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Ein eiskalter Wind pfiff vom East River herüber und zerrte an Dr. Kay Scarpettas Mantel, als sie die Thirtieth Street hinuntereilte.

Obwohl es nur noch eine Woche bis Weihnachten war, konnte man in dieser Gegend, geprägt von den drei Orten des Elends und des Todes, die Scarpetta als Manhattans tragisches Dreieck bezeichnete, nichts von Festtagsstimmung bemerken. Hinter ihr lag der sogenannte Memorial Park, ein gewaltiges weißes Zelt, in dem die noch immer nicht identifizierten sterblichen Überreste der Opfer vom Ground Zero vakuumverpackt gelagert wurden. Vor ihr erhob sich das gotische Backsteingebäude der ehemaligen Nervenheilanstalt Bellevue, die inzwischen als Obdachlosenunterkunft diente. Und gleich gegenüber befand sich die Anlieferungszone der Gerichtsmedizin, wo eine Garagentür aus grauem Stahl geöffnet war. Ein Lastwagen rangierte rückwärts heran, um weitere Paletten mit Pressspanplatten abzuladen. In der Gerichtsmedizin war es heute ziemlich laut zugegangen, durch die Gänge, die Schall übertrugen wie ein Amphitheater, hallte ein ständiges Hämmern. Die Assistenten zimmerten unermüdlich schlichte Fichtensärge in Erwachsenen- und Kindergröße zusammen und konnten dennoch kaum mit der Nachfrage für Armenbegräbnisse auf dem Potter’s Field mithalten. Wie vieles andere auch eine Folge der Wirtschaftskrise.

Scarpetta bedauerte bereits, dass sie den Cheeseburger mit Pommes gekauft hatte, den sie in einem Pappkarton mit sich herumtrug. Wie lange hatte er wohl im Warmhalteregal in der Mensa der New Yorker medizinischen Fakultät gestanden? Es war schon drei Uhr, also ziemlich spät für ein Mittagessen. Außerdem wusste Scarpetta um die geschmackliche Qualität dieser Mahlzeit. Doch ihr fehlte die Zeit, sich an einer Salatbar anzustellen, sich gesund zu ernähren oder zumindest etwas zu essen, worauf sie Lust hatte, denn sie hatte heute bereits fünfzehn Fälle bearbeitet. Selbstmorde, Unfälle, Tötungsdelikte und das Ableben mittelloser Personen, die ohne Beisein eines Arztes oder, noch trauriger, ohne Angehörige und völlig vereinsamt verstorben waren.

Bereits um sechs war sie zur Arbeit gegangen, um rechtzeitig fertig zu werden. Deshalb hatte sie die ersten beiden Autopsien schon um neun erledigt und sich die schwierigste bis zum Schluss aufgespart – eine junge Frau mit sonderbaren Verletzungen, die nicht nur zeitaufwendig waren, sondern ihr einige Rätsel aufgaben. Über fünf Stunden lang musste Scarpetta sich mit Toni Dariens Leiche befassen, detailgetreue Zeichnungen anfertigen, sich ausführliche Notizen machen, Dutzende von Fotos schießen und das gesamte Gehirn für spätere Untersuchungen in einem Behälter mit Formalin konservieren. Sie hatte mehr Röhrchen mit Flüssigkeiten, Organ- und Gewebeproben sichergestellt als üblich und alles, was möglich war, aufbewahrt und dokumentiert, da ihr dieser Fall äußerst merkwürdig erschien. Und zwar nicht wegen der ungewöhnlichen Umstände, sondern wegen seiner Widersprüchlichkeiten.

Die Art und Weise, wie die junge Frau zu Tode gekommen war, wirkte bedrückend alltäglich, weshalb sich eine langwierige Obduktion zur Klärung der grundlegenden Fragen erübrigt hatte. Sie war durch Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand getötet worden – ein einziger Schlag auf den Hinterkopf mit einem vermutlich bunt lackierten Objekt. Allerdings ergab sonst nichts einen Sinn. Beim Auffinden der Toten kurz vor Morgengrauen am Rand des Central Park, etwa zehn Meter entfernt vom Anfang der East Hundred-tenth Street, hatte man angenommen, sie sei am Vorabend im Regen joggen gegangen und dabei überfallen, vergewaltigt und ermordet worden. Der Täter hatte ihr die Jogginghose und den Slip bis zu den Knöcheln heruntergezogen und Vliespulli und Sport-BH über die Brüste geschoben. Wegen des Polatech-Schals, der mit einem Doppelknoten fest um ihren Hals geschlungen war, hatten die Polizisten und die Mitarbeiter der Gerichtsmedizin, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, angenommen, dass der Mörder sie mit einem ihrer eigenen Kleidungsstücke erdrosselt hatte.

Aber das war ein Irrtum. Bei der Untersuchung der Leiche in der Gerichtsmedizin hatte Scarpetta keinerlei Hinweise darauf finden können, dass es sich bei dem Schal um die Mordwaffe handelte oder dass er zumindest zum Tod des Opfers beigetragen hatte. Es gab weder Anzeichen für Ersticken noch körperliche Reaktionen wie Rötungen oder Blutergüsse, nur eine trockene Abschürfung am Hals, als habe man ihr den Schal erst nach ihrem Tod umgebunden. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass der Täter ihr zuerst auf den Kopf geschlagen und sie in dem Glauben, dass sie noch lebte, anschließend erwürgt hatte. Doch wie viel Zeit hatte er in diesem Fall mit ihr verbracht? Nach der Verletzung, Schwellung und Einblutung im Kortex zu urteilen, war sie noch eine Zeitlang, vielleicht sogar einige Stunden, am Leben geblieben. Und dennoch war der Fundort nahezu frei von Blut. Erst beim Umdrehen der Leiche war die Wunde am Hinterkopf bemerkt worden, eine fünf Zentimeter lange, stark geschwollene Verletzung, aus der jedoch kaum Flüssigkeit austrat. Das Fehlen von Blut schob man auf den Regen.

Allerdings hatte Scarpetta ernsthafte Zweifel an dieser Theorie. Der Riss in der Kopfhaut hatte gewiss heftig geblutet, weshalb es ziemlich unwahrscheinlich war, dass der Regen, eigentlich eher ein Nieseln, fast das gesamte Blut aus Tonis langem, dichtem Haar herausgespült haben sollte. Hatte der Angreifer ihr zuerst einen Schädelbruch verpasst, sich dann in einer regnerischen Winternacht stundenlang mit ihr im Freien aufgehalten und ihr zu guter Letzt den Schal fest um den Hals geschnürt, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht verriet? Oder war das Würgen Teil eines sexuellen Gewaltrituals? Warum wollten sowohl Totenflecken als auch Totenstarre so gar nicht zu den Bedingungen am Fundort passen? Offenbar war die Frau spät in der vergangenen Nacht im Park umgebracht worden – und dennoch machte sie den Eindruck, als sei sie schon seit mindestens sechsunddreißig Stunden tot. Scarpetta verstand die Welt nicht mehr. Vielleicht sah sie ja auch Gespenster oder konnte nicht mehr klar denken, weil sie sich gehetzt fühlte und ihr Blutzuckerspiegel bedenklich niedrig lag. Schließlich hatte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen, aber dafür jede Menge Kaffee getrunken.

