6
Falls der Mord an Toni auf das Konto eines Geheimdienstes ging, hätte der Täter gewiss keine datenspeichernde Uhr an ihrem Handgelenk zurückgelassen.
Benton merkte das in dem abweisenden Ton an, den er stets gegenüber Menschen anschlug, die er nicht leiden konnte. Seine Stimme klang dann gleichzeitig trocken und tonlos, was Scarpetta an verdorrte Erde und Steine erinnerte. Sie saß auf dem Sofa im Gästezimmer im hinteren Teil der Wohnung, das Benton als Arbeitszimmer benutzte. Es war ein hübscher Raum, der eine gute Aussicht auf die Stadt bot.
»Ein Trick, um uns auf die falsche Fährte zu locken. Mit anderen Worten, sie wurde ihr untergeschoben.« Marinos Stimme hallte aus dem Lautsprecher neben Bentons Computer. »Das war nur meine Antwort auf deine Andeutung, die Uhr könnte Teil eines Geheimprojekts gewesen sein.«
Benton hatte sich in einem Ledersessel niedergelassen und lauschte reglos. Hinter ihm stand eine Bücherwand. Die gebundenen Bücher, einige davon Erstausgaben, manche sehr alt, waren nach Themen geordnet. Marino ärgerte sich und war schließlich in die Luft gegangen, weil er sich von Benton gedemütigt fühlte. Und je länger er redete, desto mehr ritt er sich hinein. Scarpetta wünschte, die beiden würden aufhören, sich wie die Schuljungen zu benehmen.
»Wenn man diese Theorie weiterverfolgt, könnte man zu dem Schluss kommen, sie wollten, dass wir die Uhr finden. Bei den darin gespeicherten Daten könnte es sich um Desinformation handeln«, beharrte Marino.
»Wer ist sie?«, entgegnete Benton mit einem eindeutig unangenehmen Unterton.
Marino war der Ansicht, dass er sich nicht mehr zu verteidigen brauchte. Schließlich hatte Benton aufgehört, so zu tun, als hätte er ihm verziehen. Es war, als hätte sich der Zwischenfall vor anderthalb Jahren in Charleston in einen Konflikt zwischen ihnen beiden verwandelt, bei dem Scarpetta außen vor blieb. Wie so häufig bei Übergriffen, war nicht mehr sie das Opfer, sondern ihr Umfeld.
»Das weiß ich auch nicht. Ich finde nur, dass wir nichts außer Acht lassen sollten.« Marinos laute, raumgreifende Stimme füllte Bentons Arbeitszimmer. »Wenn man länger darüber nachdenkt, kommt man zu dem Ergebnis, dass man für alles offen sein muss. Immerhin ist in diesem Land eine Menge los. Terrorismus, Gegenterrorismus, Spionage, Gegenspionage, die Russen, die Nordkoreaner, du kannst es dir aussuchen.«
»Ich möchte das CIA-Thema gern abschließen.« Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, zerrte an Bergers Nerven. »Nichts weist darauf hin, dass wir es mit einem politisch motivierten oder im Zusammenhang mit Terrorismus oder Spionage stehenden Auftragsmord zu tun haben. Alle uns bekannten Informationen deuten genau in die entgegengesetzte Richtung.«
