine Portion auch verschlingen und die ganze Flasche allein austrinken.«

»Du Gierschlund.« Beschützend legte er den Arm um sie, als sie in Richtung First Avenue schlenderten. Der Wind wehte heftig, und es fing an zu regnen. »Du solltest wirklich absagen. Schwindle Alex einfach vor, du hättest die Grippe.« Als er nach einem Taxi winkte, kam eines auf sie zugebraust.

»Ich kann nicht. Außerdem müssen wir nach Hause«, entgegnete sie. »Wir haben eine Telefonkonferenz.«

Benton hielt die hintere Tür des Taxis auf. »Was für eine Telefonkonferenz?«

»Jaime.« Scarpetta rutschte zum anderen Ende der Rückbank durch. Nachdem sie dem Fahrer die Adresse genannt hatte, wandte sie sich wieder an Benton. »Schnall dich an.« Es war eine Marotte von ihr, ihre Mitmenschen daran zu erinnern, auch wenn es überflüssig war. »Lucy glaubt, dass sie in ein paar Stunden aus Vermont wegkönnen. Bis dahin müsste die Schlechtwetterfront südlich an uns vorbeigezogen sein. Bis es so weit ist, möchte Jaime dich, mich und Marino, also uns alle, am Telefon sprechen. Sie hat mich vor etwa zehn Minuten angerufen, als ich zu Fuß hierher ging. Es war ein ungünstiger Moment, deshalb kenne ich keine Einzelheiten.«

»Du hast also keine Ahnung, was sie will?«, fragte Benton, während das Taxi auf die Third Avenue zusteuerte und nach Norden fuhr. Die Scheibenwischer quietschten laut im Sprühregen. Die oberen Etagen der erleuchteten Gebäude wurden vom Nebel verschluckt.

»Es geht um die Sache von heute Morgen.« In Gegenwart des Taxifahrers wollte sie sich nicht genauer ausdrücken, auch wenn er vermutlich gar nicht Englisch sprach.

»Die Sache, mit der du dich schon den ganzen Tag befasst.« Benton meinte den Fall Toni Darien.

»Wir haben heute Nachmittag einen telefonischen Hinweis erhalten«, fügte Scarpetta hinzu. »Offenbar hat jemand etwas beobachtet.«