Und nun würde sie auch noch zu spät zu der für drei Uhr angesetzten Dienstbesprechung kommen. Außerdem musste sie um sechs zu Hause sein, um ins Fitnessstudio und anschließend mit ihrem Mann Benton Wesley zum Essen zu gehen. Danach würde sie auf schnellstem Wege zu CNN fahren, obwohl sie nicht die geringste Lust dazu verspürte. Sie hätte sich nie breitschlagen lassen dürfen, in Tue Crispin Report aufzutreten. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, als sie sich einverstanden erklärt hatte, mit Carley Crispin vor die Kamera zu treten, um die Veränderungen der Haarstruktur nach dem Tod, die Bedeutung des Mikroskopierens und andere Gebiete der Forensik zu erörtern, die von der Öffentlichkeit ständig missverstanden wurden? Was einzig und allein die Schuld jener Branche war, zu der Scarpetta inzwischen selbst gehörte: der Unterhaltungsindustrie. Mit ihrem Mittagessen im Pappkarton marschierte sie durch die Anlieferungszone, wo überall Kisten und Schachteln voller Büromaterial und bei der Autopsie benötigten Utensilien sowie Karren, Rollwagen aus Metall und Pressspanplatten herumstanden. Der Wachmann in seiner Plexiglaskabine telefonierte gerade und würdigte sie kaum eines Blickes, als sie an ihm vorbeihastete.

Oben an der Rampe zog sie die Karte, die sie an einer Kordel um den Hals trug, durch ein Lesegerät, um die schwere Metalltür zu öffnen, und betrat ein weiß und petrolgrün gekacheltes, mit Geländern ausgestattetes Labyrinth, das überall und nirgendwo hinzuführen schien. In ihren Anfangstagen als Teilzeit-Gerichtsmedizinerin hatte Scarpetta sich ständig verlaufen und war in der Anthropologie anstatt in der Neuropathologie oder der Kardiopathologie, in der Herrenumkleide anstatt in der für Damen oder im Raum für verwesende Leichen anstatt im Autopsiesaal gelandet. Sie hatte die falsche Kühlkammer, das falsche Treppenhaus und manchmal sogar die falsche Etage erwischt, wenn sie den alten Lastenaufzug aus Stahl benutzte.

Allerdings hatte sie bald verstanden, welche Logik hinter dem Grundriss des Gebäudes steckte. Es handelte sich gewissermaßen um einen Rundweg, der in der mit einem gewaltigen Garagentor versehenen Anlieferungszone begann. Wenn der gerichtsmedizinische Transportdienst eine Leiche brachte, lud man die Bahre dort ab und schob sie durch einen Strahlendetektor. Wies kein Alarmsignal auf das Vorhandensein von radioaktivem Material hin, wie es Radiologen beispielsweise bei der Behandlung einiger Krebsarten verwendeten, war die nächste Haltestelle die im Boden eingelassene Waage, wo man die Leiche wog und vermaß. Die folgende Station hing vom Zustand des Toten ab. Ließ dieser zu wünschen übrig oder wurde er als Gefahr für die Lebenden eingestuft, brachte man den Verstorbenen in die Kühlkammer für verwesende Leichen gleich neben dem dazugehörigen Autopsieraum, wo man die Obduktion allein, unter besonderer Belüftung und mit Hilfe anderer Schutzmaßnahmen durchführen konnte.

Eine Leiche in guter Verfassung wurde einen Flur entlanggeschoben, der rechts von der Anlieferungszone abging. Je nach Art der Verletzungen standen noch weitere Zwischenstopps auf dem Programm: das Röntgenlabor, der Lagerraum für Gewebeproben, zwei weitere Kühlkammern für noch nicht untersuchte Leichen, der Aufzug für diejenigen, die oben aufgebahrt und identifiziert werden mussten, Asservatenkammern, die Neuropathologie, die Kardiopathologie und zu guter Letzt der Autopsiesaal. Wenn die Leiche nach Abschluss dieses Rundwegs zur Bestattung freigegeben wurde, endete sie wieder an der Anlieferungszone, und zwar in einer Kühlkammer, wo nun auch Toni Darien in einem Leichensack auf einem Regal hätte liegen sollen.

Doch die befand sich auf einem Rollwagen, der vor der Edelstahltür der Kühlkammer stand. Eine Assistentin war gerade damit beschäftigt, ein blaues Laken über sie zu breiten und es bis zum Kinn hochzuziehen.

»Was machen Sie da?«, fragte Scarpetta.

»Wir hatten oben eine kleine Szene. Sie wird aufgebahrt.« »Auf wessen Wunsch und warum?«

»Die Mutter ist in der Vorhalle und weigert sich, zu gehen, bevor sie sie gesehen hat. Keine Sorge, ich kümmere mich darum.« Die Assistentin hieß Rene, war Mitte dreißig und hatte schwarze Locken und dunkelbraune Augen. Außerdem besaß sie ein ungewöhnliches Talent im Umgang mit Angehörigen. Wenn in dieser Phase ein Problem aufgetreten war, handelte es sich sicher nicht um eine Kleinigkeit, denn Rene gelang es normalerweise, jede Situation zu entschärfen.

»Ich dachte, der Vater hätte sie bereits identifiziert«, wunderte sich Scarpetta.

»Nachdem er die Papiere ausgefüllt hatte, habe ich ihm das Foto gezeigt, das Sie mir gemailt hatten. Das war, bevor Sie in die Mensa gegangen sind. Kurz darauf erschien die Mutter, und die beiden haben sich in der Vorhalle gestritten. Das heißt, sie sind eher übereinander hergefallen, bis er wutentbrannt abgehauen ist.«

»Sind sie geschieden?«

»Sie hassen einander offenbar wie die Pest. Jetzt besteht die Mutter darauf, die Leiche zu sehen, und lässt sich nicht abweisen.« Renes in einem violetten Gummihandschuh steckende Hand strich der Toten eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn und steckte ihr weiteres Haar hinter die Ohren, um die Spuren der Autopsie zu tarnen. »Ich weiß, dass Sie in ein paar Minuten Dienstbesprechung haben. Ich erledige das schon.« Sie warf einen Blick auf den Pappkarton in Scarpettas Hand. »Sie haben ja noch nicht einmal gegessen. Haben Sie heute überhaupt etwas in den Magen gekriegt? Vermutlich nicht, so wie immer. Wie viel haben Sie inzwischen abgenommen? Sie werden noch in der Anthropologie landen, weil man Sie mit einem Skelett verwechselt.«

»Worüber haben sie sich denn in der Vorhalle gestritten?«, erkundigte sich Scarpetta.

»Bestattungsinstitute. Die Mutter möchte eines auf Long Island beauftragen, der Vater beharrt auf New Jersey. Die Mutter will eine Beerdigung, aber die Vater besteht darauf, sie einäschern zu lassen. Die beiden haben sich wegen ihr gezankt.« Sie berührte wieder die Tote, als könne sie am Gespräch teilnehmen. »Dann haben sie einander alle möglichen Anschuldigungen an den Kopf geworfen. Sie haben so einen Radau veranstaltet, dass sogar Dr. Edison aus seinem Büro gekommen ist.«

Dr. Edison war der Chief Medical Examiner und Scarpettas Vorgesetzter, wenn sie in der Stadt war. Da sie den Großteil ihrer beruflichen Laufbahn selbst Chief Medical Examiner oder Inhaberin einer Privatpraxis gewesen war, fiel es ihr ein wenig schwer, sich einem Vorgesetzten unterzuordnen. Andererseits hätte sie niemals Leiterin der New Yorker Gerichtsmedizin sein wollen, selbst wenn man ihr je diesen Posten angetragen hätte. Einer derart riesigen Behörde vorzustehen war, als wäre man Oberbürgermeisterin einer Großstadt.