»Ich möchte eine Frage zur Lage der Leiche am Fundort stellen«, meldete sich Detective Bonnell zu Wort. Sie war zurückhaltend, aber selbstbewusst und konnte manchmal auch spöttisch und schwer zu durchschauen sein. »Dr. Scarpetta, haben Sie Anzeichen dafür entdeckt, dass Toni Darien an den Armen gezogen oder geschleppt wurde? Mir erschien die Körperhaltung nämlich sehr merkwürdig, ja, fast ein wenig albern. So als hätte sie ›Hava Nagila‹ getanzt, die Beine leicht angewinkelt wie bei einem Frosch und die Arme ausgestreckt. Ich weiß, dass es vermutlich seltsam klingt, doch das ist mir bei ihrem Anblick als Erstes aufgefallen.«
Benton betrachtete die Tatortfotos auf seinem Computerbildschirm und antwortete, ehe Scarpetta Gelegenheit dazu hatte. »Die Körperhaltung der Toten erfüllt den Zweck, sie zu erniedrigen und zu verspotten.« Er klickte weitere Fotos an. »Sie wurde in einer eindeutig sexuellen Pose drapiert, die Verachtung ausdrücken und schockieren soll. Es wurde nichts unternommen, um die Leiche zu verstecken. Ganz im Gegenteil. Sie wurde absichtlich in dieser Stellung abgelegt.«
»Bis auf die von Ihnen beschriebene Körperhaltung weist nichts darauf hin, dass sie geschleppt wurde«, beantwortete Scarpetta Bonnells Frage. »Keine Abschürfungen auf der Rückseite, keine Blutergüsse an den Handgelenken. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass ihr Körper nicht mehr auf Verletzungen reagieren konnte. Wenn sie nach ihrem Tod an den Handgelenken gepackt wurde, sind keine Blutergüsse entstanden. Bis auf die Kopfwunde ist ihr Körper mehr oder weniger unverletzt.«
»Gehen wir einmal davon aus, dass du recht hast und sie schon seit einer Weile tot ist.« Bergers energische Stimme hallte aus dem schmalen schwarzen Lautsprecher, den Benton für Telefonkonferenzen benutzte. »Dafür gibt es doch sicherlich eine Erklärung.«
»Die Erklärung liegt darin, dass wir wissen, welche Prozesse nach dem Tod im Körper ablaufen«, erwiderte Scarpetta. »Wie schnell er abkühlt, wo sich das nicht mehr zirkulierende Blut aufgrund der Schwerkraft in den Regionen absetzt, die den Untergrund berühren, und woran man das optisch erkennt. Hinzu kommt die typische Muskelstarre, ausgelöst durch einen sinkenden Spiegel von Adenosintriphosphat.«
»Es gibt aber auch Ausnahmen«, wandte Berger ein. »Man hat hinreichend nachgewiesen, dass diese Merkmale, anhand deren sich der Todeszeitpunkt festlegen lässt, stark voneinander abweichen können, und zwar abhängig davon, was der Verstorbene vor seinem Tod getan hat. Außerdem spielen die Witterungsbedingungen, die Körpergröße, die Art der Kleidung und ob der Tote Medikamente einnahm, eine Rolle. Liege ich richtig?«
»Die Bestimmung des Todeszeitpunkts ist keine exakte Wissenschaft.« Es überraschte Scarpetta nicht, dass Berger ihr widersprach.
Es handelte sich um eine der Situationen, in denen die Wahrheit nicht gern gehört wurde.