»Tja, Sie kennen ja die Vorschriften«, sagte Scarpetta. »Solange sich die beiden nicht einig sind, bleibt die Leiche hier und wird nur auf Anweisung der Rechtsabteilung freigegeben. Was ist eigentlich passiert, als Sie der Mutter das Foto gezeigt haben?«

»Ich habe es versucht, aber sie hat sich geweigert, es anzuschauen. Sie beharrt darauf, ihre Tochter zu sehen. Vorher geht sie nicht.«

»Ist sie im Raum für die Angehörigen?«

»Dorthin habe ich sie zumindest gebracht. Die Akte und Kopien der Formulare liegen auf Ihrem Schreibtisch.«

»Danke. Ich werfe einen Blick hinein, wenn ich oben bin. Sie schieben die Leiche in den Aufzug, und ich kümmere mich um den Rest«, erwiderte Scarpetta. »Wären Sie so gut, Dr. Edison auszurichten, dass ich es nicht zur Dienstbesprechung schaffe? Sie hat sowieso schon angefangen. Hoffentlich erwische ich ihn noch, bevor er Feierabend macht. Ich muss mit ihm über diesen Fall sprechen.«

»Ich gebe ihm Bescheid.« Rene schloss die Hände um den Griff des Rollwagens. »Viel Glück heute Abend im Fernsehen.«

»Sagen Sie ihm auch, ich hätte ihm die Fotos vom Fundort bereits abgespeichert. Allerdings schaffe ich es erst morgen, das Autopsieprotokoll zu diktieren und ihm die Fotos zu mailen.«

»Ich habe die Vorankündigungen für die Sendung gesehen. Klingt gut.« Rene hatte sich offenbar auf das Thema Fernsehen eingeschossen. »Nur diese Carley Crispin kann ich nicht ausstehen. Wie heißt noch mal der Profiler, der auch ständig dabei ist? Dr. Agee. Außerdem habe ich es satt, dass es immer nur um Hannah Starr geht. Ich wette, Carley wird Sie danach fragen.«

»Bei CNN weiß man, dass ich nicht über laufende Ermittlungen spreche.«

»Glauben Sie auch, dass sie tot ist? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher.« Renes Stimme folgte Scarpetta in den Aufzug. »So wie diese Frau in Aruba? Natalee? Leute verschwinden nur aus einem ganz bestimmten Grund, und zwar, weil andere Leute es so wollen.«

Man hatte Scarpetta zugesichert, dass es nicht dazu kommen würde. Das würde Carley Crispin niemals wagen. Schließlich war Scarpetta nicht irgendeine Expertin, eine Außenstehende, ein selten geladener Gast oder irgendjemandes Sprachrohr, hielt sie sich während der Fahrt im Aufzug vor Augen. Sie war die oberste forensische Analystin bei CNN und hatte dem Produzenten Alex Bachta unmissverständlich klargemacht, dass sie sich nicht über Hannah Starr äußern, ja, nicht einmal ihren Namen erwähnen würde. Die attraktive und erfolgreiche Finanzberaterin hatte sich am Tag nach Thanksgiving in Luft aufgelöst. Zuletzt war sie beobachtet worden, wie sie ein Restaurant in Greenwich Village verließ und in ein Taxi stieg. Falls sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten, dass sie ermordet worden war, und ihre Leiche in New York City aufgefunden wurde, war die hiesige Gerichtsmedizin dafür zuständig. Also bestand die Möglichkeit, dass die Leiche auf Scarpettas Autopsietisch landete.

Im Parterre stieg Scarpetta aus dem Aufzug und ging, vorbei am Büro für Sondereinsätze, den langen Flur entlang. Hinter einer weiteren verschlossenen Tür befand sich die Vorhalle. Sie war mit weinrot und blau bezogenen Sofas und Sesseln, Couchtischen und Zeitschriftenständern ausgestattet. Vor einem Fenster mit Blick auf die First Avenue standen ein Weihnachtsbaum und eine Menora. In den Marmor über dem Empfangstisch waren die Worte Taceant Colloquia Efugial Risus Hic Locus Est Ugbi Mors Gaudet Succurrere Vitae eingemeißelt – der Ort, wo der Tod seine Freude daran hat, den Lebenden zu helfen. Ein Radio hinter dem Empfangstisch spielte Musik. Die Eagles sangen »Hotel California«. Filene, eine Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes, hatte offenbar beschlossen, dass die menschenleere Vorhalle ihr Revier war und deshalb mit Musik nach ihrem Geschmack beschallt werden konnte.

»... You can check out anytime but you can never leave – Man kann jederzeit auschecken, aber man kommt nicht weg«, summte Filene leise mit, anscheinend ohne sich der Ironie bewusst zu sein.

»Es wartet jemand im Zimmer für die Angehörigen.« Scarpetta blieb am Empfangstisch stehen.

»Oh, Verzeihung.« Filene bückte sich, um das Radio auszuschalten. »Ich glaube, von hier aus war es nicht zu hören. Aber es ist schon in Ordnung. Ich kann auch ohne meine Musik leben. Es ist nur so langweilig hier, wissen Sie? Den ganzen Tag sitzt man herum, und nichts passiert.«

Dass Filene hier ausschließlich unschöne Dinge zu sehen bekam, war vermutlich eher als Langeweile der Grund, warum sie sich so oft wie möglich mit aufmunterndem Softrock tröstete, ganz gleich, ob sie nun am Empfang oder unten in der Autopsie Dienst hatte. Scarpetta störte das nicht, solange keine trauernden Angehörigen von Musik oder Liedtexten belästigt wurden, die man als provokativ oder pietätlos auslegen konnte.

»Sagen Sie Mrs. Darien, dass ich gleich bei ihr bin«, wies Scarpetta sie an. »Ich brauche etwa eine Viertelstunde, um etwas nachzuschauen und mir die Formulare anzusehen. Und keine Musik, bis sie wieder weg ist, einverstanden?«

Von der Vorhalle ging der Verwaltungstrakt ab, den Scarpetta mit Dr. Edison, zwei Sekretärinnen und der Personalchefin teilte, die bis nach Silvester auf Hochzeitsreise sein würde. Da das Gebäude ein halbes Jahrhundert alt und ziemlich beengt war, hatte der Platz nicht gereicht, um Scarpetta im zweiten Stock unterzubringen, wo die festangestellten Forensiker ihre Büros hatten. Wenn sie in der Stadt war, benutzte sie deshalb den ehemaligen Konferenzsaal des Chief Medical Examiner im Parterre, mit Blick auf den mit türkisfarbenen Backsteinen eingefassten Eingang des Gerichtsmedizinischen Instituts in der First Avenue. Sie entriegelte die Tür und trat ein. Nachdem sie ihren Mantel aufgehängt und ihren Essenskarton auf den Tisch gestellt hatte, setzte sie sich an den Computer.

Sie ging ins Internet und gab BioGraph in das Suchfeld ein. Am oberen Bildschirmrand erschien eine Frage: Meinten Sie BioGraphy? Nein, Fehlanzeige. Biograph Records war auch nicht das, was sie interessierte. American Mutoscope and Biograph Company war das älteste Filmstudio in den Vereinigten Staaten, gegründet im Jahr 1895 von einem Erfinder, der für Thomas Edison gearbeitet hatte. Dieser war, ein interessanter Zufall, ein entfernter Verwandter des Chief Medical Examiner. Unter dem Begriff BioGraph mit großem B und großem G war nichts zu finden. Und genau dieses Wort war auf die Rückseite der ungewöhnlichen Uhr eingraviert, die Toni Darien bei ihrer Einlieferung an diesem Morgen am linken Handgelenk getragen hatte.

 

In Stowe, Vermont, herrschte starker Schneefall. Große, schwere, feuchte Flocken türmten sich auf den Balsamfichten und Tannen. Die Skilifte am Green Mountain waren im Schneesturm nur als kaum auszumachende zarte Linien zu erkennen und standen still. Bei diesem Wetter ging niemand zum Skilaufen. Die Leute verkrochen sich lieber im warmen Haus.

Lucy Farinellis Hubschrauber saß im nahe gelegenen Burlington fest. Zumindest stand er wohlbehalten in einem Hangar, was allerdings hieß, dass sie und die New Yorker Staatsanwältin Jaime Berger in den nächsten fünf Stunden, vielleicht auch noch länger, nirgendwohin fliegen würden. Jedenfalls nicht bis neun Uhr abends, wenn das Unwetter voraussichtlich nach Süden weitergezogen sein würde, sodass die Bedingungen einen Sichtflug möglich machten. Die Wolkendecke würde auf zehntausend Meter steigen, die Sichtweite etwa acht Kilometer betragen und der Wind mit einer Stärke von dreißig Knoten aus Nordosten wehen. Da sie auf dem Rückflug nach New York kräftigen Rückenwind haben würden, konnten sie gerade noch rechtzeitig zurück sein. Doch Berger war schlechter Laune, hatte den ganzen Tag im Nebenzimmer am Telefon verbracht und gab sich keine Mühe, nett zu Lucy zu sein. Für sie sah die Sache so aus, dass sie wegen des Wetters länger hierbleiben mussten als geplant, wofür Lucy als Pilotin die Verantwortung trug. Dass der Wetterbericht sich geirrt hatte, spielte keine Rolle. Zwei kleine Schlechtwetterfronten hatten sich über Saskatchewan in Kanada zu einer großen vereint und sich mit arktischen Luftmassen zu einem heftigen Sturm verquickt.

Lucy drehte die Lautstärke des YouTube-Videos herunter, Mick Fleetwoods Schlagzeugsolo in »World Turning«, ein Live-Konzert aus dem Jahr 1987.

»Kannst du mich jetzt verstehen?«, fragte sie ihre Tante Kay am Telefon. »Der Empfang hier ist miserabel, und das Wetter verschlimmert die Sache noch.«

»Viel besser. Wie läuft es?«, erklang Scarpettas Stimme an Lucys Kieferknochen.

»Bis jetzt nichts gefunden. Was seltsam ist.«

Lucy hatte drei MacBooks eingeschaltet. Jeder Bildschirm war in Quadranten aufgeteilt, die das aktuelle Flugwetter, Datenströme aus dem Absuchen neuraler Netzwerke, Links zu möglicherweise interessanten Websites, den E-Mail-Verkehr von Hannah Starr, Lucys E-Mails und aus Überwachungskameras stammende Aufnahmen des Schauspielers Hap Judd zeigten, und zwar in OP-Kleidung in der Pathologie des Park General Hospital, bevor er berühmt geworden war.

»Bist du sicher, was den Namen angeht?«, fragte sie, während sie die Bildschirme betrachtete und sich von den verschiedenen Eindrücken ablenken ließ.

»Ich weiß nur, was in die Rückseite aus Stahl eingraviert ist.« Scarpetta klang ernst und abgehetzt. »BioGraph.« Sie buchstabierte es noch einmal. »Und eine Seriennummer. Vielleicht kann die übliche Software, die das Internet durchkämmt, nichts damit anfangen. Wie bei einem Virus: Wenn man nicht weiß, was man sucht, findet man es nicht.«

»Das ist nicht mit einer Anti-Virus-Software zu vergleichen. Meine Suchmaschinen verwenden keine Software. Ich führe Open-Source-Suchen durch. Und ich kann deswegen nichts über BioGraph entdecken, weil nichts darüber im Netz steht. Es wurde nichts veröffentlicht. Weder auf schwarzen Brettern noch in Blogs, Datenbanken oder sonst irgendwas.«

»Bitte nicht hacken«, sagte Scarpetta.

»Ich nutze nur die Schwachstellen in operierenden Systemen.«

»Ja, und wenn du durch eine nicht abgeschlossene Hintertür in ein fremdes Haus spazierst, ist es auch kein Hausfriedensbruch.«

»Jedenfalls wird BioGraph nirgendwo erwähnt, sonst wäre ich schon darauf gestoßen.« Lucy hatte nicht vor, sich auf ihre übliche Debatte einzulassen, dass der Zweck die Mittel heiligte.

»Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Es handelt sich um eine Hightech-Uhr mit USB-Anschluss, die man mit einem Ladegerät aufladen muss. Sicher war sie ziemlich teuer.«

»Ich finde sie aber nicht, ganz gleich, ob ich unter Uhren oder unter technische Geräte nachschaue.« Lucy beobachtete, wie die Ergebnisse über den Bildschirm liefen, während ihre neuralen Netz-Suchmaschinen eine Unzahl von Schlüsselwörtern, Texten, Dateien, URLs, Titeln, E-Mails und IP-Adressen durchgingen. »Ich entdecke hier nichts, was der Uhr, die du beschrieben hast, auch nur entfernt ähnlich sieht.«

»Man muss doch irgendwie in Erfahrung bringen können, womit wir es zu tun haben.«

»Es klappt nicht, genau darauf will ich ja hinaus«, entgegnete Lucy. »Es existiert keine BioGraph-Uhr oder ein Gerät, das dem Ding an Toni Dariens Handgelenk entspricht. Ihre BioGraph-Uhr gibt es nicht.«

»Was soll das heißen?«

»Dass sie im Internet, im Kommunikationsnetzwerk oder überhaupt im Cyberspace nicht vorkommt. Mit anderen Worten: Virtuell ist sie nicht vorhanden«, antwortete Lucy. »Wenn ich mir das Ding mal anschauen könnte, würde ich vermutlich erkennen, was es ist. Insbesondere falls du recht hast und es sich tatsächlich um einen Datenträger handelt.«

»Das geht erst, nachdem das Labor damit fertig ist.«

»Mist, pass bloß auf, dass die nicht mit Hammer und Schraubenzieher daran herumfuhrwerken«, meinte Lucy.

»Sie wird nur auf DNA untersucht. Die Polizei hat bereits versucht, Fingerabdrücke abzunehmen. Nichts. Bitte richte Jaime aus, dass sie mich anrufen soll, wenn es ihr passt. Hoffentlich amüsiert ihr euch gut. Entschuldige, dass ich gerade keine Zeit zum Reden habe.«

»Ich sage es ihr, wenn ich sie sehe.«

»Ist sie denn nicht bei dir?«, wunderte sich Scarpetta.

»Der Fall Hannah Starr und jetzt auch noch das hier. Jaime ist ziemlich beschäftigt. Gerade du müsstest das ja kennen.«

Lucy hatte nicht das Bedürfnis, ihr Privatleben zu erörtern. »Hoffentlich hatte sie einen schönen Geburtstag.«

Darüber wollte Lucy auch nicht sprechen. »Wie ist das Wetter bei euch?«

»Kalt, windig und bedeckt.«

»Ihr werdet noch mehr Regen und nördlich der Stadt möglicherweise auch Schnee kriegen«, erwiderte Lucy. »Gegen Mitternacht klart es aber auf, weil sich die Schlechtwetterfront abschwächt, während sie in eure Richtung zieht.«

»Ihr beide bleibt doch, wo ihr seid?«

»Wenn ich den Hubschrauber nicht anwerfe, besorgt sie sich einen Hundeschlitten.«

»Ruf mich an, bevor ihr startet, und sei bitte vorsichtig«, sagte Scarpetta. »Ich muss jetzt los und mit Toni Dariens Mutter reden. Du fehlst mir. Wir sollten unbedingt bald zusammen essen gehen oder etwas unternehmen.«

»Klar«, meinte Lucy.