»Dann liegt es also im Bereich des Möglichen, dass die Leichenstarre und die Totenflecken bei Toni aufgrund von äußeren Umständen so weit fortgeschritten sein könnten«, hakte Berger nach. »Zum Beispiel, weil sie sich beim Joggen stark angestrengt oder sogar vor dem Täter davongelaufen ist, bevor er sie auf den Kopf schlug. Könnte das nicht zu einem ungewöhnlich schnellen Einsetzen der Totenstarre geführt haben? Oder vielleicht zu einer sofortigen Erstarrung, einem sogenannten Leichenkrampf?«
»Nein«, entgegnete Scarpetta. »Sie ist nämlich nicht unmittelbar nach dem Schlag gestorben, sondern hat noch eine Zeitlang gelebt, allerdings ohne sich zu bewegen. Sie lag sterbend im Koma.«
»Aber wenn wir die Sache objektiv betrachten« – es schien, als wolle sie Scarpetta Voreingenommenheit unterstellen –, »geben die Totenflecken keinen Hinweis auf den genauen Todeszeitpunkt. Totenflecken werden von den verschiedensten Faktoren beeinflusst.«
»Die Totenflecken verraten mir nicht, um wie viel Uhr sie gestorben ist, erlauben mir jedoch eine Schätzung. Außerdem sagen sie mir ohne Wenn und Aber, dass die Leiche bewegt worden ist.« Allmählich fühlte sich Scarpetta wie im Zeugenstand. »Vermutlich wurde sie zum Park transportiert, wobei dem Täter wahrscheinlich nicht klar war, dass er durch das Ausstrecken ihrer Arme einen nicht zu übersehenden Widerspruch geschaffen hat. Als die Totenflecken entstanden, befanden sich ihre Arme nämlich nicht oberhalb ihres Kopfes, sondern seitlich am Körper, und zwar mit den Handflächen nach unten. Hinzu kommt, dass Streifen von Kleidungsstücken fehlen. Allerdings ist die Haut unter dem Armband der Uhr blasser, ein Zeichen dafür, dass sie sie am Handgelenk hatte, als sich die Totenflecken bildeten und irreversibel wurden. Deshalb habe ich den Verdacht, dass sie nach ihrer Ermordung mindestens zwölf Stunden bis auf die Uhr völlig nackt war. Sie trug nicht einmal ihre Socken, denn die bestehen aus einem elastischen Material und hätten Spuren hinterlassen. Als sie dann vor dem Abtransport zum Park wieder angekleidet wurde, hat der Täter ihr die Socken verkehrt herum angezogen.«
Sie erklärte den anderen, was es mit Tonis anatomisch korrekten Laufsocken auf sich hatte, und fügte hinzu, es käme zu typischen verräterischen Hinweisen, wenn ein Täter sein Opfer nachträglich anzöge. Häufig unterliefen ihm Fehler, zum Beispiel, dass er die Kleidungsstücke verdrehte oder mit der Innenseite nach außen über die Leiche stülpte. Oder eben, wie in diesem Fall, eine Verwechslung der Socken.
»Warum hat er ihr die Uhr nicht abgenommen?«, erkundigte sich Bonnell.
»Weil sie für denjenigen, der sie ausgezogen hat, unwichtig war.« Benton betrachtete die Fundortfotos auf seinem Bildschirm und vergrößerte die BioGraph-Uhr an Tonis linkem Handgelenk. »Schmuckstücke zu entfernen – außer als Souvenir – ist nicht so sexuell erregend wie das Ablegen von Kleidung, sodass nackte Haut zu sehen ist. Doch es spielt nur eine Rolle, was der Täter selbst als symbolisch oder erotisch empfindet. Zudem hatte es der Mörder in unserem Fall nicht eilig. Nicht, wenn er die Leiche anderthalb Tage bei sich behalten hat.«
»Kay, mich würde interessieren, ob dir je ein Fall untergekommen ist, in dem jemand erst seit acht Stunden tot war und es dennoch den Eindruck erweckte, als wäre seit dem Mord mindestens fünfmal so viel Zeit vergangen.« Berger war nicht bereit, von ihrer Position abzurücken, und tat ihr Bestes, um der Zeugin Fangfragen zu stellen.
»Nur dann, wenn der Verwesungsprozess stark beschleunigt wurde, wie zum Beispiel in einem sehr heißen tropischen oder subtropischen Klima«, erwiderte Scarpetta. »Als ich Gerichtsmedizinerin in Südflorida war, kam dieses Phänomen häufig vor. Ich habe so etwas oft gesehen.«
»Wurde sie deiner Meinung nach im Park oder vielleicht in einem Fahrzeug vergewaltigt, anschließend bewegt und schließlich drapiert, wie Benton es beschrieben hat?«, wollte Berger wissen.
»Jetzt machst du mich aber neugierig. Warum ein Fahrzeug?«, wunderte sich Benton und lehnte sich zurück.
»Ich stelle nur die Theorie in den Raum, dass sie in einem Fahrzeug vergewaltigt und umgebracht worden sein könnte. Anschließend hat der Täter sie dann am Fundort abgelegt und arrangiert«, erwiderte Berger.
»Ich habe weder während der äußerlichen Untersuchung noch bei der Autopsie Anzeichen dafür feststellen können, dass ein Fahrzeug im Spiel war«, antwortete Scarpetta.
»Ich dachte dabei an bestimmte Verletzungen, die sie sich zugezogen haben könnte, falls sie im Park auf dem Boden vergewaltigt wurde«, sagte Berger. »Wenn man jemanden auf einem harten Untergrund vergewaltigt, entstehen dabei doch Blutergüsse und Abschürfungen.«
»Das ist für gewöhnlich so.«
»Im Gegensatz zu einer Vergewaltigung beispielsweise auf der Rückbank eines Autos, wo die Fläche unter dem Opfer nachgiebiger ist als ein gefrorener, mit Steinen, Zweigen und anderen Gegenständen bedeckter Boden«, fuhr Berger fort.
»Ich habe an der Leiche keine Hinweise darauf entdeckt, dass sie in einem Fahrzeug vergewaltigt wurde«, wiederholte Scarpetta.
»Möglicherweise ist sie in ein Fahrzeug gestiegen und wurde auf den Kopf geschlagen. Und dann hat der Täter sie vergewaltigt und die Leiche einige Zeit bei sich behalten, bevor er sie am Fundort abgelegt hat.« Berger stellte keine Frage, sondern schilderte, wie es ihrer Ansicht nach gewesen sein musste. »Die Totenflecke, die Leichenstarre und die Körpertemperatur sind deshalb ungewöhnlich und irreführend, weil Toni kaum bekleidet und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt ausgesetzt war. Und falls sie wirklich langsam gestorben ist – vielleicht im Laufe mehrerer Stunden an der Kopfverletzung –, könnten die Totenflecken deshalb so weit fortgeschritten sein.«
»Es gibt immer Ausnahmen«, räumte Scarpetta ein. »Aber ich glaube, diesmal kann ich dir die Antworten nicht liefern, die du offenbar hören willst, Jaime.«
»Ich habe im Laufe der Jahre viel zu diesem Thema gelesen, Kay. Der Todeszeitpunkt ist eine Sache, mit der ich häufig zu tun habe und die ich vor Gericht vertreten muss. Dabei habe ich einige interessante Dinge in Erfahrung gebracht. Bei Menschen, die langsam dahinsiechen, zum Beispiel wegen eines Herzinfarkts oder Krebs, bilden sich die ersten Totenflecken, wenn sie noch gar nicht tot sind. Außerdem gibt es Fälle, bei denen die Totenstarre sofort eingetreten ist. Was also spricht dagegen, dass Toni bereits Totenflecken entwickelte, als sie noch lebte, und aufgrund außergewöhnlicher Umstände sofort in Totenstarre gefallen ist? Wie ich glaube, kann das bei Tod durch Ersticken auch vorkommen, und sie hatte immerhin einen Schal um den Hals, wurde also offenbar nach dem Schlag mit dem stumpfen Gegenstand zusätzlich erwürgt. Ist es deshalb nicht möglich, dass sie viel später gestorben ist, als du annimmst? Dass der Tod vor wenigen Stunden eintrat, also vor weniger als acht?«
»Meiner Ansicht nach ist das nicht möglich«, beharrte Scarpetta.
»Detective Bonnell«, sagte Berger. »Liegt Ihnen die Audio-Datei vor? Wären Sie so gut, sie auf Marinos Computer abzuspielen. Hoffentlich können wir über die Freisprechanlage alles verstehen. Es handelt sich um einen Mitschnitt eines Notrufs, der heute gegen vierzehn Uhr einging.«
»Wird gemacht«, erwiderte Bonnell. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie nichts mitkriegen.«
Als das Band zu laufen begann, stellte Benton den Lautsprecher eine Stufe höher.