Sie beendete das Telefonat und stellte das YouTube-Video wieder lauter. Mick Fleetwood drosch noch immer auf sein Schlagzeug ein. Mit beiden Händen auf den MacBooks, als spiele sie ein Keyboardsolo in einem Rockkonzert, klickte sie die E-Mail an, die gerade für Hannah Starr eingegangen war. Warum schickte man jemandem eine E-Mail, der verschwunden oder vielleicht sogar tot war? Lucy fragte sich, ob Bobby Fuller, Hannah Starrs Mann, wohl so dumm war, nicht daran zu denken, dass die New Yorker Polizei und die Staatsanwaltschaft todsicher Hannahs E-Mails überwachten beziehungsweise eine Forensikexpertin wie Lucy damit beauftragt hatten. Seit drei Wochen schickte Bobby seiner vermissten Frau täglich Nachrichten. Möglicherweise wusste er ja genau, was er tat, und wollte, dass die Strafverfolgungsbehörden die Briefe an seine bien-aimée, seine chouchou, seine amore mia, die Liebe seines Lebens, lasen. Denn wenn er sie ermordet hatte, würde er ihr schließlich keine Liebesbriefe schreiben, richtig?

 

Von: Bobby Fuller
Datum: Donnerstag, 18. Dezember, 15:24
An: Hannah
Betreff: Non posso vivere senza di te

 

Mein Kleines,
ich hoffe, dass Du Dich an einem sicheren Ort befindest, wenn Du das liest. Mein Herz reist auf den Schwingen meiner Seele und wird Dich finden, wo immer Du auch bist. Vergiss das nicht. Ich kann weder essen noch schlafen. B.

 

Inzwischen wusste Lucy seine IP-Adresse auswendig: die Wohnung von Bobby und Hannah in North Miami Beach, wo er in palastartiger Umgebung litt und sich vor den Medien versteckte. Lucy kannte auch die Wohnung selbst nur allzu gut, denn sie war mit seiner Frau, dieser reizenden Betrügerin, erst vor kurzem dort gewesen. Jedes Mal, wenn Lucy eine E-Mail von Bobby las und versuchte, sich in ihn hineinzuversetzen, überlegte sie, wie er sich wohl fühlte, falls er Hannah für tot hielt.

Ahnte er wohl, ob sie tot war oder ob sie noch lebte? War er vielleicht genau über ihr Schicksal im Bilde, weil er die Finger im Spiel hatte? Lucy tappte völlig im Dunkeln. Es gelang ihr einfach nicht, in Bobbys Gedankenwelt einzudringen oder auch nur Interesse dafür zu entwickeln. Für sie war lediglich wichtig, dass Hannah die Suppe, die sie sich selbst eingebrockt hatte, irgendwann würde auslöffeln müssen. Sie hatte eine Strafe verdient, denn sie hatte Lucys Zeit und Geld verschwendet und nahm ihr nun außerdem etwas weg, was noch viel kostbarer war. Drei Wochen Hannah bedeuteten Funkstille mit Berger. Auch wenn sie zusammen waren, herrschte Abstand zwischen ihnen. Lucy hatte Angst, kochte gleichzeitig vor Wut und war manchmal versucht, etwas Schreckliches zu tun.

Sie leitete Bobbys letzte Mail an Berger weiter, die im Nebenzimmer auf und ab ging. Ihre Schritte klapperten auf dem Parkettboden. Die Adresse einer Website, die in einem Quadranten eines MacBooks aufgetaucht war, ließ Lucy aufmerken.

»Was führen wir denn jetzt im Schilde?«, fragte sie in das leere Wohnzimmer des Hauses hinein, das sie gemietet hatte, um Berger zu ihrem Geburtstag mit einem Kurzurlaub zu überraschen. Es war ein Fünf-Sterne-Ferienhaus mit WLAN-Anschluss, offenen Kaminen, Federbetten und feingewebter Leinenwäsche. Hier fehlte es einem an nichts, außer an dem, weshalb man eigentlich hergekommen war – Nähe, Romantik und Spaß. Lucy gab Hannah die Schuld, außerdem Hap Judd, Bobby und dem Rest der Welt. Sie hatte das Gefühl, dass es alle auf sie abgesehen hatten und Berger sie zurückwies.

»Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren«, verkündete Berger, die gerade hereinkam. Sie meinte damit die Zustände jenseits der Fenster, wo hinter einem dichten Schleier aus Schneeflocken nur weiße Schemen zu erkennen waren. »Müssen wir denn für immer hierbleiben?«

»Was soll denn das?«, murmelte Lucy und klickte einen Link an.

Die Suche nach IP-Adressen hatte eine Website zutage gefördert, die vom Institut für forensische Anthropologie an der University of Tennessee betrieben wurde.

»Mit wem hast du gerade telefoniert?«, erkundigte sich Berger.

»Mit meiner Tante. Und jetzt führe ich Selbstgespräche. Mit irgendwem muss ich ja reden.«

Berger ignorierte den Seitenhieb. Sie hatte nicht vor, sich zu entschuldigen, und war machtlos gegen ihre schlechte Laune. Immerhin war Hannah Starrs Verschwinden ja nicht ihre Schuld, und dasselbe galt für die Tatsache, dass Hap Judd ein Perverser war, der ihnen möglicherweise etwas verschwieg. Und zu allem Überfluss war nun auch noch letzte Nacht eine Joggerin im Central Park vergewaltigt und ermordet worden. Deshalb erwartete Berger von Lucy, dass sie sich verständnisvoller und nicht so egoistisch verhielt. Warum wurde sie nicht endlich erwachsen und legte ihre Unsicherheit und ihre fordernde Haltung ab?

»Geht es auch ohne das Schlagzeug?« Bergers Migräne hatte sich wieder gemeldet. In letzter Zeit litt sie häufig daran.

Als Lucy YouTube ausschaltete, wurde es still im Raum. Bis auf das Zischen des Gaskamins war nichts zu hören. »Noch mehr von diesem kranken Zeug«, stellte sie fest.

Berger setzte ihre Brille auf und beugte sich vor, um es sich anzusehen. Sie roch nach Badeöl von Amorvero und war ungeschminkt, doch das hatte sie auch gar nicht nötig. Ihr kurzes dunkles Haar war zerzaust, und sie wirkte in ihrem schwarzen Jogginganzug mit nichts darunter unverschämt sexy. Außerdem war der Reißverschluss des Oberteils nicht zugezogen und gab jede Menge Dekolleté frei – nicht dass das etwas zu bedeuten gehabt hätte. Seit einer Weile wurde Lucy nicht mehr schlau aus ihr, denn sie wirkte ständig, als wäre sie mit ihren Gefühlen ganz weit weg. Am liebsten hätte sie sie in die Arme genommen, um ihr zu zeigen, was sie miteinander verbunden hatte und wie es früher gewesen war.

»Er schaut sich die Website der Body Farm an, und ich bezweifle stark, dass er beabsichtigt, sich umzubringen und seine Leiche der Wissenschaft zu spenden«, fuhr Lucy fort.

»Von wem sprichst du?« Berger las das Formular, das auf dem Bildschirm des MacBooks erschienen war.

 

Institut für forensische Anthropologie

University of Tennessee, Knoxville

Fragebogen für Leichenspender

 

lautete die Überschrift.