»Polizeinotruf, Platz fünf-eins-neun. Um was für einen Notfall handelt es sich?«
»Äh ... es geht um die Dame, die heute Morgen im Park gefunden wurde, an der Nordseite des Parks an der Hundredtenth Street.« Die Stimme klang nervös und ängstlich. Der Mann schien noch recht jung zu sein.
»Welche Dame meinen Sie?«
»Die Dame ... äh ... die ermordete Joggerin. Ich habe es in den Nachrichten gehört ... «
»Sir, ist das wirklich ein Notfall?«
»Ich denke schon, weil ich es mit angesehen habe. Ich glaube, ich habe beobachtet, wer es war. Als ich gegen fünf Uhr heute Morgen mit dem Auto dort vorbeigefahren bin, ist mir ein gelbes Taxi aufgefallen. Ein Mann hat einer Frau, die betrunken gewirkt hat, hinten aus dem Wagen geholfen. Zuerst dachte ich, es wäre ihr Freund und sie hätten einen draufgemacht. Aber ich konnte kaum etwas erkennen, weil es so dunkel und neblig war.«
»Es war ein gelbes Taxi?«
»Und die Frau war entweder betrunken oder ohnmächtig. Das Ganze ging, wie ich schon sagte, sehr schnell, und die Sicht war miserabel. Ich fuhr in Richtung Fifth Avenue und habe nur rasch hingeschaut, da ich schließlich keinen Grund hatte, anzuhalten. Doch ich bin ganz sicher. Es war eindeutig ein gelbes Taxi. Das Licht auf dem Dach war ausgeschaltet wie immer, wenn ein Fahrgast darin sitzt.«
»Können Sie mir das Kennzeichen oder die Taxinummer auf der Tür nennen?«
»Nein. Warum hätte ich sie mir merken sollen? Aber dann war in den Nachrichten von einer Joggerin die Rede, und mir fiel ein, dass die Frau so etwas wie einen Jogginganzug anhatte. Und ein rotes Halstuch oder so. Jedenfalls hatte sie etwas Rotes um den Hals. Und sie trug nur ein helles Sweatshirt, keinen Mantel. Das kam mir seltsam vor, weil sie nicht warm genug angezogen war. Und als es dann hieß, wann sie gefunden worden ist, nun, das war, kurz nachdem ich dort vorbeigefahren bin ...«
Die Datei war zu Ende.
»Die Telefonzentrale hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Ich habe selbst mit dem Mann gesprochen und werde mich persönlich weiter mit ihm befassen. Außerdem haben wir ihn überprüft«, sagte Bonnell.
Scarpetta dachte an den gelben Lacksplitter, den sie aus Toni Dariens Haar unmittelbar in der Nähe der Kopfwunde entfernt und in der Gerichtsmedizin mit Hilfe einer Lupe untersucht hatte. Die Farbe hatte sie an Senf der Marke French’s und gelbe Taxis erinnert.
»Harvey Fahley, neunundzwanzig, Projektmanager bei Klein Pharma in Brooklyn. Wohnt auch dort«, sprach Bonnell weiter. »Seine Freundin hat eine Wohnung in Manhattan, in Morningside Heights.«
Scarpetta hatte keine Ahnung, ob der Lacksplitter von einem Auto stammte. Er konnte genauso gut von einem Gebäude, einer Sprühflasche, einem Werkzeug, einem Fahrrad, einem Verkehrsschild, ja, eigentlich von jedem x-beliebigen Gegenstand herrühren.