 

»Hap Judd«, antwortete Lucy. »Seine IP-Adresse hat Verbindung zu dieser Website, und er hat unter falschem Namen etwas bestellt ... Moment, wir wollen mal schauen, was dieser Schmierlappen vorhat. Wir folgen seiner Spur.« Sie öffnete weitere Websites. »Hier, auf diesem Bildschirm. FORDISC Software Sales. Ein interaktives Computerprogramm, das auf Windows läuft. Es klassifiziert und identifiziert Skelettteile. Der Typ ist echt morbide. So etwas ist doch nicht normal. Ich bin sicher, dass der Kerl nicht ganz koscher ist.«

»Machen wir uns nichts vor. Du bist auf etwas gestoßen, weil du danach gesucht hast«, entgegnete Berger, als wolle sie andeuten, dass Lucy nicht offen zu ihr war. »Du bist darauf versessen, Beweise dafür zu finden, dass er ein Verbrecher ist.«

»Ich finde die Beweise nur deshalb, weil er sie hinterlässt«, gab Lucy zurück. Seit Wochen stritten sie schon über das Thema Hap Judd. »Warum sperrst du dich so? Glaubst du, ich denke mir das alles nur aus?«

»Ich möchte mit ihm nur über Hannah Starr reden, während du ihn kreuzigen willst.«

»Um etwas aus ihm rauszukriegen, musst du ihm zuerst richtig Angst machen. Insbesondere dann, wenn sein verdammter Anwalt nicht dabei ist. Und ich habe es geschafft, das in die Wege zu leiten, damit du dein Ziel erreichst.«

»Falls wir je hier wegkönnen und er tatsächlich aufkreuzt.« Berger trat vom Computer zurück. »Vielleicht spielt er in seinem nächsten Film ja einen Anthropologen, einen Archäologen oder einen Entdecker«, meinte sie. »So etwas wie Jäger des verlorenen Schatzes oder einer dieser Mumienschocker, in denen Gräber und alte Flüche vorkommen.«

»Na klar«, höhnte Lucy. »Method Acting, das völlige Sichversenken in die Rolle eines Perversen. Möglicherweise schreibt er ja auch wieder eines seiner miserablen Drehbücher. Das wird er sicher als Alibi angeben, wenn wir ihm wegen des Park General Hospital und seiner ungewöhnlichen Vorlieben zusetzen.«

»Nicht wir werden ihm zusetzen, sondern ich. Du wirst nichts weiter tun, als ihm die Ergebnisse deiner Computerrecherche zu zeigen. Marino und ich übernehmen das Reden.«

Lucy würde sich später mit Pete Marino absprechen, wenn keine Gefahr bestand, dass Berger sie belauschte. Er verachtete Hap Judd und hatte ganz bestimmt keine Angst vor ihm. Marino interessierte es einen feuchten Kehricht, ob es sich bei der Person, die er verhörte oder einsperrte, um einen Prominenten handelte. Berger hingegen schien sich von Judd einschüchtern zu lassen, was Lucy nicht verstand. Bis jetzt hatte sie nämlich noch nie erlebt, dass Berger jemanden mit Glacéhandschuhen anfasste.

»Komm her.« Lucy zog sie an sich, bis sie auf ihrem Schoß saß. »Was ist los mit dir?« Sie küsste ihren Rücken und schob die Hände unter das Oberteil ihres Jogginganzugs. »Seit wann bist du so schreckhaft? Das wird heute eine lange Nacht. Wir sollten ein Nickerchen halten.«

 

Grace Darien hatte langes dunkles Haar und wie ihre ermordete Tochter eine Stupsnase und volle Lippen. Sie trug ihren roten Wollmantel bis zum Kinn zugeknöpft und wirkte zerbrechlich und mitleiderregend, wie sie so am Fenster mit Blick auf den schwarzen Eisenzaun und die mit totem wildem Wein überwucherte Backsteinmauer des Bellevue stand. Der Himmel war bleigrau.

»Mrs. Darien? Ich bin Dr. Scarpetta.« Scarpetta trat ein und schloss die Tür.

»Es kann doch auch ein Irrtum sein.« Mrs. Darien wich vom Fenster zurück. Ihre Hände zitterten heftig. »Ständig sage ich mir, dass es nicht wahr ist. Es ist unmöglich. Gewiss handelt es sich um eine andere Frau. Was macht Sie so sicher?« Sie setzte sich an den kleinen Holztisch neben dem Wasserspender. Ihre Miene war stumpf und wie betäubt, ihre Augen funkelten ängstlich.

»Wir haben Ihre Tochter auf der Grundlage ihrer persönlichen Habe, die von der Polizei sichergestellt wurde, vorläufig identifiziert.« Scarpetta zog sich einen Stuhl heran und nahm ihr gegenüber Platz. »Außerdem hat Ihr ehemaliger Mann sich ein Foto von ihr angesehen.«

»Das hier gemacht wurde.«

»Ja, ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen.«

»Hat er Ihnen auch verraten, dass er sie nur ein- oder zweimal im Jahr zu Gesicht bekommt?«

»Wir werden, wenn nötig, auch die zahnärztlichen Unterlagen und die DNA vergleichen«, erwiderte Scarpetta.

»Ich schreibe Ihnen die Adresse ihres Zahnarztes auf. Sie geht noch immer zum selben Zahnarzt wie ich.« Als Grace Darien in ihrer Handtasche wühlte, fielen ein Lippenstift und eine Puderdose klappernd auf den Tisch. »Wie hieß noch mal die Polizistin, mit der ich gesprochen habe, als ich nach Hause kam und die Nachricht erhielt? Später hat ein anderer Detective angerufen. Ein Mann. Mario. Marinaro.« Ihre Stimme bebte, und sie musste die Tränen unterdrücken, während sie einen kleinen Notizblock und einen Stift hervorkramte.

»Pete Marino?«

Sie kritzelte etwas auf den Block und riss die Seite heraus. Ihre Bewegungen waren ungeschickt, fast als litte sie an Schüttellähmung. »Die Telefonnummer unseres Zahnarztes weiß ich nicht auswendig. Hier sind Name und Adresse.« Sie schob den Zettel zu Scarpetta hinüber. »Marino, ja, ich glaube, das war sein Name.«

»Er ist Detective beim New York Police Department und dem Büro von Staatsanwältin Jaime Berger unterstellt. Die Staatsanwaltschaft wird in dieser Sache ermitteln.« Scarpetta verstaute den Zettel in der Akte, die Rene für sie hinterlegt hatte.

»Er sagte, sie würden Tonis Haarbürste und ihre Zahnbürste aus ihrer Wohnung holen. Wahrscheinlich haben sie es schon getan, keine Ahnung. Seitdem habe ich nichts mehr gehört«, fuhr Mrs. Darien stockend und mit zitternder Stimme fort. »Die Polizei hat sich zuerst an Larry gewandt, weil ich nicht zu Hause war. Ich habe meine Katze zum Tierarzt gebracht. Ich musste sie einschläfern lassen, können Sie sich einen ungünstigeren Zeitpunkt vorstellen? Damit war ich gerade beschäftigt, als man versuchte, mich zu finden. Der Detective von der Staatsanwaltschaft meinte, man könne ihre DNA von Gegenständen aus ihrer Wohnung abnehmen. Ich begreife nicht, wie sie ohne diese Tests so überzeugt sein können, dass sie es ist.«

Scarpetta hatte nicht die geringsten Zweifel an Toni Dariens Identität. Ihr Führerschein und ihre Wohnungsschlüssel waren in einer Tasche der Vliesjacke gewesen, die die Leiche trug. Röntgenaufnahmen der Toten hatten verheilte Brüche des Schlüsselbeins und des rechten Arms gezeigt, alte Verletzungen, die Toni sich vor fünf Jahren zugezogen hatte, als sie auf ihrem Rad von einem Auto angefahren worden war. So stand es wenigstens im Polizeibericht.