»Seine Aussage deckt sich mit dem Inhalt des mitgeschnittenen Telefonats«, merkte Bonnell an. »Er habe die Nacht bei seiner Freundin verbracht und sei dann nach Hause gefahren, und zwar über die Fifth Avenue rüber zur Fifty-ninth Street und zur Queensboro Bridge, um sich fürs Büro umzuziehen.«
Es war verständlich, dass sich Berger gegen Scarpettas Feststellung des Todeszeitpunkts sträubte. Falls es sich bei dem Mörder um einen Taxifahrer handelte, lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dass er ziellos herumgefahren war und Toni beobachtet hatte, als sie gestern spätnachts spazieren ging oder joggte. Dass dieser Taxifahrer sie bereits am Dienstag, vielleicht sogar nachmittags, aufgelesen und ihre Leiche dann bis kurz vor fünf aufbewahrt hatte, klang hingegen ziemlich unwahrscheinlich.
»Nichts an seiner Aussage kam mir verdächtig vor«, erklärte Bonnell. »Außerdem hat er eine weiße Weste. Am wichtigsten finde ich seine Beschreibung der Kleidung der Frau, als ihr jemand aus dem Taxi half. Woher sollte er diese Details kennen? Sie wurden nicht öffentlich gemacht.«
Leichen lügen nicht, hielt Scarpetta sich vor Augen, und sie erinnerte sich an etwas, das sie zu Beginn ihrer Ausbildung gelernt hatte: Versuchen Sie nicht zu erzwingen, dass die Beweise zum Verbrechen passen. Toni Darien war nicht gestern Nacht ermordet worden. Da konnte Berger sich auf den Kopf stellen und die Zeugen reden, bis sie schwarz wurden.
»Hat Harvey Fahley den Mann, der der betrunken wirkenden Frau aus dem Taxi geholfen haben soll, eingehender geschildert?«, erkundigte sich Benton. Er blickte zur Decke, legte die Handflächen zusammen und tippte ungeduldig mit den Fingerspitzen aneinander.
»Er war dunkel gekleidet und trug eine Baseballkappe und vielleicht eine Brille. Seiner Ansicht nach war der Mann schlank und durchschnittlich groß«, erwiderte Bonnell. »Allerdings hat er ihn nicht gut gesehen, weil er nicht vom Gas gegangen ist und das Wetter so schlecht war. Er sagte, das Taxi habe ihm die Sicht versperrt, denn der Mann und die Frau hätten sich zwischen dem Wagen und dem Gehweg befunden.«
»Was ist mit dem Taxifahrer?«, fragte Benton.
»Er hat keinen bemerkt, aber angenommen, dass da einer gewesen sein muss«, entgegnete Bonnell.
»Warum hat er das angenommen?«, hakte Benton nach.
»Weil die einzige offene Tür die hinten links war. Daraus hat er geschlossen, dass der Fahrer vorn war, während der Mann und die Frau hinten gesessen hatten. Harvey meinte, wenn der Fahrer ihr in dieser Gegend aus dem Taxi geholfen hätte, wäre er nicht gleich darauf wieder losgefahren, denn er hätte befürchtet, dass die Frau in Schwierigkeiten steckte. Schließlich könne man eine bis zur Besinnungslosigkeit Betrunkene nicht einfach am Straßenrand aussetzen.«
»Klingt, als suche er nach Ausreden, warum er weitergefahren ist«, schaltete sich Marino ein. »Der Gedanke, dass er beobachtet haben könnte, wie ein Taxifahrer eine verletzte oder tote Frau aus dem Wagen warf, ist ihm sicher unangenehm. Da denkt man lieber an ein betrunkenes Paar.«
»Wie weit ist die Stelle, die er in dem Bandmitschnitt beschreibt, vom Fundort der Leiche entfernt?«, erkundigte sich Scarpetta.
»Etwa zehn Meter«, erwiderte Bonnell.