»Ich habe sie immer davor gewarnt, in der Stadt zu joggen«, sprach Mrs. Darien weiter. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft. Und sie hat es auch nie bei Dunkelheit getan. Deshalb verstehe ich nicht, warum sie im Regen draußen herumgelaufen ist. Sie hat es gehasst, im Regen zu joggen, insbesondere wenn es dazu auch noch kalt ist. Es ist ganz bestimmt eine Verwechslung.«

Scarpetta schob eine Schachtel mit Papiertaschentüchern zu ihr hinüber. »Bevor wir sie uns anschauen, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Einverstanden?« Nachdem Grace Darien ihre Tochter gesehen hatte, würde sie nicht mehr in der Lage sein, ein Gespräch zu führen. »Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Ihrer Tochter?«

»Am Dienstagvormittag. Die genaue Uhrzeit weiß ich nicht mehr, es muss so gegen zehn gewesen sein. Ich habe sie angerufen, und wir haben uns ein bisschen unterhalten.«

»Also vor zwei Tagen, am 16. Dezember.«

»Ja.« Sie tupfte sich die Augen ab.

»Seitdem nicht mehr? Keine Telefonate, Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, E-Mails?«

»Wir haben nicht jeden Tag telefoniert oder gemailt. Aber sie hat mir eine SMS geschickt. Ich kann sie Ihnen zeigen.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Das hätte ich dem Detective vermutlich erzählen müssen. Wie, sagten Sie, heißt er noch mal?«

»Marino.«

»Er brauchte ihre E-Mail-Adresse, weil sie ihre Mails überprüfen wollten. Ich habe sie ihm gegeben, aber natürlich kenne ich ihr Passwort nicht.« Sie kramte nach ihrem Telefon und ihrer Brille. »Als ich Toni am Dienstagmorgen anrief, habe ich sie gefragt, ob sie zu Weihnachten lieber Truthahn oder Schinken essen wolle. Sie meinte, keines von beiden. Sie würde vielleicht für sich Fisch mitbringen, und ich habe geantwortet, dann würde ich mir besorgen, worauf ich Lust hätte. Es war ein ganz alltägliches Gespräch, das sich hauptsächlich um Themen wie dieses drehte. Ihre beiden Brüder kommen nämlich nach Hause. Die ganze Familie auf Long Island.« Die Brille auf der Nase und mit zitternden Händen blätterte sie die Nachrichten auf dem Mobiltelefon durch. »Dort wohne ich nämlich. In Islip. Ich bin Krankenschwester im Mercy Hospital.« Sie reichte Scarpetta das Telefon. »Das hat sie mir gestern Abend geschickt.« Sie nahm noch ein paar Papiertaschentücher aus der Schachtel.

Scarpetta las die Nachricht.

 

Von: Toni
Versuche immer noch, Urlaub zu kriegen, aber an Weihnachten geht es hier rund. Ich brauche eine Vertretung, doch niemand hat Lust, vor allem wegen der Stunden. XXOO
GB 917-555-1487
Eingegangen: Mitt., 17. Dez., 2 0:07

 

»Die Nummer, die mit 917 anfängt, ist die Ihrer Tochter?«, fragte Scarpetta.

»Ihre Mobilfunknummer.«

»Könnten Sie mir die Nachricht erklären?« Sie wollte sichergehen, dass Marino davon erfuhr.

»Sie arbeitet nachts und am Wochenende und bemüht sich um eine Vertretung, damit sie über die Feiertage freinehmen kann«, erwiderte Mrs. Darien. »Ihre Brüder kommen.«

»Ihr ehemaliger Mann sagt, sie sei Kellnerin in Hell’s Kitchen. «

»Klar, dass er es so ausdrückt, als würde sie in einem Imbiss arbeiten oder Hamburger braten. Sie ist im High Roller Lanes beschäftigt, einem sehr hübschen Lokal, sehr stilvoll, keine gewöhnliche Bowlingbahn. Später einmal möchte sie ein eigenes Restaurant in einem großen Hotel in Las Vegas, Paris oder Monte Carlo eröffnen.«

»Hatte sie gestern Abend Dienst?«

»Nein, normalerweise nicht am Mittwoch. Für gewöhnlich hat sie von Montag bis Mittwoch frei. Donnerstag bis Sonntag arbeitet sie sehr lange.«

»Wissen ihre Brüder schon Bescheid?«, erkundigte sich Scarpetta. »Ich möchte nicht, dass sie es aus den Nachrichten erfahren.«

»Larry hat es ihnen sicher mitgeteilt. Ich hätte damit ja noch gewartet. Es könnte schließlich eine Verwechslung sein.« »Gibt es vielleicht noch andere Personen, die es nicht in den Nachrichten hören sollten?«, fragte Scarpetta so taktvoll wie möglich. »Hatte sie einen Freund? Einen Lebensgefährten?«

»Tja, das habe ich mir auch schon überlegt. Als ich Toni im September zu Hause besucht habe, lagen lauter Stofftiere auf dem Bett, und viele Parfümflaschen standen herum. Auf meine Frage, woher sie die hatte, hat sie sehr ausweichend geantwortet. Und an Thanksgiving hat sie mir den ganzen Tag eine SMS nach der anderen geschickt. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Sie wissen ja, wie Verliebte so sind. Bei der Arbeit lernt sie viele Menschen kennen, und es sind einige attraktive und interessante Männer dabei.«

»Könnte sie sich Ihrem geschiedenen Mann anvertraut und ihm zum Beispiel von einem Freund erzählt haben?«

»Sie standen sich nicht sehr nah. Offenbar begreifen Sie nicht, warum Larry sich so verhält und was er in Wirklichkeit im Schilde führt. Er will es mir nur heimzahlen, indem er dafür sorgt, dass alle ihn für einen liebevollen Vater halten, nicht für einen Säufer und Spielsüchtigen, der seine Familie im Stich gelassen hat. Toni wäre nie mit einer Einäscherung einverstanden gewesen. Und falls es wirklich zum Schlimmsten gekommen sein sollte, werde ich das Bestattungsinstitut beauftragen, das sich um die Beerdigung meiner Mutter gekümmert hat. Levine and Sons.«

»Ich fürchte, die Gerichtsmedizin kann Tonis Leiche erst dann freigeben, wenn Sie und Mr. Darien sich geeinigt haben«, entgegnete Scarpetta.

»Sie dürfen nicht auf ihn hören. Als er ging, war Toni noch ein Baby. Welches Recht hat er, sich einzumischen?«

»Laut Gesetz muss eine Einigung, nötigenfalls vor Gericht, erfolgen, bevor wir die Leiche freigeben können«, wiederholte Scarpetta. »Es tut mir leid, denn mir ist klar, dass Sie zusätzliche Auseinandersetzungen und Belastungen im Moment überhaupt nicht gebrauchen können.«

»Warum taucht er nach über zwanzig Jahren plötzlich hier auf, stellt Forderungen und verlangt, dass man ihm ihre persönliche Habe aushändigt? Er hat sich in der Vorhalle mit mir gestritten und dem Mädchen dort gesagt, er wolle Tonis Sachen haben, also das, was sie bei ihrer Einlieferung bei sich hatte. Und dabei ist sie es vielleicht nicht einmal. Er hat schreckliche und herzlose Dinge gesagt! Außerdem war er betrunken und hatte sich nur ein Foto angeschaut. Und Sie glauben ihm? O Gott. Was werde ich zu sehen bekommen? Sagen Sie es mir, damit ich weiß, was mich erwartet.«

»Ihre Tochter ist durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf gestorben, die zu einem Schädelbruch und Hirnverletzungen geführt hat«, antwortete Scarpetta.

»Jemand hat ihr auf den Kopf geschlagen.« Mrs. Dariens Stimme zitterte, und sie brach in Tränen aus.

»Ja, es war ein heftiger Schlag auf den Kopf.«

»Wie oft? Ein Mal?«

»Mrs. Darien, ich muss Sie darauf hinweisen, dass alles, was ich hier mit Ihnen bespreche, vertraulich ist. Außerdem ist es meine Pflicht, mich in Diskretion und Zurückhaltung zu üben«, erwiderte Scarpetta. »Es ist wichtig, dass nichts an die Öffentlichkeit gelangt, das zur Folge haben könnte, dass der Mörder Ihrer Tochter ungeschoren davonkommt. Ich hoffe dabei auf Ihr Verständnis. Nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen können Sie einen Termin mit mir vereinbaren, und dann erörtern wir alles so ausführlich, wie Sie wollen.«

»Toni soll also gestern Nacht im Regen an der Nordseite des Central Park beim Joggen gewesen sein? Was wollte sie überhaupt dort? Hat sich jemand schon einmal diese Frage gestellt?«

»Wir stellen uns eine Unmenge von Fragen, haben aber leider erst wenige Antworten gefunden«, meinte Scarpetta. »Soweit ich informiert bin, befindet sich die Wohnung Ihrer Tochter in der Upper East Side in der Second Avenue. Das ist etwa zwanzig Häuserblocks vom Fundort entfernt, für eine trainierte Läuferin keine weite Strecke.«

»Aber es war dunkel und noch dazu im Central Park in der Nähe von Harlem. Niemals wäre sie nach Einbruch der Dunkelheit in dieser Gegend joggen gegangen. Außerdem hasste sie Regen und Kälte. Hat sich jemand von hinten an sie angeschlichen? Hat sie sich gewehrt? O mein Gott!«

»Ich muss Sie noch einmal daran erinnern, dass, was Einzelheiten angeht, äußerste Diskretion nötig ist«, sagte Scarpetta. »Ich kann Ihnen nur so viel verraten, dass es keine offensichtlichen Hinweise auf einen Kampf gibt. Anscheinend ist Toni auf den Kopf geschlagen worden, was eine schwere Verletzung mit starken Einblutungen ins Gehirn zur Folge hatte. Die heftigen Gewebereaktionen lassen vermuten, dass sie noch einige Zeit gelebt hat.«

»Aber sie war doch sicher bewusstlos.«

»Die Untersuchung hat ergeben, dass sie eine Weile am Leben war, allerdings sicher nicht mehr bei Bewusstsein. Vielleicht hat sie gar nichts von dem Überfall gespürt. Aber mehr wissen wir erst, wenn wir die restlichen Testergebnisse haben.« Scarpetta schlug die Akte auf, entnahm ihr das Formular für die Krankengeschichte und legte es vor Mrs. Darien hin. »Ihr geschiedener Mann hat es ausgefüllt. Es wäre nett, wenn Sie einmal einen Blick darauf werfen könnten.«

Beim Lesen zitterte das Papier in Mrs. Dariens Hand.

»Name, Adresse, Geburtsort, Namen der Eltern. Sagen Sie mir, ob wir noch etwas korrigieren müssen«, forderte Scarpetta sie auf. »Litt sie an Bluthochdruck, Diabetes, Unterzuckerung, psychischen Problemen, oder war sie vielleicht schwanger?«

»Er hat überall Nein angekreuzt. Woher zum Teufel will er das wissen?«

»Keine Depressionen, Stimmungsschwankungen oder Veränderungen ihres Verhaltens, die Ihnen merkwürdig erschienen?« Scarpetta dachte an die BioGraph-Uhr. »Hatte sie Schlafstörungen? Irgendetwas, das nicht mehr so war wie früher? Sie meinten doch, sie sei in letzter Zeit ein wenig durcheinander gewesen.«

»Vielleicht lag es an einem Mann, an der Arbeit oder der momentanen Wirtschaftskrise. Einige ihrer Kolleginnen sind gekündigt worden«, erwiderte Mrs. Darien. »Sie ist eben hin und wieder bedrückt, so wie andere Leute auch. Insbesondere um diese Jahreszeit. Sie mag den Winter nicht.«

»Irgendwelche Medikamente?«

»Nur rezeptfreie, soweit ich weiß. Vitamine. Sie achtet sehr auf ihre Gesundheit.«

»Mich würde interessieren, wer ihr Internist war. Zu welchem Arzt oder welchen Ärzten ging sie? Das hat Mr. Darien nicht ausgefüllt.«

»Woher soll er es auch wissen? Schließlich musste er die Rechnungen nicht bezahlen. Seit dem College wohnt Toni allein, weshalb ich keine Ahnung habe, wer ihr Arzt ist. Außerdem ist sie nie krank und strotzt nur so vor Tatendrang. Ständig ist sie unterwegs.«

»Gibt es irgendwelche Schmuckstücke, die sie oft trug? Vielleicht Ringe, ein Armband oder eine Kette, die sie nur selten abnahm?«, erkundigte sich Scarpetta.

»Das kann ich nicht sagen.«

»Und eine Armbanduhr?«

»Ich glaube nicht.«

»Eine Art schwarze Sportuhr aus Plastik? Eine große schwarze Uhr? Kommt Ihnen das bekannt vor?«

Mrs. Darien schüttelte den Kopf.

»Ich kenne solche Uhren von Personen, die an Studien teilnehmen. Sie sicher auch. Uhren, die die Herztätigkeit überwachen oder zum Beispiel bei Patienten mit Schlafstörungen eingesetzt werden«, fügte Scarpetta hinzu.

Ein Funke Hoffnung malte sich in Mrs. Dariens Blick.

»Was war, als Sie Toni zu Thanksgiving getroffen haben?«, hakte Scarpetta nach. »Hatte sie da vielleicht eine Uhr um, wie ich sie gerade beschrieben habe?«

»Nein.« Wieder schüttelte Mrs. Darien den Kopf. »Genau das meine ich ja. Vielleicht ist sie es ja gar nicht, denn meiner Ansicht nach besitzt sie keine solche Uhr.«

Scarpetta fragte sie, ob sie sich jetzt die Leiche ansehen wolle. Die beiden Frauen standen vom Tisch auf und gingen ins Nebenzimmer, das klein und kahl war. Einige Fotos der New Yorker Skyline zierten die hellgrünen Wände. Das Sichtfenster war etwa taillenhoch, ungefähr auf der Ebene eines Sarges auf einem Rollwagen. Auf der anderen Seite befand sich eine Stahlwand, die Türen des Aufzugs, der Tonis Leiche aus der Pathologie nach oben gebracht hatte.

»Bevor ich die Tür öffne, werde ich Ihnen erklären, was Sie erwartet«, begann Scarpetta. »Möchten Sie sich aufs Sofa setzen?«

»Nein. Nein, danke, ich stehe lieber. Ich bin bereit.« Ihre Augen waren panisch geweitet, und sie atmete schnell.

»Ich drücke nun auf einen Knopf.« Scarpetta wies auf ein Schaltbrett mit drei Knöpfen an der Wand. Es waren alte Aufzugknöpfe, zwei schwarze und ein roter. »Wenn die Tür aufgeht, liegt die Leiche genau vor Ihnen.«

»Ja, ich verstehe. Ich bin bereit.« Mrs. Darien konnte kaum sprechen. Offenbar stand sie Todesängste aus, zitterte wie in eisiger Kälte und keuchte, als hätte sie sich gerade körperlich angestrengt.

»Die Leiche befindet sich auf einem Rollwagen im Aufzug auf der anderen Seite des Fensters. Ihr Kopf ist links, der restliche Körper ist abgedeckt.«

Als Scarpetta den obersten schwarzen Knopf drückte, teilten sich die Stahltüren mit einem lauten Klappern. Durch das zerkratzte Plexiglas war Toni Darien zu erkennen. Sie war in ein blaues Tuch gehüllt, ihr Gesicht bleich, und ihre Augen waren geschlossen. Sie hatte farblose, trockene Lippen, und ihr Haar glänzte noch feucht vom Waschen. Ihre Mutter presste die Handflächen an die Fensterscheibe, stützte sich ab und fing an zu schreien.