Scarpetta erzählte den anderen von dem hellgelben Lacksplitter, den sie aus Tonis Haar entfernt hatte. Doch sie fügte hinzu, dass sie diesem Detail nicht allzu viel Bedeutung beimaß, da die sichergestellten Spuren noch nicht untersucht worden seien. Außerdem habe sie auch rote und schwarze mikroskopisch kleine Splitter an Tonis Leiche entdeckt. Der Lack könne von der Waffe stammen, mit der der Täter Toni den Schädel zerschmettert hatte. Allerdings kämen auch andere Gegenstände in Frage.
»Wie konnte sie in einem Taxi sitzen, wenn sie seit sechsunddreißig Stunden tot war?«, stellte Marino die sich aufdrängende Frage.
»Nur wenn der Taxifahrer der Täter ist«, verkündete Bonnell mit mehr Überzeugung, als im Moment angebracht war. »Wie man die Sache auch dreht und wendet. Wenn Harvey die Wahrheit sagt, muss ein Taxifahrer sie letzte Nacht mitgenommen, umgebracht und ihre Leiche heute am frühen Morgen am Park entsorgt haben. Oder er hat die Leiche eine Zeitlang behalten und sie dann abgelegt, sofern Dr. Scarpetta, was den Todeszeitpunkt angeht, recht hat. Und das gelbe Taxi könnte eine Verbindung zwischen Toni Darien und Hannah Starr sein.«
Mit dieser Theorie hatte Scarpetta schon gerechnet.
»Hannah Starr wurde dabei beobachtet, wie sie in ein gelbes Taxi stieg«, fügte Bonnell hinzu.
»Ich bin nicht bereit, einen Zusammenhang zwischen dem Mord an Toni und dem Fall Hannah Starr auch nur in Erwägung zu ziehen«, verkündete Berger.
»Die Sache ist nur«, wandte Bonnell ein, »dass wir es mit drei Opfern zu tun haben, wenn wir schweigen und es wieder passiert.«
»Ich habe dennoch nicht die Absicht, eine Verbindung herzustellen.« Das hatte Berger als Warnung gemeint. Wer dieses Thema in der Öffentlichkeit erwähnte, würde sich warm anziehen müssen.
»Es geht hier nicht um meine Meinung zum Fall Hannah Starr«, führte Berger weiter aus. »Bei ihrem Verschwinden spielen andere Faktoren mit. Und meine bisherigen Ermittlungen weisen darauf hin, dass Hannah Starr nichts mit Toni Darien zu tun hat. Außerdem wissen wir gar nicht, ob sie tot ist.«
»Weiterhin ist uns nicht bekannt, ob es nicht noch eine andere Person gibt, die Zeuge derselben Szene wurde wie Harvey Fahley«, sagte Benton und warf Scarpetta einen Blick zu. Er hatte die Bemerkung ihr zuliebe gemacht. »Es wäre gar nicht gut, wenn dieser Zeuge sich, wie es heutzutage üblich ist, an die Medien wendet, anstatt die Polizei zu kontaktieren. Ich möchte nicht in der Nähe von CNN oder einem anderen Sender sein, wenn die Sache mit dem gelben Taxi erst einmal durchgesickert ist.«
»Ich verstehe«, erwiderte Scarpetta. »Aber ganz gleich, ob ein solcher Zeuge existiert, befürchte ich, die Sache zu verschlimmern, wenn ich mich heute nicht blicken lasse. Es würde die Sensationsgier nur anheizen. CNN ist darüber informiert, dass ich Toni Darien oder Hannah Starr nicht erwähnen werde. Ich erörtere grundsätzlich keine laufenden Ermittlungen.«
»Ich würde gar nicht erst hingehen.« Benton sah sie eindringlich an.
»Es steht in meinem Vertrag, und ich hatte nie ein Problem damit«, entgegnete sie.
»Ich stimme Kay zu. Sie soll sich einfach verhalten, als wäre nichts geschehen«, meinte Berger. »Wenn sie in letzter Minute absagt, liefert sie Carley Crispin nur Stoff für neue Mutmaßungen.«